INHALTSVERZEICHNIS

Vorwort und Einleitung

Überwindung der letzten Hindernisse

Erster Abend im Kreise der Yagan

Vier Yaganfrauen als Sprachlehrerinnen

Eine Reittour auf Feuerland

Eine Woche bei den Ona-Indianern

Eine zweite Reittour auf Feuerland. Die Hausindianer

In einer Ratsversammlung mit den führenden Männern des Stammes

Vorbereitung zum Fest der Jugendweihe (Tschiechaus)

Erster Abend im Tschiechaus-Rancho

Zweiter Tag im Tschiechaus-Rancho

a) Der Tag bis zum Abendessen

b) Der Abend des zweiten Tages

Dritter Tag im Tschiechaus-Rancho

Vierter Tag im Tschiechaus-Rancho

a) Bis zum Nachmittag des Tages

b) Der Abend des vierten Tages

Noch einmal in den Tschiechaus-Rancho hinein

a) Der fünfte Tag im Tschiechaus-Rancho

b) Der sechste Tag im Tschiechaus-Rancho

Urweltweisheit. Die der Jugend im Tschiechaus erteilten Belehrungen

Theorie und Praxis

Vorbereitung des Kinafestes

Erster Abend des Kinafestes

a) Die Stunden vor dem Abendessen

b) Von der Zeit des Abendessens an

Zweiter Tag des Kinafestes

Dritter Tag des Kinafestes

Vierter (letzter) Tag des Kinafestes

Im Indianerboot zurück nach Punta Remolino

Wie wir zur Entdeckung der Religion der Yagan kamen. Die Namen des höchsten Wesens

Wie die Yagan sprechen und beten zum Hohen Herrn da oben"

Watauinewas Eigenschaften

Ursprünglichkeit des Watauinewa-Glaubens

Totenbestattung und Unsterblichkeitsglaube

Ein wirkliches Yamalašemoina (allgemeine Totenfeier) März 1923

Medizinmännerwesen bei den Yagan

Mit den Yagan in der Medizinmännerschule

Direkte oder innere Berufung zum Yekamu (Zauberdoktor)

Herkunft von Kina und Doktorenschule

Geschichten und Mythen, welche die Yagan sich erzählen

a) Die Geschichte vom selbstsüchtigen Eetech (Kormoran)

b) Die Geschichte von der [verliebten] Seeassel

c) Eine Riesengeschichte

Kulturbringer der Yagan

Unkraut des Aberglaubens

Yagan beim Spiel

Yagan in ihrer individuellen Charakterisierung

Gesamtcharakteristik der Yagan

Abschied von unseren Freunden

Aussicht auf eine schönere Zukunft

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VORWORT UND EINLEITUNG

Als ich im Sommer 1921 mich anschickte zu einer Amerikareise mit dem besonderen Zweck, im Verein mit meinem lieben alten Freund und Studienkollegen M. Gusinde von Santiago in Chile aus eine Expedition nach Feuerland zu unternehmen, da hörte ich wohl einige Dutzend Male, sowohl hier in Europa als auch drüben in Nordamerika, wo ich mehrere Monate zu verweilen­weilen hatte, die erstaunte Frage an mich richten: "Was, Sie wollen nach Feuerland, da werden Sie ja aufgefressen!" Gewiß ein guter Beweis dafür, wie die Aussage Darwins, die Feuerländer seien Menschenfresser, sich in den Köpfen der zivilisierten Welt festgesetzt hatte. Ein Zeichen aber auch für den Konservativismus, um nicht zu sagen die Schwerfälligkeit, welche dem Menschenwesen eigen ist, wenn es gilt, mit alten, überlebten Vorurteilen aufzuräumen. Denn seit einer Reihe von Jahren war es doch schon bekannt und als zweifellos festgestellt, daß der Vorwurf des Kannibalismus ganz zu Unrecht gegen die Feuerländer erhoben worden sei.

Von den drei Feuerlandstämmen der Alakaluf, der Ona und der Yagan kommt in der vorliegenden Veröffentlichung fast ausschließlich nur der letztgenannte zu Wort. Die Yagan sind beheimatet in den Regionen des Beagle-Kanals und auf den südlich und südwestlich davon gelegenen Inseln. Sie stellen so­mit die südlichsten Bewohner Feuerlands vor. Aber nicht nur das, sondern sie haben auch die Ehre, die am meisten südlich wohnenden Menschenkinder der Welt überhaupt zu sein. Bald nach der Mitte des vorigen Jahrhunderts begann die englische Mission unter den Yagan zu wirken. Bald nach der Mitte des vorigen Jahrhunderts begann die Damit kam die Welt zu zuverlässigeren Berichten und Kenntnissen über ihre südlichsten Bewohner. Besondere Verdienste erwarb sich in dieser Hinsicht der Missionar Th. Bridges. Das Beste, was wir aus jener Zeit zur Sprache und zur Ethnographie der Yagan besitzen, stammt aus der Feder dieses Herrn oder geht doch auf ihn oder wenigstens einzelne seiner Mitarbeiter zurück. Eingehendere Mitteilungen zur physischen Anthropologie und zum sozialwirtschaft Leben dieses Völkchens sind der französischen Kap-Horn­-Expedition (1882/1883, Hyades und Deniker) zu danken.

Sind hiermit die Hauptetappen der früheren Erforschung der Yagan kurz gekennzeichnet, so bleibe indes nicht unerwähnt, daß gelegentlich noch viele andere Forscher ihr Scherflein zu demselben Zwecke beigetragen haben. Eingehend berichtet darüber, wie über die gesamte Geschichte der Yaganforschung bis zum Jahre 1916 die ebenso vortreffliche als nützliche Studie von J. M. Cooper, Analytical and critical Bibliography of the Tribes of Tierra del Fuego and adjacent Territory, Washington 1917.

Daß aber trotz allem die ethnologische Forschung bei den Yagan noch lange nicht alle Aufgaben gelöst hatte, das war den Sachverständigen im Laufe der Jahre stets klarer geworden. So hatte man z. B. Kunde von der Existenz geheimer Initiationsfeierlichkeiten (Jugendweihen) erhalten. Wie manche in neuerer Zeit bekannt gewordenen Beispiele der Alten Welt (Andamanesen, südostaustralische Stämme) es zeigen, findet sich aber vornehmlich in derartigen Veranstaltungen ein Großteil des Geisteslebens der Primitivsten konzentriert. Für die Yagan war mit Recht Ähnliches zu vermuten, und so mußte eine methodische Völkerkunde damit rechnen, daß der gern des Geisteslebens dieses Stammes noch gar nicht erfaßt worden sei.

Hier harrte also eine wichtige ethnologische Aufgabe noch der Lösung. Und diese Aufgabe mußte als eine um so dringlichere erscheinen, weil im Laufe der letzten Jahrzehnte stets alarmierendere Berichte von dem schnellen Hinsterben der Angehörigen des Yaganvölkchens bekannt wurden. Zählte der Stamm nach Schätzung der alten Missionare vor fünfzig Jahren rund zweitausendfünfhundert Köpfe, so bewegt sich die Zahl der rassenreinen Individuen heute zwischen siebzig und achtzig. Es bedeutet also gewiß keine Übertreibung, wenn man sagt, daß die letzte, die zwölfte Stunde für eine gründliche Yagan-Erforschung bereits geschlagen hatte. Und angesichts einer solchen Lage der Dinge hatte Prof. Dr. Fr. Boas, dem ich Oktober 1921 in New York persönlich von unseren Feuerlandplänen Mitteilung machen konnte, sicher vollkommen recht, wenn er meinte: „Sie wollen nach Feuerland, da liegt heute die wichtigste und dringlichste Aufgabe der Amerikanistik!',

Auf die Frage, warum der Feuerlandstamm der Yagan - nicht anders erging es übrigens den beiden anderen Stämmen der Alakaluf und der Ona - in den letzten fünfzig Jahren so rasch zusammenschmolz, soll hier nicht näher eingegangen werden. Es ist immer wieder das alte Lied: Die Berührung mit unserer modernen Zivilisation bringt gerade den Primitivsten der Naturvölker gewöhnlich so schnell Tod und Untergang. Besonders die eingeschleppten Krankheiten, wie Influenza, Pocken und Masern, und zum Teil auch der Alkohol, haben mit dem Yaganvölkchen fürchterlich aufgeräumt.

Auf die Dringlichkeit der ethnologischen Feuerlandprobleme war seit vielen Jahren besonders auch Prof. Dr. Wilh. Schmidt, der bekannte Begründer und Herausgeber der internationalen Zeitschrift für Völker- und Sprachenkunde „Anthropos" (S t. Gabriel-Mödling bei Wien) aufmerksam geworden. Die Gedanken und Pläne, die er hegte, sind schließlich nicht ohne Frucht und Folge geblieben, denn die Feuerlandreisen von Gusinde und mir gehen letzten Endes alle auf von ihm gegebene Anregungen zurück; denn erste Kenntnisse und Liebe zur Wissenschaft der Völkerkunde haben wir beide ihm, als unserem altverehrten Lehrer in dieser Disziplin, zu danken.

In Dankbarkeit ist hier auch der Wiener Akademie der Wissenschaften zu gedenken, die ihm im Interesse dieser Bestrebungen vor dem Kriege schon einmal fünftausend Kronen bereitstellte. Sie sollten gegebenenfalls einem Redaktionsmitglied als Fonds zur Ausrüstung einer Feuerlandreise dienen. Der Weltkrieg machte begreiflicherweise die bezüglichen Pläne zeitweilig vergessen.

Nach dem Kriege überraschten uns die Leiter des ethnologischen Museums zu Santiago (Chile), A. Oyarzún und M. Gusinde, mit der erfreulichen Nachricht, daß sie von dort aus die Lösung der ethno­logischen Feuerlandprobleme ernstlich ins Auge gefaßt hätten. 1919 und 1920 besuchte M. Gusinde beide Male sowohl die Yagan als auch die Ona und kehrte jedesmal, obwohl die Zeit für die Forschungsarbeit eine relativ kurze war, mit vorzüglichen Ergebnissen zurück. Die Berichte, welche in den „Publicaciones del  Museo de Etnolologia y Antropologia de Chile“, 1919 und 1920, veröffentlicht sind, geben im einzelnen Rechenschaft darüber. Bei den Yagan speziell hatte M. Gusinde besonders folgendes erreichen können. Neben beträchtlichen Sammlungen an ergologischen Objekten konnte er von vielen Individuen die anthropologischen Maße nehmen. Er sammelte ferner an die dreißig längere und kürzere Erzählungen und Mythen. Das Haupt­ergebnis aber seines zweiten Besuches (1920) bestand dann darin, daß er da schon die erste Stufe der Initiationsfeier aktiv miterleben konnte. Sechs Tage und sechs Nächte weilte er mit einem größeren Teil der Bevölkerung im großen Rancho (Hütte), wie sie für diese Festlichkeit hergerichtet zu werden pflegt. Den Leuten wollte es erst gar nicht in den Kopf hinein, daß er als Weißer an dieser Veranstaltung teilnehme. Aber er hatte ihr Vertrauen schon dermaßen gewonnen, daß sie die Bedenken schließlich fallen ließen. Er war aber gezwungen, sich in allem genau so zu benehmen wie die Angehörigen des Stammes, und so erlaubten sie z. B. noch nicht, daß er während dieser Tage irgendwelche schriftliche Aufzeichnungen machte. Dabei hatte er mit den übrigen Kandidaten vor allem die ersten drei Tage strenge zu fasten. Nur drei bis fünf Miesmuscheln bekam ein jeder täglich zu essen und ein wenig Wasser zu trinken. Das waren harte, opferreiche Tage, aber die Opfer sollten sich reichlich lohnen. Von nun galt er als Mitglied des Stammes. Das volle Vertrauen, das er so erlangte, bildete die Voraussetzung für die erschöpfende Erforschung, die wir zusammen zu Beginn 1922 bei den Yagan vornehmen konnten und über welche die vorliegende Publikation, soweit die Materie auch weitere Kreise interessiert, näheres berichten will.

Was zu vermuten war, das hat sich voll bestätigt. Mit der Einführung in die geheimen Feste, ja mit der aktiven Teilnahme an denselben (Jugendweihe, Kina [Männerfeier, Medizinmännerschule) entschleierte sich das eigentliche tiefere Geistesleben der Yagan. Das liegt gewiß aus doppeltem Grunde so in der Natur der Sache begründet. Einerseits ruhen in diesen Festen und Einrichtungen tatsächlich ihre vorzüglichsten geistigen Güter, und die Leute selbst werden sich derselben zumeist nur dann wieder ganz und voll bewußt, wenn sie die Spiele hic et nunc durchleben. Andererseits führt kein Weg zur sicheren und zuverlässigen Er­fassung dieser Schätze, wenn man nicht aktiv an den Stammesfesten teilnimmt, wenn man nicht Stammesmitglied, also Indianer wird.
Bisher ganz unbekannt gebliebenes Land betraten wir mit den Enthüllungen zur Religion der Yagan. Hatten doch seit Darwin gerade diese immer wieder als ein Musterbeispiel von urzeitlicher Religions- und Gottlosigkeit aufzumarschieren. Und nun entpuppen sie sich als Inhaber eines alten, so klar und be­stimmt umschriebenen und lebendigen Eingottglaubens, daß die Entdeckung davon wohl, ohne daß man uns der Unbescheiden­heit zeihen wird, als die interessanteste und bedeutungsvollste Sensation im Bereiche der neuzeitlichen vergleichenden Religions­forschung zu gelten hat.

Und allen diesen Ergebnissen und Entdeckungen kommt ohne Frage besonders deshalb eine so große Tragweite zu, weil die Yagan, das haben auch unsere Forschungen von neuem be­stätigt, im Kerne zu den sogenannten Urvölkern gehören, d. h. zu jenen niederen Jägern, die in der Alten Welt und auch in Australien und Nordamerika als vortotemistisch und vormutter­rechtlich erkannt worden sind. Sie sind also in erster Linie mit­berufen, die Antwort zu erteilen, wenn man auf ethnologischem Wege die Anfänge des eigenen Geschlechtes zu erhellen gedenkt. Angesichts der Ermöglichung und glücklichen Durchführung einer solchen Expedition in so kritischer Zeit als der gegen­wärtigen haben wir nach vielen Seiten hin Dank zu sagen. Dank in erster Linie dem greisen Herrn Erzbischof Crescente Errázuriz von Santiago in Chile, der in ebenso verständnisvoller als zuvorkommender Weise für die finanzielle Seite unserer gemein­ Samen Reise besorgt gewesen ist. In derselben Weise Dank auch sämtlichen Mitgliedern der im Kanal Beagle ansässigen Familie des ehemaligen englischen Missionars J. Laurence. Ohne ihr stets liebenswürdiges Entgegenkommen und Mitwirken wäre an Erfolge, wie sie uns tatsächlich beschieden waren, einfach nicht zu denken gewesen. Dank ferner dem Herrn Direktor Dr. A. Oyar­zun, dem unentwegten Förderer speziell aller Bestrebungen, welche die Lösung der völkerkundlichen Aufgaben Feuerlands bezwecken. Dank allen Vertretern, sei es der chilenischen, sei es der argentinischen Behörde, welche stets mit größter Bereit­willigkeit ihr möglichstes taten, um uns die Wege zu unseren Zielen zu ebnen. Dank endlich auch Seiner Exzellenz dem holländischen Gesandten zu Santiago in Chile, der uns in liebens­würdigstem Entgegenkommen eine kostenlose Beförderung der gesammelten Ethnologika nach Europa verschaffte. Während das vorliegende Buch geschrieben wurde, weilte M. Gusinde bereits wieder auf Feuerland, und zwar zunächst noch einmal für etwa sechs Wochen bei den Yagan. Eine Lücke war uns dort doch vorigesmal wegen Zeitmangel noch geblieben: Es fehlte die Teilnahme an einem Medizinmännerkurs (Doktorenschule), wie die Yagan sie kannten.

Nun hat Gusinde auch diese Einrichtung persönlich kennenlernen und dabei noch wertvollste Schätze zum Geistesleben der Yagan heben können. Sie sind dieser Publikation noch zugute gekommen, wie der Leser am gegebenen Ort finden wird.

Abgesehen von Taf. Ia und b, IIa, IIIa, ist das gesamte photographische Material dieses Buches M. Gusinde zu danken. Die Zeichnungen wurden von Herrn W. Watzke (Wien) nach den im ethnologischen Museum zu St. Gabriel befindlichen Gegenständen hergestellt; die Karte zeichnete Fräulein Hilda Schmidt (Stuttgart).

St. Gabriel-Mödling bei Wien, Februar 1924.

Dr. W. Koppers

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ÜBERWINDUNG DER LETZTEN HINDERNISSE

Der mathematische Lehrsatz: Die gerade Linie bildet die kürzeste Verbindung zwischen zwei Punkten, mag theoretisch gut und richtig sein, aber in der Praxis ist es nicht immer möglich, diese gerade Linie zu gehen. So kann man sich zwischen Punta (Punkt) Arenas (Taf. Ia) und Punta Remolino (Taf. IIIb) die gerade Linie wohl auch ganz schön denken, aber der Sterb­liche, welcher von dem einen Punkt zum anderen muß, hat um die berüchtigte Brecknock-Spitze herum und durch den Beagle-­Kanal einen respektablen Umweg zu machen. Diese etwa drei­hundert Seemeilen betragende Route trennte uns noch von dem heiß ersehnten Ziel, den südlichst wohnenden Menschen­kindern, nachdem wir am 31. Dezember 1921 glücklich in der südlichst gelegenen Stadt der Welt, in Punta Arenas, gelandet waren.

Bis hierher reichen die Fäden der Zivilisation und damit auch die bequemen und regelmäßigen Verbindungen des Welt­verkehrs. Aber weiter südlich ist man vollständig auf den Zu fall angewiesen. Wer dorthin strebt, hat erstens zu warten, bis irgendeine Fahrgelegenheit sich bietet. Eine solche ergibt sich im allgemeinen nur dann, wenn ein Kutter im Dienste der wenigen Farmen, die auch in jenen Erdstrichen heute schon errichtet sind, den Weg zu machen hat. Und zweitens hat der Reiselustige von vornherein ganz zufrieden zu sein mit dem Eckchen, das ihm schließlich aus Gnade und Barmherzigkeit auf einem der­artigen, von oben bis unten meistens vollbepackten, Fahrzeuge noch eingeräumt wird.

Da uns sehr daran lag, so schnell wie möglich zu den Yagan zu kommen, so stand unser Entschluß von vornherein fest, die erste Gelegenheit zu ergreifen. Die Hafenbehörde, bei der wir bald nach unserer Ausschiffung vorsprachen, teilte uns freundlich mit, daß die nächste Möglichkeit zwei Tage später schon geboten sei: Am 2. Januar würde die sechsundsechzig Tonnen große "Ida" früh morgens die Anker lichten, um ge­gebenenfalls in achtundvierzigstündiger Fahrt nach Ushuaia (Taf. IIIa), unweit unserem letzten Ziel, zu gelangen. Wir be­mühten uns sofort um zwei Plätze und erhielten sie auch.

Der erhaltenen Weisung gemäß fanden wir uns am 2. Januar (es war an einem Montag) pünktlich um acht Uhr in der Frühe im Hafen ein und hatten unsere "Ida" bald entdeckt. Der Ein druck, den sie machte, war kein besonders günstiger. Das war ja die reinste Nußschale im Vergleich zu den gewaltigen Ozeandampfern, die mich bisher über die Meere getragen. Und nun dort, wo die See bekanntermaßen am wildesten und tückischsten, das kleinste und zerbrechlichste Fahrzeug!

Das Dekreszendo, in dem sich die Größe der bisher von mir benutzten Fahrzeuge immer schon bewegt hatte, erlebte mit dem Besteigen der "Ida" einen ungewöhnlichen Sturz in die Tiefe. Ich lasse die prächtige Evolutionsreihe vor meinem geistigen Auge Revue passieren. Die "Rotterdam", welche ich am 17. August 1921 im Hafen der gleichnamigen Stadt Hollands bestiegen hatte und die mich dann in New York wieder ans Land setzte, gilt mit ihren 24 500 Tonnen mit Recht als ein sehr großer Dampfer. Der japanische "Anyo Marul", dem ich mich am 5. November in San Francisco anvertraute, damit er mich in fünf­undvierzigtägiger Fahrt nach Valparaiso brächte, vermittelt mit seinen 18 500 Tonnen ebenfalls einen sehr behäbigen Eindruck. Der chilenische Dampfer "Magellanen", der uns am 25. Dezember in Puerto Montt freundliche Unterkunft gewährte und dann nach Punta Arenas beförderte, auch er kann sich mit seinen 6500 Tonnen immer noch sehen lassen. Aber nun die nur 66 Tonnen fassende "Ida"! Komisch nur, daß es trotz so eklatanter Gegenbeweise immer noch Leute gibt, die meinen, es gäbe keine rück- und abwärtsführenden Entwicklungsreihen! Diese Abwärtsentwicklung fand übrigens noch ihre Fortsetzung im 22 Tonnen zählenden "Garibaldi", von dem wir in Ushuaia aufgenommen und dann bis Punta Remolino geführt wurden. Sie kulminierte schließlich aber im Indianerboot, dessen Höchstleistung eine halbe Tonne für gewöhnlich kaum erreicht, jedenfalls nicht übersteigt.

Nun zurück zu unserer "Ida". Um nicht ungerecht zu sein, sie bietet auch ihre Vorteile. So stellt sie es jedem Mitreisenden anheim, sich selber den besten Platz auszusuchen. Dabei ist nur darauf zu achten, der Plätze zu schonen, die von anderen bereits okkupiert sind. Im ganzen sind etwa anderthalb Dutzend Passagiere an Bord: zwei kinderreiche Familien und etliche weitere jugendliche Arbeiter. Sie alle sollen auf den einzelnen der Feuerlandfarmen eine Beschäftigung für die noch übrigen Sommermonate (Januar bis April) finden. Ein jeder verstaut seine Sachen und schließlich auch sich selber dort, wo die zahl­reichen Kisten und Säcke, mit denen das Boot befrachtet ist, ein passend scheinendes Eckchen frei gelassen haben. Dasselbe tun die Hunde, deren wir ebenfalls ein halbes Dutzend als Mitpassagiere besitzen.

Mit der Abfahrt hatte unsere "Ida" es nicht übermäßig eilig. Es waren noch allerlei Vorbereitungen zu treffen, deren Er­ledigung schließlich bis ungefähr Mittag sich hinzog. Während dessen fanden wir schon hinreichend Gelegenheit festzustellen, daß der Besatzungsmannschaft, bestehend aus Kapitän, Heizer, Steuermann und zwei Matrosen, die Neujahrsfeier vom vorher­gehenden Tag noch ziemlich stark in den Knochen steckte. An das bekannte Wort „Der Geist ist zwar willig, aber das Fleisch ist schwach" mußte ich wiederholt denken, wenn ich sie so hantieren sah. Sie wollten schon, ein natürlicher Ehrgeiz drängte sie dazu, aber die Benommenheit des Geistes ließ ein rasches und sicheres Vorwärtsarbeiten nicht aufkommen. Schöne Aussichten das, mit einer so betreuten „Idas° die Fahrt in die bösartigen Feuerlandkanäle unternehmen zu müssen, die schon so manchen nicht nur kleineren, sondern auch größeren Fahr­zeugen Tod und Verderben bereiteten. Mein Kollege, an derlei Situationen schon gewöhnt, tröstete mich mit der lakonischen, aber vielsagenden Bemerkung: „Denken Sie daran, wir sind hier auf Feuerland [am Ende der Welt] !"

Jedoch gestaltete sich der Anfang der Fahrt besser, als wir erwartet hatten. Von zwölf bis ungefähr drei Uhr nach­mittags schwellte ein günstiger, mäßig starker Wind die Segel und brachte uns verhältnismäßig schnell voran. Dann aber wandte sich das Blatt, und zwar gründlich. Starke konträre Winde nötigten, die Segel überhaupt einzuziehen. Die beiden Petroleummotore, die nun allein die Arbeit leisten sollten, schienen auch noch etwas von den Nachwirkungen der Neujahrsfeier im Kopfe zu haben. Zu wiederholten Malen stellten sie ihre Tätigkeit einfach ein, und zwar das auf offener, schwer bewegter See. Ich sehe, wie Kapitän und Heizer mit brennenden Kerzen in dem von Öl und Fett triefenden Maschinenvorraum herumleuchten, um gebührend nach dem verborgenen Hindernis zu forschen. Natürlich fällt dabei die Kerze um, und im Augenblick schlagen die Flammen lichterloh empor. Das passierte zweimal. Zum Glück stand Wasser in der Nähe, und so gelang es in jedem Falle rasch, größerem Unheil vorzubeugen.

Bisher hatten wir, mein Kollege und ich, uns persönlich leidlich behaupten können. Das ewige Anhalten auf offener, stürmischer See aber brachte die „Ida" so zum Tanzen, daß wir uns bald zur bedingungslosen Kapitulation gezwungen sahen. Es befiel uns beide ein derartiges Übelsein - alias Seekrankheit -, daß keiner um das Schicksal des anderen sich weiter zu kümmern vermochte, und ein jeder sich verkroch, so gut es eben ging.

Dem Kapitän, der mein Elend bemerkte, habe ich auch an dieser Stelle dafür zu danken, dass er mir sein "Bett" in freundlichster Weise zur Benutzung bereitstellte. Mit dem Aufgebot meiner letzten Kräfte stieg bzw. wälzte ich mich in dieses Bett hinein. Das Bett des Kapitäns auf der „Ida" stellt nämlich nichts anderes dar, als eine niedrige, enge Nische vorne links im Maschinenraum. Von drei Uhr nachmittags an bis zehn Uhr abends hatte ich in diesem Paradebett die schlimmste Seekrankheit meines Lebens zu überstehen. Ich hatte das Gefühl, als seien auf einmal alle meine Eingeweide, Herz und Lunge miteinbegriffen, im Zustande des Verfaulens begriffen. Dabei ständig ein aufgeregtes Phantasieren und ein ängstliches Um­klammern des Strohsackes, um nicht hinunter auf die dicht daneben stehende, schrecklich lärmende und rappelnde Maschine geschleudert zu werden. Gegen zehn Uhr abends war anscheinend eine gewisse Beruhigung des Meeres eingetreten. Mein Körper spürte das, und auf einmal erfaßte mich eine unwiderstehliche Platzangst. Es ergriff mich ein Gefühl, das dem eines in engem Sarge plötzlich erwachenden Scheintoten ähnlich sein mag. Mein „Bett" glich in der Tat ja auch mehr einer Totenkiste als irgend etwas anderem. Die Decke war so niedrig, daß es nicht möglich war, die Arme bis zur vollen Ellenbogenhöhe auszustrecken. Dazu hatte der Kapitän, wie ich jetzt erst bemerkte, in mißverstandener Für­sorglichkeit eine Art Vorhang vor meinen Bett­kasten gezogen, so daß ich also licht- und luft­dicht abgeschlossen war. In meiner Beklemmungsnot rollte ich mich eiligst hinaus, stürzte auf Deck, um die frische Luft in vollen Zügen zu genießen. Aber, ob wollend oder nicht, bald zwang es mich in meinen „Affenkasten" von neuem hinein.

Am nächsten Morgen erwachten wir im Beagle-Kanal. Die berüchtigte Brecknock-Ecke war also schon passiert. Ein besseres Wetter kündigte sich an, und bald schon ließ die Sonne ihr freundliches Antlitz sehen. In der Tat begleitete uns auf der weiteren Fahrt durch den Beagle­-Kanal eine durchaus günstige Witterung. Das entschädigte uns in weitgehendem Maße für die Leiden des ersten Tages. Denn der Beagle-Kanal bietet zu seinen beiden Seiten an wildromantischen Szenerien dem Besucher sehr viel (Taf. Ib). Unvergeßlich haften mir besonders im Gedächtnis die grünlich schimmernden Eis- und Schneemassen der zahlreichen Gletscher, welche hier vielfach auch zur Sommerszeit bis in das Meer hineinragen. Nichts könnte eindrucksvoller daran erinnern, in welch unwirtlichen Regionen wir segeln.

Mittwoch, den 4. Januar, gegen acht Uhr früh, laufen wir in den wohlgeschützten Hafen von Ushuaia ein. Wir sehen das südlichst gelegene Dorf der Welt vor uns liegen. Hier zum erstenmal in meinem Leben hatte ich das Vergnügen, argentinischen Boden zu betreten. In einer ebenso freundlichen als raschen Weise erledigen die Behörden die nötigen Passformalitäten. Wir eilen gleich darauf wieder zum Hafen. Denn der "Garibaldi" wartet schon, um uns in etwa dreistündiger Fahrt dem Ziele wirklich zuzuführen, nach Punta Remolino, wo wir die spärlichen Reste des Yaganstammes am ehesten zu treffen noch Gelegenheit finden werden.

Auf dem "Garibaldi" erlebte ich die Freude, das erstemal mit einem Vollblutyagan zusammenzutreffen. Es war der treue Clemente, der hier zuerst natürlich meinen Kollegen als lieben alten Bekannten begrüßte, dann auch mich nach Indianerart herzlichst willkommen hieß. Mein Kollege hatte die Nachricht von unserem Kommen schon übermitteln lassen und auch mit­geteilt, daß er dieses Mal nicht allein, sondern in Begleitung seines Freundes erscheine. Und alles das war, wie Clemente er­zählte, in den letzten Wochen schon viel besprochen und erörtert worden, und ich sollte dessen nur versichert sein, als Freund des Martin (Gusinde), ihres Stammesgenossen, würde ich gleich gute Aufnahme finden. Die aufrichtige Freude, die das Angesicht dieses alten Indianers überstrahlte, und die Zuvorkommenheit, mit der er uns gleich einen Spießbraten herzurichten versuchte, zeigten mir, wie mein Kollege bei Gelegenheit seiner früheren Reisen schon die Herzen dieser schlichten Naturkinder sich erobert haben mußte. Dafür sollte ich dann eine Fülle weiterer Beispiele bald noch kennenlernen.

Gut ein Uhr nachmittags bogen wir in den kleinen Hafen von Punta Remolino ein. Wir waren am Ziele. Die schönste Sommersonne, die Feuerland kennt, leuchtete uns, dabei die See ruhig und glatt wie ein Spiegel, während freilich im Gegensatz dazu das eigene Herz in Erwartung all der Dinge, die da kommen sollten, um so bewegter schlug.

Señora Laurence (Taf. IV a), die Herrin der Farm, selber auch Vollblutindianerin, steht mit einer ihrer erwachsenen Töchter am Ufer und bietet uns in herzlicher Weise Willkomm und Gastfreundschaft in ihrem Hause an. Dasselbe tut der gute alte Herr Pastor J. Laurence, der trotz seiner achtundsiebzig Jahre in jugendlicher Rüstigkeit uns entgegenkommt. Sie alle haben meinen Kollegen bei Gelegenheit seiner früheren Reisen schon näher kennen und schätzen gelernt. Er ist hier weder bei den Indianern noch bei den Weißen fremd, sondern überall wie zu Hause. Und mit ihm bin ich's auch, fühle mich tatsächlich angesichts dieser von allen Seiten so aufrichtig bezeigten Liebenswürdigkeit von Anfang an auf Feuerland wie daheim.

Textfeld: ' Infolge der Berührung mit der Zivilisation tragen heute fast alle Yagan neben ihrem einheimischen noch einen europäischen Namen. In dieser Schrift wird meistens der letztere gebraucht.

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ERSTER ABEND IM KREISE DEB YAGAN

Den Nachmittag und Abend des Tages unserer Ankunft verbrachten wir vornehmlich im Verkehr mit unseren liebens­würdigen Gastgebern, den Mitgliedern der Familie Laurence. Ebenso dankbar als interessiert lauschten wir besonders dem guten alten Herrn Pastor J. Laurence, der bei seinem bereits dreiundfünfzig Jahre währenden Aufenthalt an Ort und Stelle wie kein anderer berufen und befähigt erscheint, von den letzten Schicksalen des sterbenden Yaganvolkes Bericht zu erstatten. Wie traurig und herzzerreißend der stets wiederkehrende Refrain Die Berührung mit unserer Zivilisation ist es eigentlich gewesen, die auch diesen Feuerland-Indianern so schnell Tod und Verderben brachte!

Der zweite Tag (d. Januar 1922) gehörte aber schon fast ganz unseren Yagan. Da gab es beim Wiedersehen meines Kollegen, der vor zwei Jahren ja schon einer der ihrigen geworden war, manche wahrhaft rührende Szene. Mehrmals sah ich Tränen der Freude fließen. Und welches Vergnügen löste es jedesmal aus, wenn die einzelnen jetzt endlich die ihnen ver­sprochenen Photographien erhalten konnten. Heute noch sehe ich das verschmitzt-selige Schmunzeln auf dem Antlitz der betagten Indianerin, die eben auf einem Gruppenbilde ihren Alten in etwas komischer Stellung und Bemalung wiedererkannte. Daß Anhänglichkeit, Treue und Dankbarkeit, die in solchem Be­nehmen ihren Ausdruck fanden, meine Sympathien für die viel verkannten und gelästerten Urbewohner Feuerlands in hohem Maße steigern mußten, brauche ich nur anzudeuten.

Am späten Abend (neun bis elf Uhr) gab es uns zu Ehren noch ein Fest. Allerdings ein Fest ganz eigenen urweltlichen Charakters. Der Abend wird mir zeitlebens unvergeßlich bleiben, denn er gestattete mir zum ersten Male im engsten Zusammen­sein mit wahrhaft primitiven Menschenkindern deren tiefste seelische Regungen und Empfindungen nicht nur beobachten, sondern förmlich miterleben zu können. Bisher hatte ich der­gleichen nur aus Büchern kennengelernt, hier dagegen stand ich ganz im Banne der Wirklichkeit. Lang gehegte Herzenswünsche begannen damit ihre Erfüllung zu finden.

Die Veranstaltung fand statt in der einräumigen Hütte der alten Emilia. Diese Hütte stellte eine viereckige, etwa sechs Meter lange und vier Meter breite Bretterbaracke dar. Manuel, der Ge mahl der Emilia (Taf. IXb), und die meisten übrigen Männer waren noch abwesend. Im Dienste der Farm hatten sie mehrere Stunden weit einen Weg durch Wald und Sumpf zu schlagen und kamen nur über Sonntag nach Hause. So erklärt sich, daß die kleine Festversammlung - abgesehen natürlich von uns - ausschließlich aus weiblichen Teilnehmern bestand. Sechs würdige M­tronen, mit einer Ausnahme alle schon beträchtlich weit über ihr Mittelalter hinaus, machten die kleine Korona aus.

Zur angesetzten Stunde wurden wir von der Señora (Hausherrin) Laurence in das Haus der Emilia eingeführt. Die Alte, in klassischer Weise den echten alten Yagantyp repräsentierend, sitzt schweigend hinter dem offenen Feuer und würdigt uns kaum eines Blickes. Ihre Züge verharren in unveränderter Gleich­gültigkeit, und mir scheint fast, als sei sie nicht einmal sonderlich Art des Verhaltens uns gegenüber zunächst keine Er­klärung. Mein Kollege beruhigte mich: Es bedeute das weder eine Unfreundlichkeit gegen uns, noch sei es erlaubt, daraus auf innere Empfindungs- und Teilnahmslosigkeit zu schließen. In der Tat, er hatte recht. Wie ich später auch selber immer wieder be­obachten konnte, verstehen diese Indianer es meisterhaft, besonders Fremden gegenüber selbst die heftigsten Gefühlsbewegungen gewaltsam niederzuhalten und dabei nach außen die gleichgültigste Miene von der Welt zur Schau zu tragen.

Stilgerecht erfolgte denn auch keinerlei freundliche Ein­ladung, es sich irgendwo bequem zu machen. Wir müssen uns also selber helfen. Und da wir wissen, daß es jedenfalls eine etwas längliche Sitzung werden dürfte, so wälzen wir schnell einige dickere Holzklötze herbei, die uns als Stühle dienen. Die Indianergesellschaft sitzt am bequemsten und am liebsten mit unter­geschlagenen Beinen auf dem flachen Boden. Eine derartige Sitzmanier bereitete mir am Anfang besonders noch allerhand Schwierigkeiten, und so suchte ich sie nach Möglichkeit zu vermeiden.

Bald nach uns erscheinen, eine nach der anderen, auch die übrigen Gäste. Schweigend und leise ohne irgendein Aufheben von ihrer Persönlichkeit zu machen, schleichen sie herein und suchen sich ein Plätzchen. Ich staune darüber, einen wie engen Raum so eine Indianerin benötigt, um sich darauf niederzukauern. Später freilich, bei Gelegenheit der geheimen Jugendweihe, sollte ich lernen, wie die jungen Leute auch darin direkt unterwiesen und gedrillt werden, damit gegebenenfalls ihrer möglichst viele auf beschränktem Raum am wärmenden Feuer Platz finden können.

Das offene Feuer, das auch in der Mitte unserer Hütte brennt, bedeutet nicht nur die Wärme-, sondern auch die einzige Lichtquelle für uns alle. Von Zeit zu Zeit reicht man ihm neue Nahrung, weiß es auch durch Anlegen und Nachschieben der Hölzer geschickt zu neuer Glut zu bringen, wonach dann die hoch auflodernden Flammen um so geheimnisvoller durch die Hütte geistern.

So sitzen wir alle zunächst noch weiter schweigend in einem mäßig weiten Kreis um das Feuer herum. Scheinbar hängen die einzelnen einem müßigen und gedankenlosen Träumen nach. In Wirklichkeit herrschte aber durchaus Plan und System in dem Verfahren. Zu einer guten Feststimmung gehört nach den Be­griffen der Feuerländer eine gute Vorbereitung. Zu diesem Zweck sammelt man sich, konzentriert seine Gedanken, und hierbei kennen unsere Yagan keinerlei Überstürzung. Das "Time is money" ist ihnen ein vollständig unbekannter Begriff, quält sie mithin auch noch gar nicht. Ich sehe bald, wie notwendig es ist, hier die dem Kulturmenschen eigene Ungeduld und Unrast beiseitezustellen. Und ich gestehe gern, daß mich solches an diesem ersten Abend besonders noch etliche Anstrengung kostete.

Nachdem wir in feierlichem Schweigen eine gute halbe Stunde verharrt, fängt die alte Emilia ganz leise an zu singen und dazwischen immer wieder in kurzen abgebrochenen Sätzen zu murmeln. Das letzte ihrer Worte ist immer, wie deutlich festzustellen ist, toker; Also der Toker, worüber wir zuvor von Señora Laurence schon einige Belehrungen erhalten hatten, soll wirklich gesungen werden.

Gemäß den erhaltenen weiteren Erklärungen wird der Toker sowohl bei Gelegenheit der Jugendweihe, als auch sonst bei An­lässen privater Natur gesungen. Eine eigenartige Verquickung von freudigen und traurigen Motiven findet sich in ihm vereinigt. Das freudige Moment kommt darin zum Ausdruck, daß wir alle, bzw. unsere Köšpiks (unsere Seelen) zu einem großen Festmahl geladen werden, das der Toker (ein kleiner Vogel) mit einem großen Walfisch uns allen bereiten will. Das zur Trauer stimmende Moment liegt dabei darin, daß so viele der lieben Angehörigen an diesem Fest nicht mehr teilnehmen können, weil der Tod sie bereits hinweggerafft hat.

Das an sich monotone Singen der Emilia wird allmählich lauter und bestimmter. Nach und nach singen auch die übrigen Frauen mit. Von Zeit zu Zeit wird der Gesang abgebrochen, und ein lautes Hähähehe ... schallt in die Nacht hinein.

Nach einer kurzen Pause wird dann von vorne wieder angefangen. Deutlich ist dabei jedesmal eine neue Steigerung des Affektes leicht festzustellen. Nicht nur das Singen wird kräftiger lind lauter, sondern immer mehr auch wird es von Gesten und rhythmischen Bewegungen des ganzen Körpers begleitet. Das Denken an die lieben Toten löst dabei stets wieder ein neues und stärkeres Weinen und Schluchzen aus.

Den Höhepunkt erreichte die Feier mit dem gemeinsamen symbolischen Kosten von dem großen „Walfisch", zu dem wirja alle geladen waren. Unter ständiger Anlehnung an den Rhythmus des Gesanges und die entsprechenden Körperbewegungen zerkleinerte eine der Frauen hastig ein Stück Fleisch und gab einer jeden - und natürlich auch uns - einen Bissen davon zu essen. Der übrig gebliebene Teil indes wanderte mit einem energischen Gestus in das Feuer hinein.

Damit waren Fest und Gesang vom Toker eigentlich zu Ende. Nur die Zurückberufung unserer vom Toker nach auswärts geladenen und fortgegangenen Köpiks (Seelen) erheischte noch eine kurze abschließende Manipulation. Auch sie bestand einerseits in einem ganz einfachen monotonen Gesang, aber anderer­seits spielten dabei bestimmte mit Händen und Armen ausgeführte Gesten eine wichtige Rolle. Die Arme wurden nach vorne weit ausgebreitet und dann, indem mit den Händen eine greifende und zufassende Bewegung gemacht wurde, schnell zurückgezogen. Hiermit sollten unsere Köpiks in unsere Körper zurückgebracht werden. Eine Vernachlässigung dieser Maßnahme würde nach Anschauung der Yagan der Lebenskraft Eintrag tun und womög­lich baldigen Tod verursachen können.

Es ist elf Uhr geworden. Wir danken den Yaganfrauen für das geschenkte Vertrauen und wünschen allen "Gute Nacht!". Mir war eigentümlich zumute. Welch eine fremde und seltsame und doch auch welch eine bekannte und vertraute Welt! Wie sonderbar einerseits zwar die Anschauungen dieser Kinder der Urzeit, aber wie echt und allgemein menschlich erscheinen wieder so manche Äußerungen ihres Gemüts- und Seelenlebens! Die gegebenen kurzen Erklärungen hatten uns gewiß die leitenden Ideen des Toker vermittelt, aber wie viele Einzelprobleme und Einzelfragen waren nur angedeutet, denen in der Zukunft näher nachzugehen unsere ernstliche Sorge bleiben mußte.

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VIER YAGANFRAUEN ALS SPRACHLEHRERINNEN

In bezug auf die Sprache der Yagan besaßen wir schon eine verhältnismäßig gute Kenntnis. Diese Arbeit war wesentlich durch den Missionar Th. Bridges geleistet worden. Der Hauptsache nach klärte er uns nicht nur die Phonetik, sondern auch die Grammatik der vokalreichen und wohlklingenden Sprache. In vieljähriger Arbeit stellte er auch ein Wörterbuch zusammen, das freilich trotz seines bereits mehr denn fünfundvierzigjährigen Alters immer noch auf seine Drucklegung wartet. Das Manuskript hat seine eigene komplizierte Geschichte hinter sich. Daß es bis heute aus seinem Manuskriptdasein nicht herauskonnte, beruht zum Gutteil aber auch auf seinem gewaltigen Umfang : es zählt nämlich nicht weniger als zweiunddreißigtausend Wörter. Wenn ich trotz dieser Vorarbeiten dem Studium der Yagan­sprache noch eine besondere Aufmerksamkeit widmete, so geschah das vor allem aus folgenden zwei Gründen. Erstens lag mir daran, einige noch bestehende phonetische Dunkelheiten nach Möglichkeit klarzustellen. Und zweitens glaubte ich, daß mit dem Lernen und Üben der Sprache - natürlich sollten die Ein­gebornen selber meine Lehrmeister sein - ein besonders vor­zügliches Mittel der gegenseitigen Annäherung gegeben sein müßte. Denn wenn mir die Leute auch mit Rücksicht auf meinen Kollegen von Anfang an ein großes Entgegenkommen bezeigten, so war es doch mit der Natur der Dinge gegeben, daß ich, um auch meinerseits zu einem ersprießlichen Arbeiten zu gelangen, mir das Vertrauen gewissermaßen neu erobern mußte. Der Erfolg bestätigte mir bald, daß mit dem Sprachstudium in der Tat ein gutes Mittel solcher Art gegeben war. Nicht nur gestaltete sich auf diese Weise schnell ein vertrautes Verhältnis heraus, sondern es fiel mir dazu noch eine schöne, bisher in der Wissenschaft unbekannte linguistische Entdeckung in den Schoß: die nähere Feststellung und Erklärung der vier' verschiedenen Dialekte der Yagansprache.

Da die Männer während der ersten Wochen unseres Aufent­haltes für gewöhnlich abwesend waren, so mußten im allgemeinen Frauen meine Sprachlehrerinnen sein. Vier kamen als solche im besonderen in Betracht. An erster Stelle Señora Laurence, die, wie alles andere, so auch diese Sitzungen mit unermüdlicher Umsicht und Ausdauer zu arrangieren wußte. Bei ihrer leidlichen Kenntnis des Spanischen und Englischen war sie auch stets in der Lage, die wünschenswerten Dolmetscherdienste zu leisten. Sie zog zu diesen Zusammenkünften dann ferner die drei be­tagten, aber noch nicht übermäßig alten Frauen Peine (Taf. VIII b),Walter (Taf. IX a) und Emilia heran. Altere Personen wurden deshalb vor allem gewählt, weil diese im einzelnen Falle besser um das wirklich unverfälschte Alte noch wissen als die jüngeren, die, zum Teil wenigstens, in diesem oder jenem schon unsicher geworden sind. Zu diesem Sprachstudium kamen wir gewöhnlich des Nach­mittags zusammen. Señora Laurence sorgte in freundlicher Weise, daß dann die kleine Schulstube, in welcher der Hauslehrer am Vormittag ihre Kinder unterrichtete, uns zur freien Verfügung stand. Das Situationsbild war dann wohl interessant, wenn nicht gar komisch genug. Meine Lehrerinnen hockten, ihrer alten Ge­wohnheit gemäß, auch hier am liebsten neben den Stühlen und Bänken auf dem flachen Boden, während der Schüler meist auf einem Stuhle vor ihnen sich niederließ. Wenn sie so einmal saßen, war es für gewöhnlich nicht allzuschwer, sie mehrere Stunden am Platze und auch bei der Sache zu halten. Die beiden ersten Tage freilich hatte ich ein wenig vergessen, daß meine Sprachlehrerinnen in solcher Tätigkeit nur sehr selten oder vielleicht nie zuvor, fungierten: Durch Señora Laurence ließen sie mir mehrere Male bemerken, daß ich langsamer vorgehen solle, sonst bekämen sie Kopfschmerzen.

Wer freilich nie von Kopfschmerzen oder ähnlichen Beschwerden sprach, das war die gute Señora Laurence selber. Sie hatte immer nur das eine Ziel vor Augen: uns zu einem vollen Erfolge zu verhelfen. In diesem Sinne auch auf ihre Landsleute einzuwirken, erlahmte sie niemals. Eine ältere Frau, die Gemahlin des Pedro (Mašemikens) (Taf. VIIIa), von ihr bei einer anderen ähnlichen Gelegenheit einmal herbeigerufen, ließ sich entschuldigen, sie habe Kopfschmerzen und könne daher nicht kommen. Darüber nicht wenigentrüstet, ließ Señora Laurence ihr unverzüglich ausrichten: „Nicht Kopfschmerzen! Sie soll kommen und helfen. Wenn Martin und Willy nächstens wieder abgereist sind, hat sie hinreichend Zeit, sich wieder auszuruhen!"

Die zweite meiner Lehrerinnen, die gute alte Peine, sah zwar aus wie eine leibhaftige Hexe, besaß aber ein goldenes Herz. Ja, ich bemerkte bald, daß sie viel zu gnädig mit mir war. Wenn ich versuchte, ein Wort nachzusprechen und dann fragte, ob es so recht sei, dann antwortete sie stets: "Yes, Allright!" Es kam ihr auf eine Handvoll offenbar gar nicht an.

Um so kritischer war die dritte Lehrerin, Frau Walter. Das hing wohl mit dem ästhetischen Gefühl zusammen, das diese Indianerin überhaupt auszeichnete, und wie wir es später bei Gelegenheit des Festes der Jugendweihe nach einer neuen Seite bin noch besser kennenlernen konnten: keine verstand dort so graziös das Tanzbein zu schwingen wie Frau Walter. So gut wie nie stellte sie mein erster Versuch, ein von ihr vorgesagtes Wort nachzusprechen, schonzufrieden. Gewöhnlich hielt sie es für nötig, mich mehrere Male zu korrigieren und das Wort wiederholen zu lassen. Die fragenden Blicke, die sie dabei auf mich zu richten pflegte, vergesse ich nie. Mir schien nämlich, als wolle sie sagen: „Ich glaube, bei dir ist doch Hopfen und Malz verloren, du lernst unsere schöne Yagansprache nimmermehr!" Wenn es mir nun trotzdem hin und wieder gelang, sie mit meinen Leistungen ganz zufriedenzustellen, dann kargte sie nicht mit lautem Beifall. Freilich verriet das gedehnte "Aahaa!", mit dem sie mich dann belohnte, einen eigenartigen Beigeschmack. Es klang so, als wollte sie sagen: „Viel ist's nicht, aber immer noch mehr, als ich erwartete!"

Meine vierte Lehrtante war die alte Emilia. Emilia kann sich rühmen, das aus dem weitesten Süden stammende Menschenkind zu sein: ihre Heimat ist die unweit Kap Horn gelegene Insel Wollaston. Nicht allzuviel Intelligenz und ein ruhiges Phlegma kennzeichnen Emilias Wesen. In der ersten Zeit meldete sie sich von selber fast gar nicht zu Wort. Sobald ich aber bemerkte, daß sie über eine besonders schöne und klare Aussprache verfügte, sorgte ich dafür, daß sie aus dem Dunkel des Schweigens mehr und mehr heraustrat.

Und hierbei nun stellte sich auf einmal heraus, daß Emilia in diesem oder jenem Fall ein anderes Wort bereit hatte, als wie ich es von den übrigen Frauen zu hören bekam. Die Entdeckung von verschiedenen Dialekten in der Yagansprache war gemacht. Dem näher nachzugehen; mußte als eine besonders reizvolle Forscheraufgabe erscheinen. Das weitere Befragen, eine Besprechung auch mit Fred. Laurence ergab, daß die Yagansprache von Haus aus über fünf deutlich voneinander verschiedene Dialekte verfügte: diese waren der West-, der Ost-, der Süd-, der Zentral- und Wollastoninseldialekt.

Da die Zahl der Stammesmitglieder heute eine so geringe ist und diese seit Jahren mehr oder weniger durcheinander gewürfelt sind, bereitete es einige Schwierigkeiten, die dialektischen Unterschiede genauer festzulegen. Aber immerhin war es doch noch möglich, sie, wenn auch nicht ihrem tatsächlichen Umfange, so doch ihrem Charakter nach zu erfassen. Nicht nur einzelne Worte, sondern auch Satzkonstruktionen waren fallweise verschieden, so daß es am Anfange schon einige Schwierigkeiten hatte, wenn Leute verschiedener Distrikte einander gegenübergestellt sich verständigen wollten.

Das Kapitel über mein Sprachstudium des Yagan möchte ich hier beschließen mit einem Hinweis auf das fabelhafte Gedächtnis, durch das mich meine Lehrerinnen mehrere Male nicht wenig in Erstaunen setzten. Das Gedächtnis der Yagan ist allgemein vorzüglich entwickelt, und das hängt zum Gutteil gewiß auch damit zusammen, daß sie in Ermangelung jeglicher Schrift dessen mehr benötigen als wir. Passierte es mir im Laufe der Zeit, daß ich ein früher schon behandeltes und niedergeschriebenes Wort wiederholte, so tönte es mir jedesmal todsicher entgegen: „Das hast du ja schon aufgeschrieben!" Da mir dieser Lapsus schließlich mehrere Male unterlief, konnte die gute Señora Laurence doch einmal nicht mehr zurückhalten und bemerkte mir offen und ehrlich: „Ich hätte doch geglaubt, du besäßest ein besseres Gedächtnis!"

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EINE REITTOUR AUF FEUERLAND

Neben dem Sprachstudium pflegten wir im weiteren Verlauf des Monats Januar die gesamte übrige Ethnographie (ursprüngliches wirtschaftliches, familiales und gesellschaftliches Leben, Mythenkunde, Sitten und Bräuche aller Art) des Yaganstammes, im besonderen natürlich der Gebiete, welche Gusinde auf seinen beiden früheren Reisen noch nicht eingehender hatte wahrnehmen können. Als vorzüglichstes Hilfsmittel erwies sich in dieser Hinsicht die in der Einleitung schon erwähnte Feuerlandbibliographie von J. M. Cooper. Dieselbe läßt von Fall zu Fall sofort erkennen, wo die bisherige Yaganforschung ihre Lücken noch aufweist. Soweit heute überhaupt noch möglich, glauben wir diese Lücken gefüllt zu haben, und wir denken die Resultate auch dieser Untersuchungen in der wissenschaftlichen Veröffentlichung unserer Reise der Fachwelt in nicht zu ferner Zeit vorlegen zu können. Soweit die gewonnenen Ergebnisse auch ein weiteres Publikum interessieren können, werden sie hier und dort den weiteren Ausführungen eingeflochten werden und damit entsprechend zur Geltung gelangen.

Nun konnte aber im Monat Januar noch von uns auch die Hauptentdeckung zur bis jetzt völlig unbekannt gebliebenen Religion der Yagan gemacht werden. Die Darlegung dieser Tatsachen stellen wir aber zunächst noch zurück und gehen hier gleich dazu über, von den Arbeiten und Erfolgen zu berichten, die vom 1. Februar ab unser Anteil waren.

Die Zeit schien gekommen, unseren Plan, auch den Ona-­Indianern einen Besuch abzustatten, zur Ausführung zu bringen. Herr Fred Laurence hatte die übergroße Liebenswürdigkeit, uns zu diesem Zwecke nicht nur seine besten Leute, sondern auch seine besten Pferde zur Verfügung zu stellen. Perez, ein argentinischer Halbindianer (Gaucho), führte die kleine Karawane, Felipe, ein Vollblutyagan, half ihm dabei.

Ich gestehe, daß mich beim Antritt dieser Tour ein geheimes Grauen anwandelte. Aus gelegentlichen Schilderungen meines Kollegen hatte ich schon entnehmen können, was eine derartige Reiterei auf Feuerland alles besagen will. Dazu trat der Umstand, daß ich seit einer Reihe von Jahren auf keines Pferdes Rücken mehr gesessen. Und nun auf einmal ein so respektables Unternehmen: gut dreißig Reitstunden in drei bis vier aufeinanderfolgenden Tagen zu erledigen! In der Tat, es war ein Glück, daß ich von vornherein nicht wußte, was dieser Ritt alles über mich bringen würde, ich wäre sonst vielleicht davor zurückgeschreckt.

Bei leidlich gutem Wetter brachen wir am Morgen des 1. Februar von Punta, Remolino auf und gelangten an diesem Tage bis zu dem etwa sieben bis acht Reitstunden entfernten Harbarton. So weit mußte zunächst ostwärts geritten werden, um dann von dort aus in südnördlicher Richtung die Kordillere über­queren zu können. Der erste Tag weihte mich gleich gründlich ein. Mit einer nicht geringen Überraschung fing die Sache an; mein so hochgepriesener Brauner weigerte sich ganz entschieden, mit mir überhaupt nur von der Stelle zu rücken. Nach euro­päischer Manier hatte ich ihn fest in die Zügel genommen. Die Feuerlandpferde sind aber anders dressiert: sie verlangen lockere Zügel. Perez, unser Karawanenführer, gibt mir die entsprechende Belehrung, und so setzt auch mein Gaul sich in Bewegung, ja läuft bald viel schneller, als mir, für den Anfang wenigstens, eigent­lich lieb ist.

Doch die guten Wege sind bald alle. Es beginnen die typischen Feuerlandwege oder, genauer gesagt, die der Feuerlandkordillere, Wege, welche jedes Galoppieren und Traben, wenn nicht gerade immer, so doch meistens unmöglich machen.

Was da auf Feuerland nicht alles Weg, ja sogar „Regierungsweg" (camino del govierno!) genannt wird! Wo das Terrain am günstigsten erscheint, da wird eine sogenannte Picade geschlagen, ein gerade für Roß und Reiter Raum gewährender Durchgang geschaffen. Größere Flüsse erhalten eine Art Brücke, kleinere werden durchwatet. Unergründliche Sümpfe sind mit einer Planchada (Knütteldamm) bedeckt; wie der Gaul durch die übrigen, nicht gerade lebensgefährlichen, sich und seine Last hindurchbringt, das ist seine Sache, nur steckenbleiben darf er nicht. Dasselbe gilt, wenn es, was nicht selten der Fall ist, ganz steil bergauf oder bergab, oder auch an tiefen unheimlich gähnenden Abgründen vorbeigeht.

Und wie oft treten zu all den genannten noch unerwartete Hindernisse hinzu! Die in jenen Regionen so häufigen und heftigen Unwetter verrichten, jeglichen Menschenwitzes spottend, ihre Werke. An der einen Stelle haben die Wasser die Knütteldämme weggerissen: nur mit Mühe und Not ist durchzukommen. Alles muß absitzen. Von dem einen Baumstamm zum anderen springend bringen zuerst die Reiter ihr Leben in Sicherheit. Das Rößlein wird an einer langen Leine nachgezogen. Bis an den Leib und weiter sinkt es in den Morast. Jedoch frei von jeder Last, vermag es doch auf allen vieren schnell sich durchzuarbeiten. Andernorts hat der Sturm schwere und dicke Urwaldriesen nieder und gerade quer über den Weg gelegt. Die Pferdchen prüfen die Situation. Ist das Hindernis nicht allzu hoch, so setzen sie leichtfüßig darüber hinweg. Geht das nicht, dann muß das Hindernis umgangen, hier ein neuer Weg geschaffen werden. Wie leicht festzustellen ist, hat sich dieser Prozeß auf unserem Wege wohl schon Hunderte Male wiederholt. Die natürliche Folge davon ist, daß sein Kurs nicht nur stets zickzackförmiger verläuft, sondern auch immer mehr an Länge gewinnt.

Bei dem Martyrium, das am ersten langen Tage besonders das Reiten für mich bedeutete, hatte ich nur lebhaft zu bedauern, die „Romantik" der Feuerlandwege nicht besser genießen zu können. Abends gegen sieben Uhr rückten wir in Harbarton ein, zermalmt die Glieder und wie gerädert das Gebein. Die überaus liebe Gastfreundschaft indes, die wir im trauten Heim des Herrn Captain Nielson fanden, machte bald ein Gutteil von dem Leid und Weh des Tages vergessen.

Der nächste Tag begann mit Regen. Da es sich später doch aufklärte, so brachen wir gegen zehn Uhr vormittags noch auf und strebten nun nordwärts direkt der Kordillere zu. Die Hoffnung, bis zum Abend des Tages noch hinüber bis zur nächsten Farm am Lago Fagnano, von Harbarton zehn bis elf Reitstunden entfernt, zu gelangen, war bei uns von vornherein nicht allzu groß. So begleitete uns denn ständig der Gedanke, die bevorstehende Nacht irgendwo in der kalten und rauhen Kordillere überstehen zu müssen.

Vorerst hatten wir guten Weg, bis uns nach zweistündigem Ritt ein Baumstamm von gewaltiger Dicke den Durchgang verwehrte. Alles Suchen und Probieren half nichts. Es mußte die Axt hervorgeholt und der ganze Koloß durchschlagen werden. Unsere beiden Getreuen wechselten sich bei der Arbeit ab. Währenddessen bereiteten wir das Mittagmahl, bestehend aus einer am Spieß gebratenen Hammelkeule, mit Brot und Tee dazu.

Der Begriff der Zeit geht, wie allen Indianern, so auch denen, die uns führen, ab. Hindernisbeseitigung und Einnahme des Mittagmahles nahmen reichlich zwei Stunden in Anspruch, obwohl eine gute Stunde dafür gewiß auch hätte ausreichen können. Nun wurde aber endlich Ernst gemacht. Die vor uns liegende ebenso kahle als steinige Kordillere konnte in scharfem, dreistündigen Ritt genommen werden. Gegen fünf Uhr war diese Leistung vollbracht. Eine Entlohnung für die aufgewandte Mühe bot das herrliche Bild, welches der Blick weit in die Feuerland­ebene hinein und im besonderen auf den in der Ferne schim­mernden und grüßenden Lago Fagnano gewährte. Keine geringe Erhöhung unserer Freude bedeutete der Anblick einer weidenden Guanaco-Herde. Am Abhang eines Berges uns zur Rechten zählen wir etwa ein Dutzend Tiere, die, da wir bei der weiten Entfernung unbemerkt geblieben waren, ruhig weiterästen.

Der Abstieg an der Nordseite der Kordillere ist ebenso steil als beschwerlich. Wir bemerkten auch bald, daß auf dieser Seite des Gebirges in jüngster Zeit ungewöhnlich starke Regen mengen niedergegangen waren. Der mehrere Reitstunden sich hinziehende Waldweg glich einem Sumpf- und Schlammbett ohne Ende. Die Pferdchen hatten ständig angestrengteste Arbeit zu leisten.

Wir ritten, solange sich reiten ließ, d. h. bis zum Eintritt der Dunkelheit. Dann wurde haltgemacht und in der Einsamkeit des Feuerlandwaldes biwakiert. Das Feuermachen liegt den Feuerland -Indianern im Blute. Das war denn auch jetzt die erste Sorge. Und siehe, trotz der herrschenden Feuchtigkeit erfreute uns doch bald ein lustig knisterndes, Wärme und Licht spendendes Lagerfeuer.

Unsere Indianer schicken sich an, in gewohnter Weise das Abendessen zu bereiten. Die Hammelkeulen, die wir mitgeführt, zeigen die Spuren des Kampftages: sie sind über und über mit Schlamm und Kot bedeckt. Einfach von außen an die Sättel gebunden, waren sie nicht selten von dem aufspritzenden Unrat erreicht worden, ebenso wie auch Roß und Reiter davon nicht verschont geblieben waren. Als Perez die so in einer Schlammschicht konservierte Keule an den Spieß steckte und ans Feuer brachte, konnte er nicht umhin zu bemerken, daß ich, der Herr aus Wien, einen solchen Braten gewiß noch nicht gegessen hätte. In der Tat, er hatte wohl recht. Aber trotzdem mundete es auch mir. Einerseits hatte sich ein guter Appetit entwickelt, andererseits sah ich, wie schließlich die erdhafte Schicht säuberlich weggeschnitten wurde, und so immer noch ein schätzenswerter Festbraten übrigblieb.

So nahe dem Feuer als möglich bereiten wir unser Nachtquartier. Auch das ist schnell geschehen. Wie die Indianer, so breiten auch wir etliche Buchenzweige auf dem Boden aus, darüber dann die Pferdedecke, den Sattel zum „Kopfkissen", und das Paradebett ist fertig.

Als Überbett dient eine Felddecke und der wasserdichte Überzieher, mit dem wir ausgerüstet sind. Kaum schicken wir uns an einzuschlafen, da beginnt es zu regnen. Leise und bedächtig rieseln die Tropfen durch die Blätter und Zweige des im übrigen so geheimnisvoll stillen Feuerlandwaldes. Ich zog den Wassermantel dichter über meinem Lager zurecht und machte mich auf alles gefaßt. Doch es blieb bei einer bloßen Drohung. Als ich zwischen ein und zwei Uhr einmal aufwachte, schauten die Sternlein klar vom Himmel hernieder. Sie blickten so freundlich durch die Zweige, daß ich fast glaubte, sie hätten uns zuliebe die regenschweren Wolken hinweggezaubert oder anderswohin geschickt.

Am nächsten Morgen sollte spätestens um sieben Uhr aufgebrochen werden. Wir waren aber schließlich froh, als es um acht Uhr schon losgehen konnte. Stets das alte Lied: Die Indianer kennen keine Zeit. Sollen wir sie deshalb tadeln? Nein, dazu haben wir wenig Grund. Denn nicht sie haben uns, sondern wir haben sie aufgesucht. Also haben sie wohl ein gewisses Recht darauf, daß wir uns weitmöglichst ihren Auffassungen vom Leben anbequemen. Was geht das die Indianer an, wenn wir uns eine hast- und unrastschwangere Kultur­gestaltung geschaffen? Es läßt sich auch anders leben, und diese Art des Lebens hat gewiß auch ihre Vorzüge.

Nach einem Ritt von etwa drei Stunden treten wir aus dem Gebiet der Feuerland­ Kordillere endgültig heraus. Hier begegnen wir den ersten Ona-Indianern (Taf. XXI). Es sind nur wenige Individuen. Aber sie genügen, um einen Begriff zu vermitteln von den stattlichen, breitschultrigen Gestalten, welche die Ona allgemein repräsentieren. Aber mehr noch freut mich dann zu sehen, wie mein Kollege sich auch die Onaherzen

bei Gelegenheit seiner früheren Reisen erobert hat. Besonders der alte Kazike Ventura zeigt aufrichtige Freude über das un­erwartete Wiedersehen. Doch wir müssen weiter. Wir sind noch lange nicht am Ziel, noch lange nicht dort, wo wir mehr Ona-Indianer anzutreffen hoffen.

Eine Stunde Reitens noch und wir steigen ab in der kleinen, den Salesianerpatres gehörigen Farm am Lago Fagnano. Wir rasten eine gute Stunde, dann geht's wieder weiter dem Norden zu,

So groß und mannigfaltig die Hindernisse waren auf dem bisher zurückgelegten Wege, so wenige sind ihrer jetzt. Frei und offen breitet die schier endlose Ebene sich vor uns aus. Dem geübten Reitersmann eine Lust und ein Vergnügen, mir ein Grauen. Traben und Galoppieren bereitete mir stets größere Qualen. Ich mußte schließlich, von einem eigenartigen Fieber (Reitfieber!) erfaßt, kapitulieren, es ging nicht mehr. Nur im Schritt konnte ich - in diesem Aufzug wohl in manchem erinnernd an den berühmten „Ritter von der traurigen Gestalt" - mit Müh und Not noch weiter. Mein Kollege blieb bei mir. So trotteten wir langsam nach, während die übrige Gesellschaft - am Lager Fagnano hatten wir einigen Zuwachs bekommen - sich auf und davon machte. In Nuevo Harbarton, ungefähr in der Mitte zwischen dem Lago Fagnano und unserem Zielpunkte, der Estancia (= Farm) Viamonte, gelegen, sollte es am Abend ein Wiedersehen geben.

Gegen siebeneinhalb Uhr konnten auch wir endlich in Nuevo Harbarton absteigen, nachdem unsere Reisegesellschaft dort schon gegen sechs Uhr angekommen war. Von weitem schon vernahmen wir fürchterliches Hundegekläff, und als wir näher rückten, stürzte die ganze, wohl dreißig Köpfe zählende Meute auf uns hin. Aber auch auf Feuerland gilt: Hunde, die bellen, beißen nicht. So­bald wir im Bereiche des Lagers waren, zog die Bande sich zurück, auf ein neues, ihrer Aufmerksamkeit würdiges Objekt wartend. Die Überanstrengung hatte mich so durcheinander­gebracht, daß fast jeder Appetit fehlte. Ich fühlte nur zu deut­lich, daß ich noch fieberte. Da im ganzen Lager wohl an die fünfundzwanzig Personen versammelt waren, Weiße und Indianer bunt genug durcheinandergewürfelt, so war es schwer, eine Unter­kunft zu finden. Nicht Weiße, sondern Ona-Indianer erbarmten sich schließlich unser; jeder von uns fand ein Ruheplätzchen in einem kleinen, niedrigen Indianerzelt. Ich teilte das Quartier mit einem jungen, in den besten Jahren stehenden Manne, dessen herkulische Erscheinung mir abermals Respekt und Verwunderung vor der Onarasse einflößte. Die Wohltat eines auch nur be­scheidenen Obdaches wußten wir um so mehr zu schätzen, als in der Nacht ergiebige Regenschauer niedergingen. Der Regen freilich trieb dann die Hunde in die Zelte hinein, und so gab es während der Nacht noch allerlei Besuch.

Am folgenden Morgen (Samstag, dem 4. Februar) Aufbruch zur letzten Tour, es winkte das Ziel! In den ersten Stunden gelang es mir noch, ein wenig mitzutraben. Dann aber wieder holte sich das Spiel des vorhergehenden Tages. Langsam nur vermochte ich hinter meiner Reisegesellschaft einherzutrotten. Aber diese pausierte so oft und so lange, daß ich sie immer wieder einholte und schließlich mit ihr zwischen zwei und drei Uhr nachmittags den Einzug in den Komplex der Estancia Viamonte halten konnte. Meine erste Reittour auf Feuerland hatte damit ihren Abschluß gefunden. Ein „Gott sei Dank", so aufrichtig und ehrlich wie selten zuvor, entstieg meiner Brust.

Die Estancia liegt am Atlantischen Ozean. Schon einige Stunden vorher war er auf einmal in unser Gesichtsfeld getreten. Er bildete uns eine angenehme Abwechslung und Überraschung. Welche Gefühle und Erinnerungen rief er nicht wach in unserer Brust! Und wir versäumten nicht, ihm viele, viele Grüße aufzutragen an alle unsere Lieben fern in der europäischen Heimat.

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EINE WOCHE BEI DEN ONA-INDIANERN

Unsere ursprüngliche Absicht, bei den Ona mehrere Wochen, gegebenenfalls einen ganzen Monat zu verbringen, änderten wir bald nach dem Eintreffen in der Estancia Viamonte. Infolge eines Zerwürfnisses mit dem Herrn der Farm waren nur wenige Indianer bei der Schafschur mittätig. Die meisten Familien waren abwesend und zerstreut. Angesichts dieser Lage der Dinge stellten wir uns bald auf einen nur einwöchigen Aufenthalt ein. Einerseits bedurften Roß und Reiter einer gründlichen Erholung, anderseits wollten wir sehen, was sich bei den wenigen anwesen­den Indianern für unsere Zwecke immer noch erreichen ließe.

Unser Quartier hatten wir dieses Mal zur Abwechslung im „Armenviertel" aufzuschlagen. Die Besitzer dieser Farm (Bridges Söhne) übten nicht dieselbe entgegenkommende Gastfreundschaft aus, , wie wir sie bei den Laurence gewohnt waren. Der Herrschaft hier waren wir offenbar wenig bequem. In das herrschaft­liche Haus (die Casa grande) wurden wir überhaupt kein einziges Mal geladen. Wir befanden uns da übrigens in guter Gesellschaft. Denn einer aus fünf Herren bestehenden naturwissenschaftlichen Expedition, die im Jahr zuvor von Buenos Aires nach hier entsandt war und eine Reihe von Wochen verweilte, war es um kein Haar besser ergangen.

Schwer haben wir unter dieser Behandlung von Seiten der reichen Herrschaft wirklich nicht gelitten. Es erwachte vielmehr ein Gefühl des Mitleids mit diesen europäischen „Feuerländern", die hier, fern von allen Zentren höherer Kultur und Gesittung, geboren und erzogen, mit bestem Willen nicht immer wissen können, was sich schickt oder nicht. Die Wahrheit-. Reichtum allein bedeutet keineswegs Bildung! fanden wir selten so trefflich illustriert wie in diesem Falle. Daß es indes auch auf Feuerland nicht unmöglich ist, Herzensbildung zu bewahren und zu pflegen, dafür bot die Familie Laurence mit allen ihren Gliedern immer wieder das schönste Beispiel.

Übrigens auch im „Armenquartier" der Estancia Viamonte leuchtete uns trotz allem die Sonne herzlichster und aufrichtigster Gastfreundschaft. Dankbar werden wir stets dessen gedenken, was Herr Zirotti (als Angestellter zur Estancia gehörig) und dessen Gemahlin uns in diesen acht Tagen an Aufmerksamkeit und Liebe bezeigten. Herr Zirotti ist geborener Italiener, während wir in seiner Frau Gemahlin eine deutsche Landsmännin be­grüßen und verehren durften. Ähnlich wie im Kreise der Familie Laurence fühlten wir uns auch hier in allem wie zu Hause.

Obwohl auf das äußerste ermüdet, unterließen wir doch nicht, den anwesenden vier bis sechs Onafamilien gleich im Laufe des ersten Nachmittags noch unseren „Antrittsbesuch" abzustatten. Besonders bei denjenigen, die meinen Kollegen schon früher näher kennengelernt hatten, löste unser Erscheinen große Freude aus. Die mitgebrachten Photographien verfehlten auch hier ihre Wirkung nicht.

Ich fand aber auch bald schon schöne Gelegenheit, die bestehenden großen Temperamentsunterschiede zwischen den Yagan und den Ona zu beobachten. Von dem schüchternen und direkt ängstlichen Wesen, das einem im Verkehr mit den Yagan vielfach auffällig entgegentritt, ist bei den Ona im allgemeinen gar nichts zu bemerken. Im Gegenteil, ihre selbstherrliche Natur ­und Charakteranlage neigt vielmehr dazu, wie alle anderen, so auch uns, soweit nur möglich, von oben herab zu behandeln. So zeigen sich die Ona nicht nur nach Sprache und Körper, sondern auch der ganzen geistigen Verfassung nach sehr stark von den Yagan verschieden.

Mehrere der gerade anwesenden Familien sah auch mein Kollege zum ersten Male. Er bemühte sich daher, bald zu neuen photographischen Aufnahmen zu kommen. Wir vermißten dabei vielfach die uns bei den Yagan geläufige Willigkeit. Mehrere alte Frauen weigerten sich ganz energisch, vor den Apparat zu treten. Mit besonderer Entrüstung aber wiesen sie unsere Zumutung, sich mit der Capa (Guanacofell-Mantel) photographieren zu lassen, zurück. Sie seien keine Salvajes („Wilde") mehr. Die Capa hätten sie früher getragen, aber jetzt sei das vorüber. Wir sollten sie uns selber umhängen, wenn wir Lust dazu hätten, wie der nicht uninteressante Redeschwall weiter lautete. Ja, eine Alte, die Frau des (australoiden!) Saipotten, blieb auch fest, als wir mit Geld zu locken suchten. „Nein," sagte sie, „auch für Geld lasse ich mich nicht photographieren!" Ihr Herr Gemahl war freilich anderer Ansicht. Für einen Peso, ein Taschentuch oder eine ähnliche Gabe stand er sofort zu Diensten. Selbst gegen das Photographiertwerden in der großen Capa hatte er nichts, mochte währenddessen seine Alte auch schimpfen wie ein Rohrspatz. Derartige Szenen haben wir bei den Yagan nie erlebt. Für derlei kleine Mißgeschicke entschädigte uns der ebenso vernünftige als intelligente Kazike J. Tschikiol  (Taf. XXIa, oben rechts), der meinem Kollegen schon von seinen beiden früheren Reisen her in guter Freundschaft verbunden war. Tschikiol, einer von den wenigen, welche noch auf der Farm bei der Schafschur beschäftigt waren, mußte eines kranken Fußes willen mehrere Feiertage machen, und diese waren uns gerne gewidmet.

Mein Kollege überprüfte mit seiner Hilfe nochmals die sprachlichen Aufzeichnungen, die er früher schon hatte machen können. Mir bot sich damit eine willkommene Gelegenheit, der interessanten Phonetik der Onasprache meine besondere Auf­merksamkeit zuzuwenden. Ein eigentümliches Geschick hatte über der Erforschung dieser Sprache geschwebt. Von den vielen, die sich gelegentlich um ihr Studium an Ort und Stelle be­mühten, war keiner phonetisch hinreichend geschult gewesen, um uns eine klare Darstellung der Lautverhältnisse schenken zu können. Wenn selber auch erst ein Anfänger auf dem Ge­biete der Phonetik, so erkannte ich doch bald die Natur der am meisten umstrittenen Laute, der in der Onasprache so zahlreich vertretenen Laute mit Kehlkopfverschluß. Sie verleihen dem Idiom in der Tat das charakteristisch Eigentümliche, das seltsame Geknacke beim Sprechen, wie es schon früher nicht schlecht gekenn­zeichnet worden ist. Zumal wenn die Frauen untereinander der Rede freien Strom ergießen lassen, hört sich das wirklich lustig an. Und es könnte der Neuling dann wohl auf den Gedanken kommen, die Onaweiber keifen und streiten miteinander ohne Unterlaß.

Nachdem wir mit den sprachlichen Untersuchungen bis zum (augenblicklich) gewünschten Punkt gekommen, wurde der gute Tschikiol mit einer Unzahl anderweitiger Fragen überschüttet. Es gelang uns, nicht wenige bisher unbekannte oder übersehene Daten, sei es zum wirtschaftlich-sozialen Leben der Ona, sei es zu ihren sonstigen Sitten, Gebräuchen und Anschauungen, zu gewinnen.

Auch die Frage nach der geheimen Jugendweihe, dem Kloketen, beantwortete uns Tschikiol. Aber dabei ging er über gewisse Äußerlichkeiten absolut nicht hinaus. Stellten wir Fragen, auf die eine Antwort zu geben ihm nicht mehr erlaubt war, so brach er ab und stieß kurz hervor: „Yo no se" (ich weiß es nicht). Und nur mit gedämpfter Stimme fügte er bei: „Kommt ins Kolleg (Kloketen), da werdet ihr alles erfahren. Ich darf hier nichts Weiteres sagen, will ich nicht meinen Kopf riskieren." Natürlich drängten wir in solchem Falle nicht mehr. Wir dankten für das Vertrauen, das er mit der Einladung zum Kloketen uns bewies.

Das ewige Fragen und Antworten hatte schließlich auch unseren guten Tschikiol etwas nervös gemacht. Als einmal bei Erklärung eines Mythos mein Kollege etliche Punkte näher auf gehellt wissen wollte und andeutete, daß er die Sache wohl etwas unzureichend dargestellt habe, forderte doch auch seine Onanatur ihre Rechte, indem er hervorplatzte : „Nein, nicht ich bin unklar, sondern du wirfst die Geschichte immer wieder durcheinander!', Ein andermal schrieb er etwas mit Bleistift auf einen Fetzen Papier - Tschikiol hat in der Missionsschule der Salesianerpatres lesen und schreiben gelernt - und zeigte es mir. Ich fragte nach der Bedeutung des Geschriebenen. Darauf schaute er uns schelmisch an und übersetzte: „Ach, was quälen mich doch diese Weißen mit ihren ungezählten Fragen!"

Natürlich wurde Tschikiol schließlich von uns entsprechend entlohnt und beschenkt. Da vergaß er bald die Kopfschmerzen und lebte schnell wieder auf.

Am letzten Tag unseres Aufenthaltes bei den Ona sollten wir noch Zeugen einer Szene sein, die des starken Eindruckes auf uns nicht verfehlen konnte. Auf der Suche nach ethnologischen Objekten sprachen wir schließlich auch im Rancho des alten Saipotten vor. Da überraschten- wir nun . den Alten bei einer Trauerzeremonie, die er im Andenken an seinen vor Jahresfrist verstorbenen Sohn vornahm. Er saß auf einem niedrigen Holzklotz und hatte die Hose bis über die Knie aufgestreift. Mit scharfen Steinsplittern bearbeitete er beide Beine unterhalb des Knies derart, daß das Blut nach allen Seiten in schmalen langen Bahnen hinunterfloß. Ein tiefempfundener Schmerz spielte dabei in seinen Zügen. Da er uns schon kannte und wußte, daß wir seiner nicht spotten würden, so ließ er sich durch unsere Anwesenheit gar nicht stören. Was wir von Tschikiol schon gehört, sahen wir in Wirklichkeit vor uns: eine Art der drakonischen Trauerformen, wie sie auf Feuerland spezifisches Eigengut der Ona sind. Schließlich streifte der Alte seine Hose wieder über die noch blutenden Beine hinunter und hörte auf unsere Wünsche.

Mehrere der Onafamilien leben in modernen ein- oder zweiräumigen mit Wellblech gedeckten Bretterbuden. Auch ein europäischer Ofen oder Herd primitivster Form fehlt in der­artigen Behausungen für gewöhnlich nicht. Andere Familien indes ziehen vor, ihr Dasein in den alten großen (kegelförmigen) Hütten weiterzufristen, in deren Mitte stets das offene Feuer brennt. In der Tat, hier fanden wir uns gerne ein, während das Verweilen in den modernen Hütten große Überwindung kostete. In dem Rancho herrscht nämlich durchgehends hinreichende Sauberkeit, denn aller Unrat und Abfall wandert in das Feuer hinein. In den Wohnungen neuen Stiles dagegen fällt das alles einfach auf den Boden, so daß dieser in einer Schmutz- und Fettschicht förmlich erglänzt und wenig appetitliche Düfte aus­strömen läßt. Gewiß von keinem schlechten Instinkt geleitet er­scheinen jene Indianer, die dazu übergegangen sind - wunder­bare Verkehrung der Ordnung der Dinge! -, die Bretterbaracke zum Vorratshaus zu degradieren und mit Kind und Kegel wieder Einzug zu halten in den guten altbewährten Rancho.

Mit dem, was wir bei den Ona während eines bloß acht­tägigen Aufenthaltes sehen, hören und aufzeichnen konnten, durften wir wohl zufrieden sein. Es ging nicht an, dieses Mal länger zu verweilen, denn bei den Yagan herrschten momentan doch bessere Arbeitsmöglichkeiten, vor allem erwarteten uns dort die geheimen Feste. Immerhin waren bei den Ona nicht allein wertvolle neue ethnologische, soziologische und religions­wissenschaftliche Daten gesammelt, sondern auch günstigere Vor­bedingungen für eine spätere erschöpfende Erforschung (Teilnahme am Kloketen !) geschaffen worden 1.

Textfeld: 1 Von April bis Juli 1923 hat Dr. Gusinde abermals unter den Ona geweilt und besonders auch ihr Kloketen kennengelernt.

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EINE ZWEITE REITTOUR AUF FEUERLAND. DIE HAUSINDIANER

Die Zeit unseres Aufenthaltes bei den Ona im Bereiche der Estancia Viamonte ging zu Ende. Es mußte an die Vorbereitungen für die Heimkehr zu unseren Yagan am Beagle-Kanal gedacht werden. Perez und Felipe, die uns treulich hergeleitet hatten, standen nicht mehr zur Verfügung. Im Dienste ihrer Herrschaft hatten sie, von weiterem Personal unterstützt, hundertzwanzig Stück Rindvieh über die Kordillere zu bringen, ein Unternehmen, dessen Ausführung ungefähr zwei Wochen Zeit und viel Arbeit und Mühe kostete. Es war also nötig, sich nach einem neuen Führer und Helfer für die Heimreise umzusehen.

Nach längerem Suchen und Bemühen fand sich schließlich ein solcher in der Person des dreiundzwanzigjährigen Onaburschen Naviol, der eben beschäftigungslos von einer weiter nördlich gelegenen Farm zurückkehrte. Wir dangen ihn, in Ermangelung eines Besseren. Wo wir auch immer Erkundigungen über Naviols Charakter und Zuverlässigkeit einzuziehen suchten, überall ant­wortete man uns entweder mit einem bloßen Achselzucken oder man sagte uns auch geradeheraus: „Sie können froh sein, wenn das gut geht."

In der Tat, unser Naviol fing schon an zu versagen, wo wir noch gar nicht auf der Tour, sondern erst beim Rüsten waren. Für Pferde und Gepäck hatten wir wesentlich selber zu sorgen. Dafür vergaß er aber nicht, an die Bedürfnisse seiner eigenen Persönlichkeit zu denken. So erinnerte er an die Ziga­retten, die er unterwegs doch rauchen müsse; eine große Schachtel voll, im Preise von zehn argentinischen Pesos, komme ihm doch zu. Wir kauften ihm welche, aber natürlich nicht die von ihm gewünschte Menge.

Gegen Mittag des 11. Februar war schließlich alles zum Aufbruch bereit. Der Abend des Tages sah uns in der Gegend von Nuevo Harbarton. In einer leerstehenden Holzbaracke schlugen wir unser Nachtquartier auf. Naviol äußerte die Absicht, sich seitwärts in die Büsche zu schlagen: nicht weit weg hoffte er gute Freunde zu finden. Wir untersagten ihm diese Spritztour, denn wir hegten die Überzeugung, daß er dann gar nicht mehr oder vielleicht erst in einigen Tagen zu uns zurückkehren würde.

Während der Nacht gingen tüchtige Regenschauer nieder, so daß wir froh waren, ein schützendes Dach über unseres Häuptern zu haben.

Der nächste Tag brachte uns weiter bis zu der den Sale­sianerpatres gehörigen Estancia am Lago Fagnano. Unterwegs sorgte Naviol für die nötigen Abenteuer. Wir bemerkten, daß er einen anderen Weg eingeschlagen, als wie wir ihn gut acht Tage zuvor geritten waren. In der Meinung, er kenne sich aus in seinem Heimatlande und wolle den Weg nur abkürzen, ließen wir ihn gewähren und folgten ihm. Auf einmal aber sitzen wir mitten in Sumpf und Wildnis, ohne Weg und Steg. Auf eine Vorstellung meines Kollegen antwortet Naviol in aller Gelassen­heit, daß er den Weg überhaupt nicht kenne.

Eine schöne Überraschung für uns. Ich schaute fragend auf meinen Kollegen. Der aber erinnerte nur daran, daß wir eben auf Feuerland sind, wo einen nichts überraschen darf. Also jetzt heißt es, auch selber den Weg noch zu suchen und unseren Führer führen.

Die Sonne am Himmel wenigstens bleibt uns treu. Sie gibt die Richtung an, die wir einzuhalten haben. Wir müssen süd­wärts, also haben wir darauf zu schauen, daß die Sonne uns stets gerade im Rücken steht. So fühlen wir, je nach der Be­schaffenheit des Terrains, langsamer oder schneller vor, bis wir, nach ungefähr zweistündigem Herumirren, die „große Heerstraße" wieder unter unseren Füßen hatten.

Gegen sechs Uhr abends sitzen wir ab in der Estancia am Lago Fagnano, wo Garibaldi (ein Hausmischling) als derzeitiger Farmleiter uns ein möglichst angenehmes Nachtquartier zu schaffen bestrebt ist. Wir lernen in ihm bald einen ebenso intelligenten als vernünftigen Mann von etwa fünfunddreißig bis vierzig Jahren kennen und schätzen. Gerne gibt er uns allerhand Daten über den Stamm, dem er wenigstens halbblütig angehört. Nach seinen Mitteilungen hatten die Haus eine von dem Ona-Idiom ver­schiedene Sprache, wenn im übrigen auch die Beziehungen zwischen Haus und Ona stets enge und freundschaftliche waren. Die Haus bewohnten wesentlich die südöstlichen Teile der Insel Feuerland. Fünf rassenreine Individuen sind heute von diesem Stamme noch übrig, darunter die etwa neunzig Jahre zählende Großmutter unseres Gewährsmannes.

Seine weiteren Schilderungen lassen uns bald klar erkennen, daß die Kultur der Haus in der Tat die stärkste Verwandtschaft mit derjenigen der Ona aufweist. Es treten auch einzelne Unter­schiede zutage, aber vielfach reduzieren sie sich bei näherem Zusehen auf einen bloßen Unterschied in der Bezeichnung.

Da die Zahl der Haus seit einer Reihe von Jahren schon eine so geringe ist, so sind die wenigen übrigen Individuen natur­gemäß darauf angewiesen, viel oder gar ausschließlich mit stammesfremden Elementen zu verkehren. Es entging uns nicht, daß auch bei Garibaldi, der meistens entweder mit Ona-Indianern oder mit Euro­päern zusammenlebte, öfters keine klare Vorstellung mehr darüber vorhanden war, ob irgendein Brauch oder eine Anschauung ur­sprünglich den Haus oder den Ona eigentümlich war. Ohne Zweifel wurde von ihm mehreres durcheinander geworfen. Wir wissen wohl, daß unsere bezüglichen Aufzeichnungen deshalb nur einen relativen Wert besitzen'.

Es bewegte uns tief, einen der letzten Sprossen des Haus­stammes so vor uns und sich abmühen zu sehen, um wenigstens noch irgendein treues Bild von dem Denken und Leben seiner Ahnen zu vermitteln. Wenige Jahre noch, und die Entwicklung bei den übrigen Feuerlandstämmen dürfte an demselben Punkte stehen. Die Bedeutung der Arbeit, die wir bei diesen noch leisten wollten und konnten, zeigte sich uns hier in einem neuen Lichte. Und wir erneuerten in uns den Vorsatz, da unser Möglichstes und Bestes auch fürderhin zu tun.

Am folgenden Tage sollte früh aufgebrochen werden, damit, wenn irgend möglich, die lange elf- bis zwölfstündige Tour über die Kordillere an einem Tage erledigt werde. Naviol erhielt die entsprechenden Weisungen, im besonderen wurde ihm ans Herz gelegt, schon um fünf Uhr früh die Pferde zusammenzusuchen und alles bereitzumachen für den Abmarsch.

Nach den bisherigen Leistungen Naviols durften wir wohl den Argwohn hegen, daß er auch dieses Mal versagen würde. Richtig, es wurde schon fünfeinhalb Uhr und noch etwas später

und von unserem Naviol zeigte sich noch immer keine Spur. Mein Kollege geht zu seiner Lagerstatt, und findet ihn tatsäch­lich noch in den „Federn". Auf die Frage, wo denn das hinaus solle, da er doch längst schon mit den

Pferden zur Stelle sein müßte, erwiderte er meinem Kollegen ohne Scheu und Scham, ob er selber die Pferde mittlerweile nicht schon geholt hätte! Es wurde uns immer klarer, daß wir es bei Naviol - wenn auch noch so weit von Rußland - doch mit einem bolschewikisch stark angehauchten Individuum zu tun hatten.

Infolge seiner Widerhaarigkeit und Saumseligkeit verspätete sich unser Aufbruch um volle zwei Stunden. Natürlich war die Folge davon ein abermaliges Übernachten mitten auf der hohen Kordillere. Eine nach drei Seiten geschlossene Bretterhütte bot uns einigen willkommenen Schutz gegen, die empfindliche und schneidende Kälte der Nacht. Denn dieser hatten wir selber um so :weniger Widerstand entgegenzusetzen, als der Magen so gut wie leer war. Und auch dieses Mißgeschick stand auf Naviols Schuldkonto. Auf der Estancia am Lago hatte er unsere mitgeführte Hammelkeule am Boden liegen und so eine Beute der hungrigen Hunde werden lassen. Nun, wo er sich und uns auf luftiger Höhe nach langer und beschwerlicher Tour den gewohnten Spießbraten bereiten sollte, bemerkte er zu seiner und unserer Überraschung, daß kaum mehr als die Knochen übrig waren!

Am nächsten Morgen fanden wir, daß in puncto Magenfrage unser Naviol auch sterblich war. Wir brauchten dieses gar nicht zu drängen, bald die Pferde zu holen und alles marschbereit zu machen, er tat das von selber schon. Gegen seine Eile hatten wir nicht nur nichts einzuwenden, sondern förderten sie nach bestem Vermögen. Zu Mittag standen wir schon am Beagle-Kanal und stiegen abermals im gastlichen Hause des Herrn Captain Nielson ab.

Den Nachmittag des Tages wollten wir besonders auch dazu benutzen, die Frau eines gewissen hier in Harbarton beschäftigten Arbeiters namens Gomez ethnographisch auszufragen, bzw. auch zu photographieren. Denn diese Frau ist eine der wenigen noch lebenden Mitglieder des Stammes der Haus, für den wir durch die Unterredung mit Garibaldi am Lago Fagnano naturgemäß neues Interesse gewonnen hatten. Hier hatten wir aber die Rech­nung ohne den Wirt gemacht. Als wir bei Gomez vorsichtig mit unseren Wünschen hervorrückten und fragten, ob wir seine Frau nicht sehen und befragen könnten, sie sei ja eine Haus, da antwortete er immer nur: "Yo no se, Señor! Yo no se, Señor !" Ich weiß es nicht, mein Herr! Er wollte nicht, absolut nicht, aus welchem Grunde eigentlich, das wurde uns nicht vollkommen klar.

Da Naviol seinen Hunger gründlich hatte stillen können, so nahm das Pferdesuchen und Satteln am nächsten Morgen wieder einige Stunden Zeit in Anspruch. Immerhin standen wir zwischen neun und zehn Uhr doch schon reisefertig da. Aber jetzt gab's plötzlich eine Überraschung, auf die keiner von uns gefaßt war. Naviol weigerte sich entschieden, uns fernerhin zu begleiten. Er forderte seinen Lohn, um dann kurzerhand umzu­kehren und uns unserem Schicksal zu überlassen. Auf die er­staunte Frage meines Kollegen, woher und warum ihm denn auf einmal dieser Einfall komme, gab er immer wieder nur die eine Antwort: "No quiero!" Ich will nicht!

Wir sind auf Feuerland. Es ist uns bald klar, da ist einfach nichts zu machen. Naviol bekommt seinen Lohn, aber auch eine gesalzene Predigt dazu. Sein Sündenregister wird ihm vorgehalten und daran erinnert, wie er durch sein Verhalten nicht nur sich, sondern auch seinen Stammesgenossen schweren Schaden zugefügt. Wir hoffen, daß er sich bessert, und lassen ihn ziehen.

Captain Nielson, freundlich und zuvorkommend wie immer, stellt uns den zuverlässigsten Mann, den er hat, zur Verfügung. Der führte uns an demselben Tage noch nach Punta Remolino, wo wir abends siebeneinhalb Uhr wohlbehalten ankamen und von allen, von Indianern und Weißen, auf das herzlichste begrüßt wurden. Wir waren wieder daheim.

Textfeld: ' Genaueres zur Sprache und Ethnographie der Haus erfuhr M. Gusinde gelegentlich seines letzten Aufenthaltes bei den Ona 1923.

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IN EINER RATSVERSAMMLUNG MIT DEN FÜHRENDEN MÄNNERN DIES STAMMES

Am Vormittag des 1. März 1922 (einem Mittwoch) hatte uns der zur Farm Gebrüder Laurence gehörige Kutter "Garibaldi" in der Indianerniederlassung Puerto Mejillones, an dem Nordufer der Isla Navarino, abgesetzt. So waren wir denn dem Hauptziel unserer Reise, der Teilnahme an der Kinafeier der Yagan, merklich näher gerückt. Nichts zu überstürzen, sondern bedächtig vorzugehen mußte aber auch hier die Losung sein. Wir suchten weiter nach dem bewährten Grundsatz meines Kollegen zu handeln. Alles sorgsam vorbereiten bedeutet für gewöhnlich schon den halben Erfolg! Im Interesse der vollen Erreichung unserer Pläne schien uns eine Ratsversammlung der führenden und ton­angebenden Männer besonders vorteilhaft, und so regten wir eine solche an.

Als wir den einzelnen diesen Gedanken unterbreiteten, fand er sogleich ihre Billigung. Wir wußten aber wohl, daß seiner praktischen Durchführung noch einige schwerwiegende Hindernisse entgegenstanden. Die mußten wir zunächst aus dem Wege zu räumen trachten.

Calderón (Taf. IV b) und Santiago (Taf. V b) waren einige Tage zuvor hart aneinandergeraten, sie hatten sich gründlich ent­zweit. Um mit allen hier in Mejillones augenblicklich ansässigen

Indianern gleich bekannt zu werden, machten wir um die Mittagszeit herum in Santiagos Begleitung überall unseren Antrittsbesuch. Dabei kamen wir, nun auch in Calderón Behausung. Santiago ging zwar auch mit hinein, aber weder er noch Calderón brachte es fertig, mit dem Widerpart irgendein direktes Wort zu wechseln.

Für uns ein Wink, doppelte Vorsicht walten zu lassen. Denn Calderón und Santiago stellen neben Chris die Hauptpersonen vor. Bringen wir dieses Kleeblatt nicht wieder unter einen Hut, dann ist für alle unsere weiteren Pläne zu fürchten.

Zum Überfluß erscheint auch Chris uns gegenüber verstimmt. Über den Grund sind wir uns bald klar. Wir sind bei Santiago abgestiegen und nicht bei ihm. Das muß er meinem Kollegen besonders verübeln, da dieser doch vor zwei Jahren sein „Verwandter" geworden ist. Chris' Frau, die Gertie (Taf. VIa), hatte beim Feste der Jugendweihe als seine Patin fungiert. Wir sprechen mit Chris und Gertie in aller Ruhe und suchen sie aufzuklären und zu beruhigen. Da wir mit Santiago und Gemahlin Adelaide (Taf. Va) von der anderen Seite gekommen, sei es uns nicht anders möglich gewesen, als auch das Angebot, in ihrer Hütte zu logieren, anzunehmen. Sowohl mit Chris als noch mehr mit Gertie läßt sich vernünftig reden, und so ist in bezug auf diese beiden bald wieder alles in das rechte Lot gebracht.

Des Nachmittags gegen fünf Uhr glaubten wir die Situation soweit geklärt, daß es gewagt werden dürfte, die Männer zu einer „Ratsversammlung" zusammenzutrommeln. Santiagos laute Stimme schallt durch das ganze Lager und ruft in seinem und unserem Namen die Männer herbei. Langsam, einer nach dem anderen, rücken sie heran, bis auf Calderón. Sollte er uns am Ende doch noch Ungelegenheiten bereiten wollen? Der Ernst des Augenblicks ist uns klar. Wir, mein Kollege und ich, über­legen schnell und gehen dann zusammen zu seiner Hütte, um ihn persönlich feierlichst herbeizubitten. Diese besondere Aus­zeichnung verfehlte ihre Wirkung nicht. Sofort, ohne jede Widerrede, geht er mit und setzt sich zu den übrigen in den Kreis.

Gott Dank, so weit hätten wir die Gesellschaft glücklich gebracht. Ein jeder bekommt, wie von ungefähr, zunächst sein Päckchen Tabak und Papier und Feuerzeug dazu, damit er sich eine Zigarette drehen und anzünden kann. Diese „Kulturerrungenschaft" haben sie den Weißen gelegentlich schon richtig abgeguckt. Das trägt nun gleich sichtlicherweise zur Hebung der Stimmung bei.

Mein Kollege hielt den Augenblick für gekommen, der versammelten Korona eine Rede zu halten; bereits Stammesmitglied, hatte er ja das Recht dazu. Die maßgebenden Faktoren, Calderon, Chris und Santiago, verstehen alle hinreichend Spanisch, um ihm ohne Schwierigkeit folgen zu können.

Sie vernehmen zunächst Lob und Anerkennung für alles das, was sie uns bis jetzt an Vertrauen und Beihilfe zur Erreichung unserer Zwecke gewidmet haben. Wir sind sehr zufrieden mit ihnen und danken schon bestens. Und unser Dank ist ja schon wiederholt auch in handgreiflicher Weise zutage ge­treten. Sie erhielten allerhand Gebrauchsgegenstände, Kleidungsstücke, Tabak und besonders ihre eigenen Photographien. Aber wichtiger wie alles dieses sei schließlich doch das, was mein Kollege tat und auch weiter tun wolle im Interesse des kleinen Gebietes, das hier die Yagan noch besitzen. Auch darin hätten sie sich ja bedroht gesehen, und die Gefahr sei, wie sie selber ganz gut wüßten, noch keineswegs beschworen. Er wolle aber selbstredend in diesem Sinne sein Bestes auch fernerhin tun, um das drohende Unheil abzuwenden. Dazu freilich werde er um so freudiger sich bereit finden, wenn wir auch jetzt wieder, wo es gelte Kina zu feiern, volles Vertrauen und Entgegenkommen fänden!

Die Rede verfehlte ihre Wirkung nicht. Das verriet weniger ein lauter Beifall, als vielmehr das zufriedene und dankbare Lächeln, das auf den Gesichtern der einzelnen spielte. Calderón nahm dann das Wort im Namen aller und sagte zunächst: „Ja, du hast recht. Alle deine Versprechen hast du treu erfüllt. Du bist nicht wie die übrigen Weißen. Diese machten uns auch Ver­sprechen genug, aber sie hielten sie nicht. Du bist wirklich ein Yamana [ein Mann]! Was ihr weiter von uns wünscht, was ihr hören und sehen wollt, das wird alles gemacht. Bitte nur zu befehlen, wir stehen euch ganz zu Diensten."

Mein Kollege dankte in seinem und meinem Namen. In bezug auf das aber, was nun zunächst und wie es zu machen sei, sollen sie selber Vorschläge unterbreiten.

Calderón und Chris waren tagsüber nur scheinbar müßig gewesen. Über Arbeits- und Spielprogramm hatten sie mitein­ander schon eifrig hin und her gesprochen. Und mit ihnen sind nun alle zunächst eins in dem Vorschlag, noch einmal das Fest der Jugendweihe (Tschiechaus) zu begehen. Einesteils sollte auch ich dasselbe sehen und erleben und damit Stammesmitglied werden. Und andernteils meinten sie, es sei dieses schöne, ihnen geläufige Fest nötig, um überhaupt in die rechte Stimmung zu kommen. Daran erst könne Kina sich anschließen, das seit mehr denn dreißig Jahren nicht gespielt wurde, und dessen Wiederauffrischung daher naturgemäß einige Schwierigkeiten bereiten werde.

Es braucht nicht gesagt werden, daß wir, und ganz be­sonders der Schreiber dieser Zeilen, über einen derartigen Vorschlag direkt entzückt waren und von Herzen unsere Einwilligung erteilten. Das besonders auch deshalb, weil mein Kollege zwei Jahre zuvor bei Gelegenheit seiner Aufnahmefeier äußerst strenge gehalten worden war, so daß er während der sechstägigen Veranstaltung keine einzige Zeile hatte zu Papier bringen dürfen. Ein nicht unbedeutender Teil der Zeremonien war ihm daher unaufgeklärt geblieben.

Wir benutzten die Gunst des Augenblicks und stellten das Ansuchen, daß man uns dieses Mal gestatten möge, von Fall zu Fall leise zu fragen, um die verschiedenen Einzelheiten gleich schriftlich festzuhalten. Die Alten würdigten diese Bitte und erledigten sie nach einigem Erörtern im bejahenden Sinne. Hier war der Umstand günstig, daß der alte Alfredo, welcher vor zwei Jahren die Jünglingsweihe leitete, derzeit abwesend war. Wie gut und entgegenkommend er sonst sich zeigte, in diesem Punkte war er unerbittlich streng. Mein Kollege mußte damals alles genau so machen wie die Einheimischen. Und weil die nicht schrieben, so durfte er es auch nicht! Mit dem biederen Santiago aber, der dieses Mal als Kursleiter fungieren sollte, ließ sich leichter reden.

Die Hauptpunkte des Programms unserer Ratsversammlung waren damit erledigt. Mit dem Erfolg und den geschaffenen weiteren Aussichten glaubten wir wohl zufrieden sein zu können. Jetzt hieß es noch an einige äußere praktische Dinge denken.

Da wir voraussahen, daß der Großteil der Bevölkerung zehn bis vierzehn Tage mindestens in unserem Interesse würde tätig sein müssen, so hatten wir hinsichtlich der nötigen Lebensmittel schon Vorsorge getroffen. In Punta Remolino waren etliche Schafe, ferner Mehl, Reis, Kaffee, Tee, Nudeln, Fett, Zucker und ähn­liche Dinge mehr in größeren Quantitäten erstanden. Der Pro­viant bedurfte nur noch der Ergänzung, und zu diesem Zwecke sollten Walter (Taf. XVIIIb, rechts) und Sohn (Taf. XIIa, untere Reihe rechts) am folgenden Morgen in aller Frühe nach dem fünf bis sechs Ruderstunden entfernten Ushuaia steuern. Die tiefsten Desiderien einzelner Männer, ihre Wünsche nach einem roten Tropfen (Rotwein!), waren uns natürlich nicht unbekannt. So lautete die Bestellung auch auf ein bescheidenes Quantum dieser herzerfreuenden Flüssigkeit, welche den Feuerländern ehe­dem wohl gänzlich unbekannt war, die sie heute aber im gegebenen Falle - von wenigen Ausnahmen abgesehen - keineswegs verschmähen.

Die übrigen Männer und wir mit ihnen wollen unterdessen für die noch nötigen Vorbereitungen an Ort und Stelle sorgen. Eine willkommene Erleichterung der Arbeit bedeutet es, daß

der Tschiechaus-Rancho (Taf. ä a und b) vom vorhergehenden Jahre im Gerüst noch steht und nur einer Reparatur und neuer Bedeckung bedarf. In zwei Tagen können und sollen alle vor­bereitenden Arbeiten erledigt sein, und am Freitag abend kann mit der Feier begonnen werden.

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VORBEREITUNG ZUIM FEIST DER: JUGENDWEIHE (TSCHIECHAUS)

Die beiden ersten Nächte auf Puerto Mejillones schliefen wir in Santiagos Hütte. Ein ganz kleines „Zimmerchen", in dem zwei von irgendwoher stammende Pritschen aufgestellt waren, bildete unser Departement. Da es am Raum gebrach, so war ein gleichzeitiges Zu-Bette-Gehen und Aufstehen nicht möglich. Hier mußten wir notgedrungen getrennt marschieren, einer nach dem andern zu Bette gehen bzw. wieder aufstehen. Die Enge des Raumes behindert aber keineswegs die nötige Ventilation. Mehr als uns eigentlich lieb war, pfiff manchmal der nächtliche kalte Wind durch die Spalten und Ritzen der dünnen Bretterwände herein. So gut, als wir vermochten, hüllten wir uns ein in unsere von Punta Remolino mitgebrachten Decken und schliefen gleich die erste Nacht, als die einzigen Weißen im Campament der Yagan, einen leidlich guten Schlaf.

Am nächsten Morgen zog abermals ein wunderbar schöner Tag herauf. Nach unseren bisherigen Erfahrungen hatten wir nicht zu hoffen gewagt, daß uns auf Feuerland noch einmal eine

derartige Sonne scheinen würde. Der Himmel ist ganz klar und rein, kein Lüftchen regt sich, und so ist auch der Beagle-Kanal spiegelglatt. Die für diese Gegend außergewöhnlich günstige Witterung nehmen wir hin als eine gute Vorbedeutung. Und mein Kollege versäumt nicht, das herrliche Panorama, welches, gebadet im Glanze der goldigen Morgensonne, vor uns sich aus­breitet, photographisch festzulegen. Auch vom Campament unserer Feuerlandindianer werden gleich mehrere Aufnahmen gemacht.

Santiago, Calderón und Manuel wissen wir unterdessen schon mit der Instandsetzung des Tschiechaus - Rancho beschäftigt. Wir gehen nun hin, um selber auch mit Hand anzulegen. Die Säuberungs- und Reparationsarbeit ist bereits in vollem Gange. Wir messen den Rancho gleichzeitig nach allen seinen Richtungen hin genauer aus und finden, daß er elf Meter lang, gut drei Meter breit und in der Mitte zweieinhalb Meter hoch ist. Eine langgestreckte Hütte in Bienenkorbkonstruktion.

Das Gerüst des Ranchos bedarf kaum einer nennenswerten Ausbesserung. Es hat ein Jahr lang der Feuerlandwitterung getrotzt, ein Zeichen für seine relativ große Solidität. Es besteht aus Stäben und Holzscheiten, die mit Hilfe von Binsen, oder heute auch von Tau und Draht, zusammengebunden sind. Die Innenseite der Holzscheite, die in einer Entfernung von etwa siebzig Zentimeter jedesmal mit den Stäben abwechseln, ist mit den gewöhnlichen Yaganfarben schwarz, weiß und rot bemalt. Die Bemalung muß nun freilich erneuert werden. Sie besteht nur aus Strichen und Punkten und hat - wenigstens nach Aussagen der heutigen Indianer - keinen anderen Zweck, als zu zieren und zu schmücken.

Konnte das Gerüst wesentlich das alte bleiben, so mußte aber das „Dach", die Bedeckung des Rancho, naturgemäß voll­ständig erneuert werden. Das Dach besteht nämlich aus frischen Buchenzweigen und Fellen (von Seehunden usw.); da die Felle heute für gewöhnlich bald an die Händler in Ushuaia verkauft werden, so sind sie in unserem Falle freilich meist vertreten durch aufgeschnittene Säcke („Kulturlumpen", wie mein Kollege sie zu benennen pflegte). Mit vereinten Kräften konnte auch diese Arbeit bald erledigt werden.

Darauf mußte der Innenausstattung des Rancho erneute Aufmerksamkeit geschenkt werden: Es galt vor allem die links und rechts der Länge nach durch den Rancho sich hinziehenden Sitz- und Lagerstätten einzurichten. Auch hier kommt man wesentlich mit den Zweigen der antarktischen Buche (Nothofagus betuloides) aus. Eine dichte Schicht wird davon über den Boden ausgebreitet, und das „Unterbett" ist fertig. Was darauf gehört oder der einzelne sich darüber wünscht, ein Fell oder heute irgendeine Decke, das muß er beizeiten selber herbeischaffen.

Da die Indianer aus Erfahrung wissen, daß ihr im Rancho offen brennendes Feuer durch seine mitunter gewaltige Rauchentwicklung (feuchtes Holz!) dem Europäer leicht sehr lästig wird, so stellen sie dieses Mal in liebevoller Rücksichtnahme auf uns zwei mächtige Eisenzylinder (Reste des Schornsteins eines im Beagle-Kanal verunglückten Dampfers!) als Feuerherde auf. In der Tat, sie erfüllten in vortrefflicher Weise ihren Zweck.

Zu beiden Seiten der Feuerstelle (Feuerherde) blieben den Sitz- und Lagerstätten entlang laufend schmale Gänge frei, die, wie wir bald näher erfahren und sehen sollten, als Tanz- und Spielbahnen dienten.

Das heilige Haus hat zwei Ein- bzw. Ausgänge, an jedem Ende einen. Der vordere ist etwas größer und für die Alten be­stimmt, der rückwärtige ist kleiner, vor allem niedriger, und ist in erster Linie für die Uswoala (Kandidaten und Kandidatinnen) da. Beide „Türen" werden mit Sacktuch (früher mit Fellen) verhängt, so daß also der Tschiechaus-Rancho nach allen Seiten hin abgeschlossen ist. Nur über dem Feuer bleibt oben eine Öffnung, ein hinreichend breiter Spalt, um dem Rauch einen Abzug zu gestatten.

Der 3. März, also der Tag, an dem abends der Einzug in das heilige Haus stattfinden sollte, war bereits angebrochen. Die Innenausstattung des Rancho bedurfte nur noch der letzten Ergänzung. So wurden vier bis fünf Holztäfelchen im Innern des Hauses aufgehängt. Dieselben haben eine Länge von etwa fünfundzwanzig und eine Breite von zehn Zentimetern und erscheinen in üblicher Weise mit Strichen und Punkten, in den drei Feuerlandfarben schwarz, weiß und rot, bemalt. Nach Aussage der heutigen  Yagan bedeuten diese bemalten Täfelchen nichts anderes als eine weitere Zierde des heiligen Hauses (Abb. 6).

Endlich wurde auch noch ein etwa zwölf Meter langer Lasso herbeigeschafft und in dem Sparrwerk des Rancho so angebracht, daß er gegebenenfalls schnell daraus hervorgeholt werden könnte (Abb. 7; vgl. Taf. XIa). Er dient dazu, besonders den jungen Kandidaten einen heilsamen Schrecken einzuflößen. Sollte nämlich einer derselben sich ungehorsam und widerspenstig zeigen, so wird er von den Männern ergriffen und mit Hilfe dieses Lassos eingewickelt und dann für einen halben oder auch einem ganzen Tag in einer Ecke des Rancho liegen gelassen, natürlich unter gänzlichem Verzicht auf Speise und Trank. Diese Kur, so versicherten uns die Alten, habe sich immer als probat er­wiesen. Und sie würde auch dieses Mal wieder, wenn nötig, zur Anwendung gelangen. Tatsächlich kam es aber nie so weit, weil wir Kandidaten von 1922 ständig brav und folgsam waren.

Zur Zeit des Mittagessens wurde der definitive Entschluß gefaßt, daß bei Sonnenuntergang die Feier beginnen werde. Mein Kollege, der zwei Jahre zuvor die Jugendweihe schon mitgemacht hatte, instruierte mich, was ich praktischerweise an Fellen, Decken, Handtuch, Seife usw. mit in den Rancho, der ja wenigstens Tier Tage und vier Nächte unseren ausschließlichen Aufenthaltsort bilden würde, hineinnehmen sollte.

Zur Erledigung dieser letzten Vorbereitungen gegen zwei Uhr nachmittags das heilige Haus betretend, war ich nicht wenig überrascht, mehrere Personen, Männer und Frauen mit ihren Siebensachen schon dort vorzufinden. An der Ausstattung des Rancho fehlte nichts mehr, selbst der Boden war mit einem Besen aus Buchenzweigen säuberlich gefegt, und in den eisernen Zylindern brannte schon ein lustiges Feuer. Ich fragte leise einen der Anwesenden, warum sie denn jetzt schon hier seien, da doch gegen Abend erst das Fest beginne. Darauf erhielt ich die Antwort: „Jawohl, aber man kann doch ein so schönes Fest nicht ohne weiteres beginnen, da muß man doch in Stimmung sein, und um die zu bekommen, sind wir schon hier und bereiten uns vor“. Die Sache mußte mich interessieren. Auffallend war schon der heilige Ernst gewesen, den diese schlichten Kinder der Urzeit bei Gelegenheit der Reparaturarbeiten am Rancho an den Tag legten. Das sie beherrschende Gefühl und Bewußtsein, daß es sich hier um etwas Außergewöhnliches und in irgendeinem Sinne Heiliges handele, trat uns dabei auf Schritt und Tritt entgegen. Und nicht nur einmal ergab sich die Veranlassung, einander daran zu erinnern, daß diese Urbewohner Feuerlands ihr heiliges Haus wohl mit viel mehr Eifer und innerer Anteilnahme errichteten, als wie so manche Europäer ihre Kirche.

Ich setzte mich unauffällig zu den im Rancho bereits an­wesenden Leuten und verhielt mich, wie die übrigen, ganz still. Nun konnte ich des näheren beobachten, wie die einzelnen, mit sich selbst beschäftigt, ohne Frage Gedanken und Empfindungen auf das bevorstehende hohe Fest zu konzentrieren suchten. Die Atmosphäre wie in einem Gotteshaus bei uns. Die für das Fest der Jugendweihe allgemein geltende Verhaltungsmaßregel: „Nur das Notwendige sprechen, und zwar mit leiser Stimme!" wird jetzt schon in voller Strenge eingehalten. Natürlich gilt das Gebot des Schweigens nicht in bezug auf die Gesänge, welche in dieses Haus hineingehören. Ja, die meisten dieser Gesänge singt und hört man überhaupt nur hier. Und so sind die frühzeitigen Teilnehmer auch jetzt schon dabei, sich die einzelnen Tschiechaus-Gesänge wieder ins Gedächtnis zurückzurufen. Von Zeit zu Zeit fängt dieser oder jener an, die Melodie irgendeines dieser Gesänge ganz leise (pianissimo) vor sich her zu singen. Das dient dann doppeltem Zweck. Einerseits üben sie die lange nicht mehr gesungenen Melodien wieder ein, andererseits kommt und wächst damit die Festesstimmung.

Im Laufe des Nachmittags kam ich noch öfter zurück. Immer wieder dasselbe Bild. Nur daß die Zahl der sich näher Vorbereitenden ständig weiter wuchs. Gegen fünf Uhr kamen auch die übrigen, die bislang noch verhindert gewesen waren, heran, und mit diesen zogen auch wir endgültig in das heilige Haus hinein.

Taf  5

taf 6

ERSTER ABEND IM  TSCHIECHAUS-RANCHO

Wie alle übrigen, so bekamen auch mein Kollege und ich einen bestimmten Platz angewiesen. Für meinen Kollegen war selbstverständlich, daß er seinen Platz bei der Familie seiner „Patin" Gertie erhielt, er gehörte ja bereits als deren „Adoptivsohn" dorthin. Daß Adelaide, Gerties Schwester, meine Patin werden sollte, war schon seit einigen Tagen ausgemachte Sache. Adelaide hatte diesen Wunsch geäußert, und bei dem Ansehen und der Beliebtheit, deren sie sich allgemein erfreute, war von keiner Seite Widerspruch dagegen erhoben worden. Mein Platz war damit natürlich auch bestimmt. Neben Santiago, dem Ge­mahl meiner zukünftigen Patin, hatte ich mich häuslich einzurichten. So ist es nämlich alte Yagansitte, daß Kandidat oder Kandidatin von vornherein den Platz dort angewiesen erhalten, wo sich die Patin befindet. Da Santiago dieses Mal als Festleiter fungierte, so genoß ich denn die Auszeichnung, direkt zu Füßen des Meisters zu sitzen bzw. zu liegen. Noch lebhaft steht der feierliche Gestus vor meinen Augen, mit dem Santiago mir den Platz zu seiner Rechten anwies. Mein Kollege saß mir schräg gegenüber, so daß eine gewisse Kommunikation - wenn für gewöhnlich auch nur mit Hilfe einer Augensprache - immerhin möglich war.

Doch sehen wir uns die Festteilnehmer, so wie sie gleich am ersten Abend anwesend waren und ihre bestimmten Plätze erhielten, etwas näher an. Das obenstehende Schema vermittelt ohne weiteres den wünschenswerten Überblick (Abb. 8). Die Zeich­nung gibt den Grundriß des heiligen Hauses wieder. Sitz bzw. Lagerplatz eines jeden ist kenntlich gemacht und mit dem Namen des Betreffenden beschriftet; a und b bedeuten die beiden früher schon genannten Eisenzylinder, die der Feuerung dienten; c kenn­zeichnet den Holzklotz, welcher nur der Ausfüllung halber zwischen die beiden Feuerherde gelegt wurde. Das geschah, um die nebenherlaufende Tanz- und Spielbahn d in ihrer ursprünglichen Gestalt zu erhalten, das sonst offene Feuer nimmt nämlich diesen ganzen mittleren Raum ein.

Durch den Haupteingang hereinkommend erblickt man zur linken Hand zunächst den alten gutmütigen Charlin (Taf. XIV b, links). Darauf folgt der ebenfalls betagte, seit fünfzehn Jahren bereits blinde Witsch (Taf. VIb), der Vater von Gertie und Adelaide, unserer Patinnen. Er gilt als Yekamuš (Medizinmann), und er lebt und stirbt für die alten Yagansitten. Sein Nachbar und Kollege ist der an Jahren auch schon reiche Mešemikens (Taf. XIb, rechts). Zwischen diesem und Santiago hatte dann der Schreiber dieser Zeilen seinen Platz. Santiago ist gut Fünfziger. Er kennt' die alten Sachen und betätigt sich gern darin, ohne im übrigen ein Mann von besonderer Intelligenz zu sein. Adelaide ist seine zweite Frau. Sie zählt etwa fünfunddreißig Jahre und hat alle Tugenden einer guten Yaganfrau, sie ist ruhig, verträglich, fleißig und begeistert für das Alte. Neben ihr sitzt ihre sechzehn Jahre zählende Tochter Elise (Taf XIII a, oben rechts). Weiter folgt endlich in der Reihe noch das auch schon betagte Ehepaar Mary (Taf. XVI b, dritte Person von rechts) und Richard (Taf. XIV b, rechts). Mary ist eine gute und bis auf den tiefsten Grund der Seele gediegene Person. Richard, eine stille, in sich gekehrte Natur und auch ein Yekamuš, paßt zu ihr. Beide sind mit Leib und Seele dabei, wenn es gilt, die schönen alten Gebräuche und Spiele wieder aufzufrischen.

Vom Haupteingang gerechnet die Reihe rechts beginnt mit dem dreißig Jahre alten Calderón. Zwischen ihm und dem gleichaltrigen Chris sitzt Gusinde. Calderón und Chris sind die intelligentesten Burschen, die der Yaganstamm heute noch aufzuweisen hat. Gertie, Chris' Gemahlin und die Patin meines Kollegen, nimmt unter allen Yaganfrauen geistig unzweifelhaft die erste Stelle ein. Auf sie folgt der noch junge (vielleicht fünfundzwanzig Jahre alte), gutwillige, aber sonst wenig bedeutende Manuel. Er ist der dritte Mann der Emilia, die ihrerseits sein doppeltes Alter hat. Dieser Familie zugesellt finden wir den Waisenknaben Kinas (Taf. XIIb, in der Mitte der unteren Reihe) und die etwa achtzehnjährige Alakalufin Julia (Taf. XXII b). An diese schließt sich noch an die Familie Walter, Vater, Frau und Sohn. Alle die Letztgenannten sind in keinem Sinne führend, sondern gute und brauchbare Mitläufer.

Als Kandidaten gelten, abgesehen von meinem Kollegen und mir, Manuel, Kinas, Walter Sohn, Julia und Elise. Daß Manuel und wir beide schon vorgerückten Alters sind, verschlägt nichts. Nach Anschauung und Brauch der Yagan kann die Jugendweihe, falls sie im rechten Alter aus, irgendeinem Grunde unterblieb, später immer noch nachgeholt werden.

Ist Santiago der aktive Leiter des Festes, so vertritt der ältere Mašemikens eine noch höhere Instanz, er gilt als der eigentliche „Herr des Hauses'. Auch das Amt eines Polizisten hat einer im Tschiechaus-Rancho zu versehen. Ihm liegt es ob, auf die äußere Ordnung zu schauen und besonders auch darauf zu achten, daß keine Unberufenen dem heiligen Hause zu nahe kommen. Der alte Thomas (Taf. XX a, die sechste erwachsene Person von rechts) sollte dieses Mal den Polizisten spielen. Derselbe war aber am ersten Abend noch nicht anwesend, und so blieb der Posten zeitweilig unbesetzt. Die Indianer sahen über diesen Formfehler um so eher hinweg, als eine Störung von außen bei den gegebenen Verhältnissen absolut aus­geschlossen war.

Als diensttuende Frauen (Reinhaltung des Hauses, Herbei­holen der Speisen usw.) walteten im besonderen Gertie und Adelaide ihres Amtes. Kandidaten und Kandidatinnen hatten ihnen dabei gelegentlich zu helfen. Das Essen für die Tschiechaus-Insassen wird draußen bereitet, die Frau des Calderón (Taf. XIIb, obere Reihe, zweite Person von links) und die des Mašemikens sind beauftragt, dieser Sache sich besonders anzunehmen. Alle diese Regelungen waren unter der Hand, wie von selbst, getroffen worden. Und wir staunten nicht wenig über den von Anfang an so gut funktionierenden Apparat. Gewiß ein gutes Zeichen dafür, welch uralte Traditionen hier lebendig und wirk­sam sind.

Die Zeit des Abendessens war mittlerweile gekommen. Die dienenden Frauen brachten die fertigen Speisen herein und stellten sie dem Festleiter Santiago zu Füßen. Dieser geht unverzüg­lich daran und verabreicht einem jeden die ihm zukommende Portion. Auch wir Kandidaten erhalten ein durchaus ansehnliches Quantum. Man weicht hier von der alten Strenge bewußterweise ab. Die Kandidaten erhielten früher täg­lich nur drei bis fünf Miesmuscheln (Abb. 9) zu essen und ein wenig Wasser zu trinken, das durch einen hohlen Vogelknochen zu schlürfen war. Dieses drakonische Fasten war besonders während drei ersten Tschiechaus-Tage zu beobachten. Da die gegen­wärtigen Kandidaten alle, wenigstens einmal, Tschiechaus schon mitgemacht hatten, so sah man von dieser Forderung ab. Bei uns, speziell bei mir, ließ man dieselbe Milde walten. Mein Kollege hatte direkt darum ersucht. Zwei Jahre zuvor nämlich, wo er alles in voller Strenge hatte durchmachen müssen, war er von der Hungerkur so mitgenommen worden, daß ihm ein inten­sives Denken und Aufzeichnungen zu machen nicht mehr möglich gewesen wäre, selbst wenn man ihm solches gestattet hätte. Dieses Mal wollten und konnten wir aber alles gleich schriftlich festlegen, und hierfür brauchten wir Kräfte und Frische des Geistes.

Kaum ist das erste Abendessen im Tschiechaus-Rancho eingenommen und sind die Geschirre wieder hinausgetragen, da beginnt ein geradezu wütendes Fegen des Hauses, wie gewöhnlich, mit Buchenreisern. Eine mächtige Staubwolke steigt empor, und eben erhasche ich noch ein verständnisvolles Augenblinzeln, das mein Kollege mir herübersendet.

Ob, Hygiene, verhülle dein Haupt! So schreibe ich mir die stille Verzweiflung vom Herzen in das Konzeptheft hinein. Denn schon genieße ich den Vorgeschmack der Staubmengen, welche wir die kommenden Tage im Dienste der Wissenschaft noch zu schlucken haben werden. Und als Calderón sofort nach dem Kehren hinging und den Boden mit Wasser besprengte, da hatte ich nur den einen Gedanken, wenn er das nächstens doch vor dem Kehren machen wollte!

Unterdessen hat Santiago mir die nötige äußere Tschiechaus-Ausrüstung hergestellt, den Tschiechaus­-Stab und den Tschiechaus-Kopfschmuck. Der Tschiechaus-Stab hat eine Länge von etwa sechzig Zenti­metern (Abb. 10; vgl. Taf. XII). Er wird, bevor der Verfertiger selbst oder irgendein anderer Teilnehmer ihn in Gebrauch nimmt, mit Strichen und Punkten bemalt. Unten läuft der Stab spitz zu, damit man ihn bequem in den Boden hineinstecken kann. Denn es ist darauf zu achten, daß er nicht irgendwo auf dem Boden herumliegt, auch darf er nicht fallen, denn das könnte Unheil, speziell für den Besitzer, herbeiführen. Statt ihn in den Boden zu stecken, darf man ihn auch irgendwo im Gerüst des Ranchos unterbringen. Bei Gesang und Tanz, vornehmlich aber dann, wenn eine rechte Begeisterung bei den­selben sich einzustellen beginnt, wird der Stab in die Hand genommen und im Takt, mehr oder weniger energisch, auf und ab geschwungen.

Der Kopfschmuck ist ein etwa zehn Zentimeter breiter Streifen, der einer Seemöwe aus der Bauchwand herausgeschnitten wird. Man legt denselben um den Kopf und bindet die beiden Enden rückwärts mittels einer Guanacosehne zusammen (Abb. 11; vgl: Taf. V b, VI a usw.). Die weißen Daunen werden natürlich nach außen getragen. Die Tschiechaus-Insassen halten sich mit dem Kopfschmuck fast ständig bedeckt. Er muß aber jedesmal abgelegt werden, wenn man einige Schritte hinaus­tun will.

Unterdessen wird der Gesang des Festleiters Santiago stets kräftiger und begeisterter. Ein Teil der Anwesenden singt bereits halblaut mit. Hier und dort hört man auch ein Schluchzen und Weinen. Man gedenkt der lieben Angehörigen, die zu früh dahingegangen sind und nun dieses schöne Fest nicht mehr mitfeiern können.

Auf einmal huschen zwei Frauengestalten, Mary und Frau Walter, durch den Rancho, seufzend und singend auf dem Ton des Tschiechaus-Gesanges, der nicht unterbrochen wird, und schlagen mit Buchenzweigen überall an das Gerüst des heiligen Hauses. Diese Zeremonie soll die bösen Geister vertreiben und bannen. Zu gleichem Zwecke schlagen bald darauf alle mehrere Male hintereinander mit ihren Tschiechaus-Stöcken an die Wände des Ranchos. Diese und weitere Erläuterungen erteilen uns von Zeit zu Zeit Chris und Calderón. Einiges erklärt mir hin und wieder auch der Festleiter Santiago.

Nun war endlich, zwischen acht und neun Uhr abends, die Stimmung so weit gediehen, daß mit dem Tanzen begonnen werden konnte. Santiago fängt an. Getragen von dem Rhythmus und der Begeisterung des Gesanges bewegt er sich langsam weiter, jedesmal um einen halben Schritt vor- oder rückwärts­gehend. Dabei wird der Tschiechaus-Stab mit beiden Händen in Brusthöhe gehalten und im sanften Takt ständig auf und ab bewegt. Es dauert nicht lange, da fordert Santiago den Chris und den Calderón zum Mittanzen auf. Diese folgen sofort und tanzen in derselben Weise hinter bzw. vor ihm her. Bald darauf schließen auch andere sich an, so daß schließlich acht bis zehn auf ein­mal tanzen. Dabei bleiben die Tanzenden das eine Mal auf den beiden Seiten der Feuerstelle und dann gehen die Reihen ein­fach vor- und rückwärts. Das andere Mal aber wird der Weg auch um die Feuerstelle herum genommen, und dann folgt alles sich im Kreise. Wird die Zahl der Tanzenden größer, dann tanzen die Reihen für gewöhnlich nur beiderseits der Feuerstelle  auf und ab.

Die verschiedenen Tschiechaus-Gesänge und die damit ver­bundenen Tänze wiederholen sich den ganzen Abend über immer wieder. Einzelne Male dauert der Tanz wohl an die zwanzig Minuten. Wer sich ermüdet und erschöpft fühlt, kann wieder auf seinen Platz zurücktreten und sich niedersetzen. Einzelne, die recht begeistert sind, tanzen, bis der Schweiß von der Stirne rinnt.

Von unseren Dolmetschern hören wir, daß dieses Tanzen zunächst einen praktischen Zweck verfolgt: es verschafft den Tag und Nacht im Rancho Hockenden immer wieder eine wohl tuende körperliche Bewegung. Der Grund leuchtet uns ein, denn das mit untergeschlagenen Beinen Auf-dem-Boden-Hocken läßt auch uns bald nach einer derartigen Abwechslung stark verlangen. Und so begrüßte ich es, nachdem die unvermeidlichen Anfangsschwierigkeiten überwunden waren, jedesmal dankbaren Herzens, wenn irgendein Tanzender zu einer neuen „Runde" freundlich einlud.

Aber das Tanzen hat heute auch noch einen anderen Zweck. Es soll helfen, die bösen Geister, zumal den schlimmsten Feind des heiligen Hauses, den bösen Erdteufel Yeteite, zu vertreiben und unschädlich zu machen. Weiter unten muß noch darüber Näheres berichtet werden. In diesem Zusammenhang sei nur noch erwähnt, daß einzelne in der Erregung und Begeisterung mit beiden

Fäusten auch kräftig auf den Boden schlugen. Und das galt ebenfalls dem schlimmen Yeteite.

Schon vor Beginn des Abendessens zeigten einige der Anwesenden das Gesicht weiß bemalt. Will der Yagan malen, so legt er den Farbstoff in die Hand oder in eine Muschelschale (Abb. 12), spuckt gründlich darauf oder gießt auch ein wenig Wasser dazu und mischt dann die Farbe. Mit dem Finger oder auch mit einem Stäbchen werden darauf dem Nachbar die ge­wünschten Muster beigebracht (Taf. XIb). Heute, wo einzelne im Besitz eines Taschenspiegels sind, vermögen sie gegebenenfalls auch sich selber zu helfen.

Im Laufe des ersten Abends gingen mehrere noch dazu über, Kopf, Hände, Arme und Beine bis zur Ellenbogen- bzw. Kniehöhe weißzuwaschen. Zu diesem Behufe nehmen sie den Mund voll Wasser und spucken es dann spritzend in die mit weißem Farbstoff angefüllten Hände. Mit der Mischung fahren sie sich dann schnell durch das Gesicht und gegebenenfalls auch über Arme und Beine. In einigen Minuten ist die Farbe trocken, und der Betreffende schaut drein wie ein aus dem Jenseits stammendes Wesen. Der geister- und gespensterhafte Anblick macht einen das erstemal fast erschrecken. Aber, wie an so manches andere, war man auch hieran bald gewöhnt.

Einmal, auf dem Gipfelpunkt hoher Begeisterung, ergreift Santiago ein Stück Holzkohle, zerreibt sie in der Hand und färbt sich das eben noch schneeweiße Gesicht rabenschwarz damit ein. Damit nicht genug. Dieselbe Tätigkeit setzt er fort bei meinem rechten Nachbarn, dem alten Mašemikens. Ich war schon darauf gefaßt, daß er auch mein Gesicht in die Kur nehmen würde. Das geschah aber am ersten Abend noch nicht. Wie immer, so vollziehen auch hierbei alle Verrichtungen sich nach Takt und Rhythmus des Gesanges, der gerade im Gange ist.

Geht ein Gesang zu Ende, dann ruft der Vorsänger etwa
Ho-ho! ... he-he!
Alle stimmen dann ein und wiederholen diese oder ähnliche Rufe noch einige weitere Male. Darauf herrscht einige Zeit Ruhe, bis ein neuer Tschiechaus-Gesang angestimmt wird. Nachdem Santiago schon mehrere Male den Vorsänger gespielt hatte, lösten Richard und später auch der alte Witsch ihn ab. Natür­lich blieb Santiago trotzdem nach wie vor der eigentliche Festleiter.

Die Nacht ist schon vorgerückt, die. Uhr zeigt bereits elf. Aber von einer . Ermüdung oder von einem Bedürfnis aufzuhören und der Ruhe zu pflegen, zeigt sich noch keine Spur.

Das ungewohnte Hocken und Sitzen bereitete mir gerade am ersten Abend noch etliche Schwierigkeiten. In aller Ergebenheit bedeute ich dem Festleiter, daß ich einmal einen Sprung hinaus­machen möchte. Ein freundliches „Allright!" war die Antwort. Die wenigen Minuten draußen benutzte ich, um wieder einmal tief die frische Feuerlandluft zu atmen und um die steif gewordenen Glieder ein wenig zu recken und zu strecken.

Das Singen und Tanzen hörte nicht auf bis zwölfeinhalb Uhr nachts. Ich bekenne, das Schlußkommando des Festleiters klang mir nicht unangenehm in die Ohren. Es bedeutete gleich zeitig die Aufforderung zu einem letzten kurzen, allgemeinen Tanz. Jeder warf ein Fell oder eine Decke über, die Schultern, und in diesem Aufzuge tänzelten wir alle zwei bis drei Minuten lang auf und ab. Dann war Schluß. Jeder legt und streckt sich auf seinem Platz. Ich schlafe die erste Nacht - so wie mein Kollege es schon früher getan - im engsten Zusammensein mit den Yagan, um eben auch ganz einer der ihrigen zu werden.

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ZWEITER TAG IN TSCHIECHAUS-RANCHO

a) Der Tag bis zum Abendessen

Wie schon die obige Zeichnung (S. 51) erkennen läßt, beherbergte das heilige Haus gleich am ersten Abend und in der ersten Nacht nicht weniger als zwanzig erwachsene Personen, drei kleine Kinder gar nicht mitgerechnet. Auf der Westseite lagerten neun und auf der Ostseite elf. Da die Länge des Rancho genau elf Meter beträgt, so hat also jeder mit einem Meter aus­zukommen. Ein Glück, daß die Yagan klein (Pygmoiden) sind, aber über einen Meter gehen sie doch alle um ein gutes Stück, manche Männer um die sechzig Zentimeter hinaus. An ein Quer­liegen war nicht zu denken, da die Lagerstatt dafür viel zu schmal ist. Es muß also auf einem anderen Wege Abhilfe geschaffen werden. Die Yagan haben sie darin gefunden, daß die einzelnen streng dazu angehalten werden, im heiligen Hause nur mit angezogenen Beinen zu schlafen. Das müssen besonders die Kandidaten und Kandidatinnen lernen, und des Nachts sind wachhabende Personen da, welche jene, die im Schlafe etwa ihre unteren Extremitäten wieder ausstrecken, zum Zurückziehen derselben veranlassen. So war es vor zwei Jahren noch, als Gusinde zum ersten Male die Jugendweihe miterlebte, gehalten worden. Das in dieser Hinsicht mildere Regime Santiagos stellte diese Wache allerdings nicht auf. Aber erwartet wurde doch, daß jeder seine Beine so weit einziehe als möglich. Und dazu zwang j a auch ohne weiteres die Not der Umstände.

Ich tat mein Bestes. Aber ich fand bald, daß es nicht so leicht ist, seine Körperlänge von 1,72 Meter auf einen Meter zu verkürzen. Abgesehen von den Beschwerden, welche diese ungewohnte Lage uns Europäern bereitete. Oben und unten ge­reichte ich zum Anstoß. Oben lagen Santiago und ich uns im buchstäblichen Sinne des Wortes in den Haaren, unsere Köpfe stießen aneinander. Unten wollte der kleine alte Mašemikens nicht gerne unsanft von mir behandelt sein. Im Laufe der Nacht fand ich schließlich keinen anderen Ausweg mehr, als die Beine in das freie Innere des Rancho auszustrecken. Auch diese Lage

war nicht sonderlich bequem, aber ein starkes Ruhebedürfnis sorgte doch für einen leidlichen Schlaf. Mehrere Male freilich wache ich auf und bemerke, wie das Feuer schließlich fast ganz erloschen ist. Es wird kühl und man muß sich sorgfältiger zu. decken. Draußen bläst ein kräftiger Wind, und geheimnisvoll rauscht es durch Blätter und Zweige des Navarinurwaldes.

Gegen fünf Uhr früh werde ich aufgeweckt durch ein leises Hantieren am Feuerherd. Adelaide und Gertie sind schon auf den Beinen, und wie immer, so ist auch dieses Mal für sie, als echte Feuerländerinnen, die erste Sorge das Feuer. Sonst aber liegt noch alles sanft von Morpheus Armen umschlungen. Diese Herrlichkeit dauerte aber nicht lange mehr. Sobald das Feuer wieder lustig knisterte und eine behagliche Wärme zu verbreiten begann, donnerte Santiagos Stimme durch den Rancho. Das junge Volk mußte zunächst heraus, die Alten konnten noch liegen bleiben. Mein Kollege und ich ließen natürlich nicht auf uns warten, sondern richteten uns sogleich empor. Das gefiel offenbar dem Festleiter Santiago, und so flüsterte er mir ins Ohr: „Du kannst jetzt hinausgehen und dein Gesicht waschen, wenn du willst!" Natürlich wollte ich das. Draußen floß ein kleiner Bach, und an seinem Ufer machten wir unsere Morgentoilette.

Als wir zurückkamen, hatten auch die meisten Alten sich schon erhoben. Und nicht lange währte es, da war auch das Frühstück bereit. Eine Schale schwarzen Kaffees und ein Stück in Hammelfett gebackenen, steinharten und bleischweren Brotes ließen wir uns munden, so, wie eben alles mundet, wenn der Appetit nicht fehlt.

Gegen sieben Uhr geht das Malen wieder an. Die Kandi­daten und Kandidatinnen werden zuerst vorgenommen. Ich sehe, wie Emilia dem Kandidaten Ginas vor mir eine Reihe roter Striche senkrecht über die Wange zieht. Noch bin ich dabei, mir das Muster schriftlich zu fixieren, da sitzt mein Santiago auch schon vor mir, um mir denselben Liebesdienst zu erweisen. Ich bekomme zwei rote Striche in der Höhe der Nasenflügel quer über die Wangen gezogen. Dieselbe Prozedur vollzieht gleich darauf Chris an meinem Kollegen.

Es ist ungefähr acht Uhr, da erfolgt die Weisung, daß wir Kandidaten mit mehreren alten Männern hinausgehen; um den Rancho der Kochjungfern aufbauen zu helfen. Ein günstiger Platz dafür ist in einer Entfernung von etwa zwanzig Schritt vom großen Tschiechaus-Rancho bald gefunden. Es werden zu­nächst dreißig bis vierzig drei bis vier Meter lange Stangen zu­sammengesucht und, soweit nötig, von den Zweigen befreit und zurechtgeschlagen. Santiago baut dann eine Hütte daraus, ganz im Kegelformstil der gewöhnlichen Yaganbehausungen. Dieses Gerüst wurde darauf mit Zweigen und (an Stelle der früheren Felle) mit „Kulturlumpen" gedeckt, und so stand das Kochhaus schon fertig da.

Die früher (S. 53) schon erwähnten Frauen, die dieses Mal das Kochen für die Tschiechaus-Insassen zu besorgen hatten, nahmen bald darauf Besitz von dem für sie bestimmten Quartier. Sie hatten dort künftig nicht nur zu kochen und zu verweilen, sondern mußten auch die Nächte darin verbringen.

Auch bei der Arbeit, die wir da im Freien zu verrichten hatten, galt als selbstverständlich die allgemeine Tschiechaus-Regel : Nur das Notwendige sprechen, und zwar mit leiser Stimme. Nicht wenig erbaute uns auch hier die Folgsamkeit, mit der jedem Wink des Festleiters Santiago pariert wurde. Selbst Calderón, der doch einige Tage zuvor mit dem jetzigen Herrn und Gebieter noch in arger Fehde gelegen, folgte in allem wie ein Lamm. Als ich ihm bemerkte, es herrsche aber eine stramme Disziplin im Tschiechaus, da erwiderte er: „Ja, das war immer so bei uns, im Tschiechaus wird unbedingt gehorcht."

Kaum haben wir unsere alten Plätze im Tschiechaus-Rancho wieder eingenommen, da gehen die meisten Männer und Frauen daran, sich Gesicht, Arme und Beine bis zur Ellen bogen- bzw. Kniehöhe weißzumachen. Die Methode ist die oben (S. 58) schon beschriebene. Nur wird heute die Sache noch mit. mehr Sorgfalt vorgenommen. So stellen einzelne sich nahe an das Feuer, um dort die Farbe schnell und gut trocknen zu lassen. Tatsächlich ist der Effekt, daß sie bald schon weiß sind wie der Schnee. Mehrere ziehen nun über den schönen weißen Grund des Gesichtes noch einige rote Querstriche, entweder in der Höhe des Mundes oder der Nasenflügel, oder auch in Augenhöhe. Während aller dieser Manipulationen ertönen bereits auch die üblichen Tschiechaus-Gesänge wieder durch das heilige Haus. Die Begeisterung ist jedoch noch mäßig, und zu einem Tanzen kommt es vor dem Mittagessen nicht. Schon zwischen zehn und elf Uhr wird dasselbe eingenommen. Zuvor gibt's wieder ein tüchtiges Reinemachen. Dieses Mal besprengt Calderón den Boden vorher schon mit Wasser; die verständigen diensttuenden Frauen hatten ihm eine entsprechende Belehrung gesteckt.

Ein Glück, daß auch diese Naturkinder schließlich ein Ruhebedürfnis überkommt. Nach dem Mittagmahl übergeben sich alle (die Festleitung miteingeschlossen) Morpheus' Armen. Da

ließen natürlich auch wir nicht lange auf uns warten. Denn die nur vierstündige Nachtruhe zog auch noch an unseren Augen­lidern.

Auf einmal, es ist zwei Uhr geworden, wird mein Nebenmann Santiago mobil. Er ruft durch das heilige Haus und erinnert an Tschiechaus, Tschiechaus! Sofort sitzen alle auf recht da, und bald schon gibt ein begeisterter Gesang Zeugnis davon, wie sie wieder bei der Sache sind.

Zufolge so mancher Berührung mit der Zivilisation hat sich einiges in Tschiechaus hineingeschlichen, das ursprünglich natur­gemäß nicht hineingehört. Anfangs besonders mutete es einem eigentümlich an, zu sehen, wie einzelne sich von Zeit zu Zeit eine Zigarette drehten und sie dann in aller Gemütsruhe rauchten. Schon zwei Jahre zuvor hatte Gusinde darauf auf­merksam gemacht, daß dieses aber ursprünglich doch nicht so gewesen sei. Darauf antworteten ihm die Alten: „Ja, freilich, früher war das nicht, aber wir können es ja erlauben." Eine gewisse ;,Freiheit des Geistes" wird man den Urmenschen von Feuerland bei aller Treue und Strenge, mit der sie sonst am Alten festzuhalten trachten, nicht absprechen können.

Das kommt auch immer wieder zum Ausdruck, wenn irgend­eine komische oder lustige Situation zum Lachen reizt. Für der­artige Abwechslungen sorgte besonders der kleine etwa eineinhalb Jahre alte Jos6, der Sohn der Alakalufin Julia. Hin und wieder glückt es ihm, der Mutter zu entweichen, und dann stellt er seine drolligen Rundgänge an. In diesen und in anderen ähn­lichen Fällen auch genießen die beim Feste der Jugendweihe sonst so gestrengen Alten frohen Gemütes die Lust des Augen­blickes, trotz der Heiligkeit des Ortes. Aber das dauert stets nur kurze Zeit. Sehr bald finden sie sich zurück, und zu irgend­einer Ausgelassenheit sahen wir es niemals kommen.

Gegen vier Uhr nachmittags tanzt Adelaide plötzlich mit der Weinkanne durch den Rancho und schwingt sie freudig auf und ab. Das bedeutet den Ausdruck des Dankes, den sie und alle uns gegenüber auch darüber empfinden, daß wir die Festesfreude durch einen guten Tropfen erhöhen wollen. Auch die vor­wiegend europäische und bessere Nahrung, welche die Indianer an diesen Tagen von uns gestellt Abwechslung sehr zu. Und schon am ersten Abend äußerte Calderón sich in diesem Sinne uns gegen­über, alle seien deswegen auch voll des Dankes gegen uns. Nicht lange darauf kamen Julia und Elise und tanzten in derselben Weise mit einem Binsenkörbchen voll Beeren durch den Rancho. Die Beeren sind eßbar, haben aber nur wenig Zucker und daher einen herben Geschmack, die schwache Feuer­landsonne bringt nichts Besseres mehr zustande.

Es währt nicht lange, da tanzt auch die gute alte Mary herein und schwingt ein Stück Seehundsdarm, mit Seehundstran angefüllt, durch die Luft (Abb. 13). Mein Kollege weiß schon, was passieren wird, und ich verstehe ohne weiteres sein Schmunzeln und Augen­blinzeln. Guten Appetit auf den Seehundstran! Richtig, es werden Tassen oder ähnliche Gefäße ausgeteilt und jeder be­kommt sein Fett und seine Beeren. Mit wahrem Behagen essen unsere Yagan die in den Tran ,eingetauchten Beeren. Ja, sie schlürfen den Tran auch so herunter. Ich versuche es auch und tue mit, bis sie zufrieden sind. Dann aber mache ich's wie Herr Brian bei den Eskimos, den Antipoden der Yagan: „Sie setzten mir den Trankkrug her, ich ließ ihn aber stehen

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b) Der Abend des zweiten Tages

Der zweite Tschikhaus-Abend machte uns näher mit dem bösen Erdteufel Yeteite bekannt. Wie Chris erklärte, diene neben Gesang und Tanz besonders auch die beim Tanz ausgeführte Hand- und Armbewegung dazu, die bösen Geister in die Erde zurückzubannen und sie so vom Kommen und Belästigen der im Tschiechaus Versammelten abzuhalten. Ja, sie glauben, den Erzbösewicht, den Yeteite, vollständig unschädlich machen und umbringen zu können. Den Tod des Yeteite sollte es bedeuten, als der Festleiter Santiago sich flach auf den Boden legte und, beide Hände senkrecht an die Wangen haltend, fürchterlich die Erde anbrüllte.

Nun ist Yeteite tot. Das stimmt wohl zur Freude, wie Chris mir weiter auseinander setzte, aber sie hüten sich doch, das den (erstmaligen) Kandidaten zu sagen, die müssen sich weiter vor Yeteite fürchten. Nach wie vor wird ihnen gedroht, daß Yeteite sie holt, d. h. sie früh sterben macht, wenn sie Uneingeweihten verraten, was im Tschiechaus vorgeht, oder wenn sie nicht treu befolgen, was ihnen hier beigebracht wird.

Ja, um der Sache noch mehr Nachdruck zu verleihen, ließen sie früher den Yeteite in Person erscheinen. Das geschah in der folgenden Weise. Hinter einem rückwärts im Rancho an gebrachten Vorhang wurde einer der Männer in einer recht phantastischen Weise bemalt, besonders Gesicht, Brust und Schultern erglänzten in den bekannten Feuerlandfarben. Der Betreffende wird eben so gemalt, wie die Yekamuš ~(Zauber)doktoren vorgeben, den Yeteite schon gesehen zu haben. Nun fängt auf einmal dieser „Teufel" hinter dem Vorhang zu heulen und zu brüllen an. Die Kandidaten werden unter Zittern und Zagen  näher geführt: sie glauben, dem wirklichen Yeteite gegenübertreten zu müssen. Das dauert einige Zeit, bis der Festleiter das Inkognito des vermeintlichen Teufels lüftet und den Kandidaten sagt: „Seht genau zu, wer das ist. Das ist der N. N. und nicht der Yeteite. Aber merkt euch wohl, der wirkliche Teufel ist noch viel, viel schlimmer. Also hütet euch davor, ihm in die Hände zu fallen. Und vor dem Übel bewahrt euch die Hütung des Tschiechaus-Geheimnisses und die treue Beachtung der hier erhaltenen Vorschriften."

Die ganze Teufelszeremonie dieses Mal vorzunehmen, dazu zeigten die Männer wenig Lust. Und das fanden wir verständlich, weil, abgesehen von mir, keine Neulinge anwesend waren. Sie fühlten, die Sache zieht unter diesen Umständen nicht, und so bestanden wir denn auch nicht darauf. Eine dringende Notwendigkeit lag ja auch deshalb nicht mehr vor, weil Gusinde seinerzeit alles schon gesehen und miterlebt hatte.

Eine weitere Überraschung bereiteten uns an diesem Abende unsere Freunde mit der Vorführung verschiedener T a n z s p i e 1 e. Dieselben gehören zum Tschiechaus und bilden besonders die Unterhaltung der langen Abende. Jedes Tanzspiel ist nach einem bestimmten Tier benannt. So gibt es einen A m a k e l (Ama = Seehund, kel = Gesang, also Ama-kel heißt Seehunds-Gesang), einen Karapu - k e l (Karapu = bestimmter Seevogel, also Karapukel - Karapu-Gesang) usw. Jedes Tanzspiel hat seine bestimmte Melodie. Beim vom Gesang begleiteten Tanz wird nun das betreffende Tier in seinem Leben und Treiben, in seiner Stimme, in seinem Fressen, Liebeswerben usw. mit wunder­barer Naturtreue nachgeahmt. In der Tat, hier fehlte nichts an einer in ihrer Art künstlerischen Vollendung, und ich hätte es mir wirklich nicht träumen lassen, daß uns in dieser elenden Indianerhütte auf Feuerland so hohe ästhetische Genüsse ge­boten werden sollten. Es versteht sich, daß auch die Yagan selber diese Tanzspiele entsprechend schätzen und lieben. Wie leuchteten die Augen, als auf einmal der Festleiter die Melodie des ersten dieser Tanzspiele, des Ama-kel (Seehunds-Gesang), anstimmte.

Wie bei allen Gesängen, so wird auch bei diesen zunächst nur ganz leise angefangen. Allmählich gewinnt der Gesang an Stärke. Damit steigt auch die Begeisterung. Hat dieselbe eine gewisse Höhe erreicht, dann springt einer der Männer auf und wackelt in hockender Stellung, immer im Rhythmus des Ge­sanges, hin und her, auf und ab. Bald folgen andere nach. Sie schnüffeln links und rechts, kratzen sich auch die Brust und unter den Armen, grunzen (das heisere Bellen des Seehundes nachahmend) sich von Zeit zu Zeit gegenseitig an, alles in einer so charakteristischen Weise, daß man staunt, wie genau eine jede Einzelheit der Natur abgeschaut und abgelauscht ist. Nun wackeln auch einige Frauen heran und treiben dasselbe Spiel. Es dauert nicht lange, da grunzen Männlein und Weiblein sich freundlich an. Einige Frauen hatten es dabei besonders auf ihre eigenen Männer abgesehen, und diese versuchten entsprechend heimzuzahlen. Hat das Spiel so eine Zeitlang hin- und her­gegangen, dann kommt eine Frau (dieses Mal war es die Gertie) hervor und gibt mit einem Stück Fell (oder Tuck) einem jeden Teilnehmer einen leichten Schlag an den Kopf. Darauf fallen alle „Seehunde" wie tot zu Boden. Dieselbe Frau aber erbarmt sich bald und gibt allen, die am Boden liegen, einen Schluck Wassers zu trinken (Taf. XIII b). Das macht die „Toten" wieder lebendig, und vergnügt strebt jeder zu seinem Platz zurück; der Ama-kel ist damit zu Ende.

Das zweite Spiel dieser Art war der K a r a p u k e 1 (Karapu ist ein Seevogel). Zu Anfang hört man wieder nur ganz leise die bezügliche Melodie. Im gegebenen Augenblick stehen einige

Männer auf, und bei langsamem Voranschreiten heben und senken sie ihre Arme, wieder in köstlicher Naturtreue den Flug des .Karapu imitierend. Bald schließen auch andere, Männer und Frauen, sich an. Von Zeit zu Zeit unterbricht der charakte­ristische Ruf dieses Vogels den Gesang. Endlich fassen sich alle bei den Händen und schreiten langsam um das Feuer herum. Auf einmal hocken sämtliche „Karps" auf dem Boden, dabei ein Schreien und Flügelschlagen, daß man glaubt, wirklich eine Schar dieser Tiere niedergehen zu sehen bzw. zu hören.

Zuletzt erfreuten sie     uns noch mit dem          K a t ö l l a - k e l (Katölla = ein Aasgeier). Abgesehen von der natürlich eigenen Melodie bestand hier das Besondere noch darin, daß die Teilnehmer ständig in hockender Stellung den Vogel in seinem wackeligen Gange nachahmten und dabei wiederum eine wunder­bare Elastizität an den Tag legten. Weiterhin fordert dieses Spiel, daß einzelne ein Stück Fleisch oder sonst Essbares in den Mund nehmen und mit den Zähnen halten, was die anderen diesen dann mit dem Munde zu entreißen trachten müssen. Dabei gibt's öfters drollige Szenen. Das Ganze aber ist wieder der Natur trefflich abgeschaut. Ebenso der diesem Vogel charakteristische Ruf, sowie sein Scharren auf dem Boden. Ist es gelungen, die im Munde gehaltene Nahrung sich gegenseitig das eine oder andere Mal abzujagen, dann endet bald das Spiel.

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DRITTER TAG IM  TSCHIECHAUS-RANCHO

Am Abend des zweiten Tages hatten wir uns um elf Uhr bereits zum Schlafen niederlegen können. Der Festleiter war so liebenswürdig, am nächsten Morgen alle bis gegen sechs Uhr ruhen zu lassen.

Allerdings schon ab ½ 5 Uhr war von einem eigentlichen Schlafen kaum noch die Rede. Denn seit dieser Zeit war es im nahen Kochrancho schon lebendig geworden, und ohne Unterlaß erklang von dort ein lautes und scharfes Singen, als dessen Urheberin wir bald die Frau Mašemikens erkannten. Bis un­gefähr acht Uhr setzte sie den monotonen Gesang noch weiter fort. Gut drei Stunden also hatte sie ihr Organ mächtig angestrengt und uns nicht wenig „entzückt".

Die Indianer, welche wir fragten, was dieses Singen am frühen Morgen zu bedeuten habe, antworteten: „Die Frau Mašemikens ist Yekamuš (Zauberdoktorin) und hat heute nacht sicher etwas Besonderes geträumt!" In der Tat, dem entsprachen die im Laufe des Tages erhaltenen näheren Aufklärungen. Frau Mašemikens hatte im Traume uns alle in die Kanus steigen und gegen Osten fahren sehen. Durch ihr Singen glaubte sie, unsere Köšpiks (Seelen) wieder heimholen zu können. Gegen acht Uhr früh ging die übliche Malerei wieder los. Alle waren darauf bedacht, zum Unterschied von den beiden vorher­gehenden Tagen nach Möglichkeit neue Farben und neue Muster in Anwendung zu bringen. Mein Kollege und ich erhielten wiederum einen Querstrich über beide Wangen, aber dieses Mal nicht in roter, sondern in schwarzer Farbe.

Die Feststimmung hatte bereits derart von den Leuten Besitz ergriffen, daß eine Stunde später nicht nur das Singen, sondern auch das Tanzen schon wieder in vollem Gange war. In den Zwischenpausen setzten sich an diesem Tage die Männer öfters zu einer leise geführten Beratung im vorderen Teil des Ranchos zusammen. Der Gegenstand dieser Verhandlungen war das bevorstehende Kinafest. Da seine letzte Begehung mehr als dreißig Jahre zurücklag, so empfanden die alten Männer begreiflicherweise das Bedürfnis, vorher alles wieder gründlich durchzusprechen. Die jüngeren Männer hörten aufmerksam zu, denn auch sie kannten Kina bisher ja nur vom Hörensagen. Natürlich störten wir sie bei diesen stillen Verhandlungen nicht, denn je besser die Vorbereitung, desto treuer würden sie uns demnächst das Kinafest vorführen können.

Auf einmal schüttelt die Mitglieder dieser kleinen Rats­versammlung ein heftiges Lachen. Wir erhalten bald die Auf­klärung. Der alte Witsch erzählt von der ersten Kinafeier, die er mitgemacht. Bei der Gelegenheit wären die Neulinge einzeln vorgenommen und ihnen zum Schein der Magen herausgeholt worden. Wie er nun gesehen, daß ein Maskierter solches auch seinem besten Freunde antun wollte, da hätte er im Glauben, es sei nicht bloß Schein, sondern Wirklichkeit, in der Erregung zu seiner Harpune gegriffen, um den Manipulierenden nieder­zustoßen und seinen Freund zu befreien. Davon hätten ihn aber seine älteren Kameraden zurückgehalten und gewarnt, er solle sich hüten, jetzt ein wirkliches Unheil anzurichten. Und bald habe er dann selber auch gefunden, daß das Magenausnehmen nur ein Scheinmanöver sei. Ja schließlich habe er in dem Operateur seinen eigenen Onkel wiedererkannt.

In einer anderen Zwischenpause führte der alte Witsch im Kreise dieser Männer abermals das Wort. Wir verstanden so­viel, daß er die Weißen, und speziell uns beide, durch die Zähne zog. Als wir unsere Hauptdolmetscher Calderón und Chris be­fragten, was der Alte denn gesagt habe, da waren sie erst ein wenig verlegen um eine Antwort. Aber dazu erzogen, uns immer alles und immer die Wahrheit zu sagen, rückten sie doch bald mit der Geschichte heraus. Dem alten blinden Witsch war auf einmal eine Abneigung gegen uns als Teilnehmer an der ge­heimen Jugendweihe aufgestiegen. Es sei früher mit Tschiechaus, wo niemals Weiße daran teilnehmen konnten, doch stets schöner gewesen. Und er möchte es am liebsten sehen, wir gingen wieder dorthin, woher wir gekommen, u. dgl. m. Wahrhaftig, wir konnten das dem Alten nicht verdenken. Aber im Interesse der Er­reichung unserer Ziele erinnerte mein Kollege doch noch ein­mal daran, was er ihnen Gutes tun könne und wolle, wenn wir auch weiter volles Vertrauen genössen. Später stellten wir übrigens fest, daß auch beim alten Witsch diese Anwandlung nur eine vorübergehende gewesen war. Bei der Schlußfeier, bei der wir endgültig Stammesmitglieder wurden, freute sich und weinte keiner mehr als dieser 'biedere Alte. Unsere beiden Patinnen Gertie und Adelaide waren ja auch seine Töchter, und wir hatten ihn künftighin „Großvater" zu nennen.

Nach dem Mittagessen soll eine Bewegung im Freien statt­finden. Das Bedürfnis dafür empfinden auch unsere Yagan. Wir aber gewiß noch mehr. Den ganzen lieben langen Tag auf dem Boden sitzen, davon fühlt sich besonders ein gewisser Körper­teil allmählich sehr bedrückt. Draußen scheint, wie durchgehends in den letzten Tagen, eine schöne Sonne. So freute ich mich, wie selten, auf einen kleinen Ausflug in den Wald hinein. Diese Rechnung war zunächst aber ohne den Festleiter Santiago ge­macht. Als ich einige Minuten nach dem Mittagessen leise fragte „Wie steht's denn mit dem geplanten Spaziergang?", da gab er mir die lakonische Antwort: „Wait a little bit!" (Warte eine kleine Weile!) Der Zeitpunkt für meine Frage war recht ungünstig gewählt gewesen. Santiago war schon dabei, sich im stillen noch auf einen Gesang vorzubereiten. Vorbereitung, Gesang und Tanz nahmen noch eine volle Stunde in Anspruch. Dann erst war dis „kleine Weile" vorüber, und die ersehnte Wanderung konnte angetreten werden.

Das ging aber nun keineswegs plan- und ziellos vonstatten. Im besonderen wurde dafür gesorgt, daß Kandidaten und Kandidatinnen jedesmal eine entsprechende Begleitung erhielten. Ferner wurde von allen erwartet, daß sie sich irgendwie nützlich be­tätigten, vor allem Nahrungsmittel mit nach Hause brächten. So wur­den vier Indianerboote flott gemacht, Männer und Frauen, Kandidaten und Kandidatinnen stiegen hinein. Eine Gruppe fuhr ostwärts, um Pinguine und Seevögel zu schießen (für Patronen hatten wir gesorgt, und einige alte Flinten fanden sich an Ort und Stelle). Die anderen ruderten westwärts, ihre Absicht war, Muscheln zu sammeln und Krebse zu speeren. Mein Kollege und ich hatten uns dem Festleiter Santiago und seiner Gemahlin Adelaide anzuschließen. Wir hielten uns in der Nähe des Strandes und gingen etwa zwanzig Minuten weit in nordöstlicher Richtung. Auch jetzt bleibt das Sprechen auf das Notwendige beschränkt.

Adelaide hat zwei Binsenkörbchen mitgenommen (Abb. 14). Sobald wir im Bereiche der reifen Beeren angelangt sind, da gibt sie mir eines derselben und bedeutet uns, Beeren zu pflücken, damit wir nachher nicht mit leeren Händen nach Hause kommen. Natürlich helfen wir beide gerne Beeren pflücken, so daß Adelaide schließlich ein ansehnliches Quantum heimwärts tragen kann. Unterdessen versuchte auch Santiago mit einer altkalibrigen Flinte etwas zu treffen. Geschossen hat er, bis die Patronen,  die wir ihm zur Verfügung gestellt hatten, alle waren. Aber weder ihm noch sonst jemandem war schließlich dabei ein Leid geschehen. Der Meister im Tschiechaus war kein Meister in der Handhabung eines Schießgewehrs.

Zwischen zwei und drei Uhr fand sich nach und nach alles wieder im heiligen Hause zusammen. Und alle hatten etwas, einzelne sogar viel mitgebracht. Es gab Pinguine, Fische, Krebse, Muscheln und Beeren in ansehnlicher Fülle. Das bedeutete eine willkommene Entlastung des Proviantvorrates, den wir beigestellt hatten. Denn die große Zahl der Esser hatte denselben schon merklich zusammenschrumpfen lassen.

Der oben schon genannte alte blinde Witsch erheischte im Laufe des Nachmittags noch einmal unsere besondere Auf­merksamkeit. Wir sahen, wie er seine sechzehnjährige Enkelin Elise rücklings vor sich sitzen hatte und ihr mit der einen Hand über Nacken und Rücken fuhr, als wollte er ihr etwas wieder zurechtsetzen oder wieder eindrücken. Die andere Hand hielt er in der Gegend des eigenen Magens. Unartikulierte Laute, auch ein Seufzen und Zischen, waren bei der ganzen Prozedur ver­nehmbar. Wie uns erklärt wurde, wollte Witsch mit dieser Manipulation seiner Enkelin den Köšpik (Seele) wieder zurück­rufen, den, wie er meinte, sein alter Widersacher, der einhändige Ašikantschis, auf irgendeine Weise fortgezaubert hatte. Der alte Ašikantschis war am Abend zuvor erst von einer längeren Tour in Puerto Mejillones wieder eingetroffen und stellte bald auch im Tschiechaus-Rancho sich ein.

Die einzige Art der Tatauierung (Taf. XIII a), welche die Yagan früher kannten, wurde den männlichen Kandidaten bei Ge­legenheit der Jugendweihe beigebracht. Sie bestand in drei Linien, die von einem Arm zum anderen quer über die Brust gezogen wurden. Man machte etwa einen Zentimeter lange Einschnitte und fügte dann roten Farbstoff hinein. Gegen Ende der ersten Tschiechaus­-Feier, welche die Knaben erlebten, wurde diese Tatauierung vorgenommen. Nach einer anderen Version mußten die Knaben vorher ein kaltes Bad nehmen, die einzelnen Bäder auf ver­schiedene Nächte verteilt. Nach einem jeden Bade dann sei eine Linie eintatauiert worden, bis die drei Linien vollständig waren. Die auf Einfluß der Mission zurückgehende europäische Kleidung scheint das Tatauieren schon bald in Verfall geraten lassen zu haben. In bezug auf die Tatsache waren alle einig, aber nicht mehr hinsichtlich des Zeitpunktes. Mehrere Male bei Nacht unter Aufsicht älterer Frauen in der kalten See zu baden war übrigens auch eine für die Mädchen geltende Forderung gewesen. Daß die Kandidatinnen dieses Mal, wie überhaupt in den letzten Jahren, dazu nicht strenge mehr verhalten wurden, darin er­blickten mehrere Frauen schon einen argen Zerfall der guten alten Sitte, und besonders Gertie klagte uns öfters darüber.

Den weiteren Nachmittag und Abend füllten Gesang und Tanz in gewohnter Weise aus. Es entging uns nicht, daß die Kunst des Tanzens durchaus nicht von allen Yagan gleich gut verstanden wird. Am graziösesten wußte Frau Walter immer wieder einherzuschweben. Ihr dabei zuzuschauen, bereitete einen wirklich ästhetischen Genuß. Gut machten ihre Sache auch Mary und Gertie. Wenig leisteten in dieser Hinsicht meine Patin, die allzu dicke Adelaide und die nicht minder umfang­reiche Emilia. Die Alakalufin Julia endlich lernte es überaus lange Zeit nicht, zu tanzen, sondern lief immer nur hin und her. Die führenden Männer Santiago, Mašemikens, Richard, Chris und Calderón verstehen sich alle ziemlich gut auf die Tanzkunst. Den Alten vor allem merkt man es an, daß ihnen die Sache von früher Jugend her in den Knochen sitzt.

Zweimal im Laufe dieses Tages suchte die gute alte Mary uns eine besondere Freude zu bereiten. Mary hat als Mädchen im Hause des damaligen Missionars J. Laurence gedient. Sie weiß daher besser wie die meisten anderen, wie es bei zivili­sierten Europäern zuzugehen pflegt. Auf einmal nun kommt sie im Tanze auf uns zu und überreicht uns einige leibhaftige Cakes, die sie in der Woche zuvor in Ushuaia sich erstanden hatte. Es war, als wollte sie sagen: „Ich weiß schon, welche Opfer ihr bringt, wenn ihr hier mit uns lebt und speist. Dieses sei euch eine kleine Erinnerung an die Zivilisation, die ihr unseret­wegen zeitweilig verlassen habt." Gegen Abend stellte sie sich noch einmal ein und . überreichte ein mit besonderer Sorgfalt verfertigtes Binsenkörbchen.
Da es bereits der dritte Abend war und das Ende des Festes heranrückte, so wurde einiges von den üblichen Schluß­feierlichkeiten antizipiert. Im Rancho ging wieder einmal ein großes Reinemachen an. Was irgendwie aus der Richtung ge­raten oder sonst in Unordnung gekommen war, wurde wieder zurechtgesetzt. Selbst an den langen Lasso dachte man. Er wurde hervorgeholt und bekam einen neuen weißroten Anstrich.

Nach alter Gepflogenheit waren die derzeit im Tschiechaus nicht mitfeiernden Familien zum Besuche eingeladen. Die Zahl dieser Familien bzw. Einzelpersonen war heuer gering. Aber immerhin waren einige Frauen und Tanten außerhalb des heiligen Hauses geblieben. Nun kamen auf einmal ihrer zwei herein zum Besuch. Sie hatten sich aber ein wenig verfrüht. Denn noch waren die Eßgeschirre und Dinge ähnlicher Art nicht im rückwärtigen Teil des Rancho versteckt, so wie es sich gehörte. Den Besuchern wurde nämlich vorgetäuscht, daß die Tschiechaus­-Insassen zur Zeit der Feier überhaupt nur von der Luft lebten und gar nicht äßen. Die Speisen„ die vom Rancho der Koch­jungfern hier zwar hereingetragen würden, verzehrten jedesmal irgendwelche Geister. Die Besucherinnen standen schon im Eingang des Rancho, als Calderón Hals über Kopf mit dem Korb, in dem Eßgeräte und Speisereste aufbewahrt wurden, nach rückwärts stürzte. Den Gästen wurde es schwer, ein stillvergnügtes Lächeln zu verbeißen. Wir erhielten die Erklärung für alles erst nachträglich. Wir hörten da auch, daß in der Vergangenheit ein zu früh sich einstellender Besuch nicht so gnädig behandelt wurde: ein Staub- und Aschenregen, der auf die Allzueifrigen niederging, hatte zu bedeuten, daß sie sich zurückziehen und erst später zu kommen hätten.

Spät in der Nacht stimmt Santiago noch die Melodie eines neuen uns bisher unbekannten Tanzspieles an. Kaum vernimmt das die alte Emilia, da stößt sie mit einer große Genugtuung verratenden Stimme hervor: „Ah, Šekuš-kel!" (Šekuš = Hochseegans.) Bei diesem Tanzspiel stehen alle Teilnehmer und bewegen Hände und Oberarme in charakteristischer Weise auf und ab. Dieses Tanzspiel erfreut sich besonderer Beliebtheit, und mit gewohnter Virtuosität wußte die Yagan-Gesellschaft es vor­zuführen.

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VIERTER TAG IN TSCHIECHAUS-RANCHO

 a) Bis zum Nachmittag des Tages

Dieser Tag sollte schon den Schluß des Tschiechaus-Festes bringen. So herrschte gegen acht Uhr früh bereits im heiligen Hause ein verhältnismäßig reger Betrieb. Einerseits galt es, sich einzurichten auf ein frühes Mittagessen, weil gleich darauf beim besten Tageslicht das Photographieren vorgenommen werden sollte. Andererseits war man bemüht, uns weitere Exemplare der zum Tschiechaus gehörigen Geräte (wie Kopfschmuck, Stäbe, Schmucktäfelchen usw.) bereitzumachen. Santiago arbeitete an den Objekten, die mir seine Adelaide in ihrer Eigenschaft als Patin noch zu schenken haben würde.

Wie ein Blitz aus heiterem Himmel wirkte bei dieser still­frohen Tschiechaus-Stimmung der Ruf: „Feuer, Feuer!" In der Tat, das Dach des heiligen Hauses, welches infolge des ständigen Feuerns und der herrschenden trockenen Witterung überaus brenn­fähig geworden war, drohte in Flammen aufzugehen. Indem wir uns daran erinnern, daß bei einer Feuerlandshütte das Dach das ganze Haus bedeutet, greifen wir zunächst nach unseren Notizbüchern, um die wenigstens in Sicherheit zu bringen. Unter­dessen aber ist Chris geistesgegenwärtig genug und schleudert ein Gefäß mit Wasser, das zufällig in der Nähe stand, geschickt in den Feuerherd hinein.

Die Gefahr ist beschworen, und alles geht in Ruhe seiner gewohnten Beschäftigung nach. Ich bewundere den seelischen Gleichmut, den diese Naturkinder auch angesichts einer drohenden Feuersbrunst an den Tag legen. Es kann ihnen ja nicht viel geschehen. Die wenigen äußeren Glücksgüter, die sie ihr eigen nennen, sind leicht gerettet, und selbst einen neuen Tschiechaus­ Rancho errichtet man, wenn es sein muß, in einem halben Tag. Aus diesen Gedanken weckte mich der abermalige Alarmruf „Feuer, Feuer!" In der Tat, jetzt war der Fall schon ernster. Alles rennt und rettet sich zu den Ausgängen bin. Als Helfer in der Not erscheint dieses Mal Manuel; mit einem Gefäß voll Wasser steigt er von außen auf das heilige Haus und löscht die Glut. Er entfernt nun auch das über dem Feuerboden so trocken gewordene Holz und faßte damit das Übel bei der Wurzel.

Bald darauf sitzen in der vorderen Ecke des Ranchos wiederum zusammen Mašemikens, Witsch, Calderón und Charlin. Kina ist abermals das Thema der leise gepflogenen Beratungen. Die schlimmsten Bedenken und Schwierigkeiten sind glücklich überwunden. Der alte Mašemikens fürchtete sich lange, das Kommando beim Kina zu übernehmen. Er meinte, nicht alles mehr getreu zusammenzubringen. Die anderen aber sahen alle gerade in ihm den geborenen Leiter. Um ihm die Bedenken zu zerstreuen und Mut zu machen, ließen wir daher mehrere Male mitteilen, daß wir auf jeden Fall mit dem zufrieden seien, was er biete. Er solle sein Bestes tun und damit sei es gut. Dieser Zuspruch verfehlte seine Wirkung nicht. Und so ist es bereits sicher, daß Don Pedro (Mašemikens) dem Kinafeste vorstehen wird.

Textfeld: ' Ende 1923 weilte M. Gusinde mehrere Monate im Gebiete der Alakaluf. Das Nähere auch zu deren Jugendweihe hat er da feststellen können.

Wenn man die alten Yagan fragt: „Woher habt ihr denn Tschiechaus?", dann kehrt dieselbe Antwort stets wieder: „Von den Alakaluf." In der Tat, äußere und innere Einrichtung des ganzen Tschiechaus wollen sie einmal von dort erhalten haben. Natürlich ist der wissenschaftlichen Lösung dieser Frage nur näher zu kommen durch eine genaue Erforschung auch der ge­heimen Feste bei den Alakaluf. Daß letztere eine dem Tschiechaus der Yagan ähnliche Institution besitzen, davon vermittelte die anwesende Alakalufin Julia eine hinreichende Sicherheit. Ihre Einzelheiten aber kannte Julia nicht,_ weil sie schon als sieben­jähriges Kind in eine vornehmlich chilenische Umgebung ge­kommen war 1.

Alles das, was wir zu dieser Frage schließlich an Angaben hatten gewinnen können, stellte uns das Folgende als das wahr­scheinlichste vor. Die Yagan hatten von Haus aus schon eine Jugendweihe; denn sonst erklärte sich einfach nicht die zentrale Stellung, welche diese in ihrem ganzen sozialen und Geistes­leben einnimmt. Andererseits aber haben die Yagan wohl recht in der Behauptung, daß manches der äußeren Einrichtung ihres Tschiechaus von den Alakaluf gelegentlich übernommen worden ist. Eine alte Erzählung der Yagan berichtet von der ersten Berührung ihrerseits mit den westlichen Nachbarn, den Alakaluf. Eine Gruppe von Yaganmännern hatte bei der Ge­legenheit daselbst eine recht üble Behandlung erfahren. Im großen Rancho waren sie von Alakaluf hin und her, ja bis zu Tode gehetzt worden. Zur Erinnerung an dieses traurige Geschick pflegten auch die Yagan in ihrem Tschiechaus-Rancho einige Tiere (besonders Vögel) zu Tode zu treiben.

Wie Chris erklärt, hat es seinen besonderen Grund, daß der Jugend im Tschiechaus immer wieder mit dem Obersten der Teufel, dem Yeteite, gedroht wird. Alles Übel komme letzten Endes gewiß von dem großen Watauinewa her (Watauinewa = der Uralte, der Ewige; so nennen die Yagan das höchste Wesen, worüber weiter unten Näheres gesagt wird). Auch die Strafen, welche Yeteite über Langschläfer, Verächter der alten Leute usw. sende, könne er nur zur Ausführung bringen, wenn Wa­tauinewa es zulasse. Denn dieser ist doch immer der monauanakin, d. h. der Höchste von allen. Aber im Tschiechaus spreche man der Jugend wenig von Watauinewa, da er doch eigentlich gut sei. Man rede vielmehr immer wieder vom bösen Yeteite, weil das mehr Eindruck auf die Jugend mache und so wirksamer sei.

Vor Mittag noch schwingt der Festleiter Santiago sich auf zu einer Schlußrede an sämtliche Tschiechaus-Insassen. Ein ein­drucksvolles Bild bietet sich uns dar. Santiago sitzt inmitten des Hauses auf einem Holzklotz und spricht eine gute halbe Stunde lang. Wir wußten nicht, was wir mehr bewundern sollten, beim Redner die Zungenfertigkeit, die Natürlichkeit der Gesten, das Mienenspiel, in dem tiefer Ernst vorherrschend war, oder bei den Zuhörern die vollkommene Ruhe und Aufmerksamkeit, die sie von Anfang bis zu Ende dem Sprecher gegenüber beobachteten. Der Inhalt richtete sich im besonderen an die Jugend, aber auch an alle anderen. Er gipfelte in der oft sich wiederholenden Mahnung: Wölitös seskin 1 Ein „gutes Herz" soll jeder haben und bewahren!

Nachdem die Rede geendigt hatte, trat eine Unterbrechung in der Tschiechaus-Feier von mehreren Stunden ein. Die Zeit diente dazu, um den photographischen Apparat in Tätigkeit treten zu lassen.

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b) Der Abend des vierten Tages

Die Uhr zeigt fünf Uhr nachmittags. Wir sitzen wieder in gewohnter Weise im heiligen Hause und harren der Dinge, die da kommen sollen. Die üblichen Schlußfeierlichkeiten des Tschiechaus-­Festes werden wir heute näher kennenlernen.

Der Rancho hat abermals eine sorgfältige Reinigung er­fahren. Der Festleiter singt bereits den Schlußgesang. Die übrigen singen leise mit. Die feierliche Visite wird erwartet. Sie kommt heute nicht zu früh. Im rückwärtigen Teil des Rancho ist ein provisorischer Vorhang angebracht. Alles, was daran erinnern könnte, daß auch die Tschiechaus-Insassen nicht allein von der Luft zu leben vermögen, ist schon dahinter wohl geborgen. Die Visite soll ja glauben, daß im Tschiechaus nicht gegessen wird, sondern daß die hereingetragenen Speisen von Geistern verzehrt werden.

Aber das ist nicht der einzige Zweck des rückwärts angebrachten Vorhanges. Er dient auch dazu, Kandidaten und Kandidatinnen vor den Blicken der Gäste zunächst verborgen zu halten. Wir, zwei Kandidatinnen und vier Kandidaten, sitzen bereits hinter dieser „spanischen Wand" und sehen in gespanntester Erwartung der Weiterentwicklung der Dinge entgegen. Wir hören, wie unterdessen der Gesang weitergeht, und wie von Zeit zu Zeit der Rancho von innen und dieses Mal auch von außen tüchtig mit Stöcken bearbeitet wird.

Endlich hebt sich ein wenig der Vorhang. Calderón erscheint und faßt mich als ersten bei der Hand: ich habe zu folgen. Drei- bis viermal tanze ich hinter ihm her durch den Rancho. Da ergreift mich meine vor Erregung schluchzende Patin Adelaide und heißt mich niedersitzen zwischen sie und ihren Vater, den alten blinden Witsch. Eng dahinter sitzt dessen alte Frau, Adelaides Mutter (Taf. XVI b, links). Alle weinen vor Freude und Rührung, und ich gestehe, daß auch mein Inneres mächtig bewegt war. Auch mich haben sie jetzt kennengelernt, erprobt und gefunden, daß ich, ähnlich wie mein Kollege schon vor zwei Jahren, würdig bin, ihr Stammesmitglied zu werden. Der Feier­lichkeit des Augenblicks sind sich alle wohl bewußt. Im besonderen aber natürlich die Mitglieder jener Familie, deren Adoptivsohn ich eben jetzt werde.

Nachdem ich so einige Minuten gesessen, heißt mich die Patin aufstehen und Platz nehmen zwischen ihr und ihrem Ge­mahl Santiago. Dorthin gehöre ich ja auch eigentlich. Aber welches Maß kindlicher Pietät lag darin, daß sie mich erst einige Minuten zu Füßen ihrer alten Eltern Platz nehmen ließ! Oh, diese „Kannibalen" von Feuerland!

Aber sie wußte auch einen anderen Herzenswunsch noch zu erfüllen. Señora Laurence, Calderóns leibliche Schwester, hatte ausdrücklich darum ersucht, daß bei Gelegenheit dieser Schlußfeier auch ihr Engstverwandter zu Ehren kommen und an meiner Seite „thronen" sollte. Das hatte Adelaide nicht vergessen. Nur einige Augenblicke hockt sie zu meiner Linken, dann steht sie, auf und macht, so unauffällig als möglich, dem Calderón Platz.

Chris geht nun hin und holt sein Patenkind, meinen Kollegen,, hinter dem Vorhang hervor. Das weitere entwickelt sich wie vor­hin bei mir. Nur faßt man sich kürzer, weil Gusinde ja früher schon Stammesmitglied geworden war. Dasselbe gilt von den übrigen Kandidaten und Kandidatinnen, die noch hinter dem Vorhang sitzen. Das freudige Singen und Tanzen nimmt dann noch eine Zeitlang seinen Fortgang. Auf einmal schließt dieser Aktus. Der Festleiter gibt der Visite einen deutlichen Wink, und diese zieht sich sofort durch den Haupteingang, durch den sie auch gekommen, wieder zurück. So war die wichtige Handlung vorüber, die mich eigentlich und endgültig dem Yaganstamme einverleibte. In solchen Mo­menten höchster Forschererfolge vergaßen wir leicht der Mühen

und Entbehrungen, die das Indianerleben von uns forderte. Wir vergaßen aber auch der kleineren und größeren Schwierigkeiten, die der nach unseren europäischen Begriffen manchmal indolente Charakter der Leute uns hin und wieder bereitete. Wie die Primitivsten allgemein, so sind auch die Yagan wie große Kinder, haben als solche ihre guten und daneben auch ihre minder guten Eigenschaften. Der im Grunde so aufrichtige und gute gern ihres Wesens brach aber auch bei unseren Yagan stets wieder durch, und so wird man verstehen, daß sie uns immer mehr ans Herz wuchsen. Die so ehrlich gemeinte Adoptierung in den Stamm bedeutete naturgemäß die Krone dieser Entwicklung. Nun war auch ich kein Fremder mehr, sondern gehörte zu ihnen. Und wenn künftig der Gatte meiner Patin mich gerne anredete mit „my boy", so quittierte ich das natürlich ebenso gerne mit „my father".

Wie vor zwei Jahren mein Kollege, so erhielt auch ich jetzt -einen Yagannamen. Stehende Yagansitte ist es, jeden Neu­geborenen nach dem Orte zu, benennen, wo er das Licht der

Welt erblickte. Seinerzeit war Tschiechaus in Šamakuš (einem Teilgebiet von Punta Remolino) gefeiert worden. Nach dem Orte seiner Wiedergeburt heißt Gusinde daher Šamakušentschis. Heuer feierten wir in Kumbutu (Puerto Mejillones). Deshalb ist mein Yaganname Kumbudentschis.

Es ist gut neun Uhr abends. Die ganze Gesellschaft ist munter, an ein Schlafengehen denkt offenbar keiner, ja die An­sammlung der Frauen im vorderen Teil des Ranchos, der sonst vornehmlich den Männern reserviert ist, hat sicher noch etwas ganz Besonderes zu bedeuten. Wir befinden uns, ehe wir uns dessen so recht bewußt werden, mit der übrigen Männerwelt im rückwärtigen Teil des heiligen Hauses vereinigt. Man klärt uns .auf. Am letzten Abend des Tschiechaus führen die Frauen das Regiment, sie haben das „letzte Wort". In der Tat, die alte Frau Mašemikens übernimmt das Kommando. Sie gilt nun die letzten Stunden als d des Festes. Bald fängt sie an vorzusingen. Die übrig fallen nach und nach mit ein, und nicht sehr lange da beginnen sie auch schon zu tanzen.

Die Männer schauen dem Tanz der Frauen interessiert zu.  Der Festleiter Santiago scheint etwas gegen sie im Schilde zu führen. Auf jeden Fall wird er ihnen dazu verhelfe, sich im Tanzen einmal tüchtig auszutoben. Von Zeit zu Zeit er sie durch laute Zurufe, nicht nachzulassen, sondern noch mehr drauf loszutanzen. Die Situation erschein nächst komisch und köstlich genug. Was der halb sitze liegende Santiago ruft, wird uns jedesmal sofort verdolmetscht

Erster Zwischenruf. Weiter, weiter tanzen! Der Erdteufel Yeteite ist ja noch nahe und will nicht weg!
Zweiter Zwischenruf. Noch mehr, Yeteite macht noch keine Miene abzutreten!
Dritter Zwischenruf. Nur mutigweiter. Der Böse schickt sich zum Rückzug an. Er steigt kopfwärts in die Erde hinein

Nach diesem Zwischenruf erklären uns unsere Dolmetscher Chris und Calderón, daß wir speziell auch die Veranlassung dafür sind, wenn Santiago und Mašemikens so sehr auf ein weiteres Singen und Tanzen bestehen. Denn wir Fremdlinge im Tschiechaus haben anscheinend die besondere Aufmerksamkeit des Yeteite erregt. Man fürchtet, er wolle uns besondere antun, wohl in dem Glauben, daß er mit uns Bleichgesichtern leichteres Spiel haben werde.

Vierter Zwischenruf. Weiter tanzen, denn im sehe ich Yeteites Füße aus der Erde hervorragen! Fünfter Zwischenruf. Nun sehe ich nur noch Fuß von ihm. Aber weiter tanzen!

Der Dolmetscher Chris machte hier lachend eine leise Bemerkung. Auf den Rufer Santiago hinweisend, meinte bei ihm schaut gerade noch ein Fuß unter der Decke hervor

Sechster Zwischenruf. Gut, ich sehe nur noch eine Zehe des Yeteite. Aber weiter tanzen!

Nach diesem Zwischenruf schiebt sich eine interessante Szene ein. Mehrere Männer haben sich erhoben sich und tanzen nun gegen das Weibervolk an. Sie suchen zum Schein den Frauen die Po­sition streitig zu machen. Diese aber zeigen sich wenig geneigt, von ihrer Vorherrschaft, die sie nach altem Recht und Brauch am letzten Abend im Tschiechaus-Rancho genießen, auch nur ein wenig preiszugeben. So entwickelt sich ein hitziges Schein­manöver. Die Männer rücken tanzend gegen die Frauen vor und suchen sie zurückzudrängen; die Frauen aber holen glühend vor Begeisterung jedesmal wieder zum siegreichen Gegenschlag aus.

Oft geht es Frau gegen Mann: paarweise stehen sie einander gegenüber und suchen sich gegenseitig mit den vorgehaltenen Tschiechaus-Stäben zu bedrängen. Dabei, wie immer, ein ständiges Singen und Seufzen, ein wiederholtes Schluchzen und Weinen. Endlich ist der Sieg der Frauen entschieden. Die Männer sind bis zu uns im rückwärtigen Teile des Ranchos zurückgedrängt und nehmen dort ihre alten Plätze ein. Die Frauenwelt trium­phiert, besonders die alte dicke Mary. Sie hatte sich schwer an­gestrengt, sie pustete mächtig und schwitzte tüchtig. Aber voll Genugtuung sagte sie uns noch ins Ohr: „Die jüngeren Frauen wußten nicht recht, was der Angriff der Männer bedeuten sollte. Ich aber wußte es. Die mußten zurück. Heute abend haben wir das Regiment."

Aber die Frauen gönnen sich trotz allem noch keine Ruhe. Sie tanzen weiter, getreu der Weisung Santiagos: „Weiter tanzen!" Bald nach dem Abtreten der Männer ertönt des Festleiters

Siebenter Zwischenruf. Jetzt ist der Yeteite ganz ver­schwunden. Aber ich sehe noch das Loch, in das er hinein­gefahren ist. Das muß sich noch schließen. Weiter tanzen!

A c h t e r Z w i s c h e n r u f. Jetzt ist auch das Loch glücklich zu. Ganz in der Ferne höre ich noch ein verlorenes Poltern und Donnern. Yeteite ist endgültig weg. Jetzt hört auf und ruht euch aus!

Im Verlaufe des weiteren Abends erhielt mein Kollege von seiner Patin noch ein Körbchen mit Beeren geschenkt. Die Ge­schenkgeberin raunte ihm dabei ins Ohr: „Mache aber deine Sache gut, so, wie es bei uns in allen ähnlichen Fällen im Tschiechaus Brauch und Sitte ist. Erst, nachdem du allen L wesenden etwas mitgegeben hast, darfst du selber auch davon essen. Wir nennen das tatu machen [beobachten]." Natürlich folgte Gusinde freudig der gegebenen Weisung. Eine große Freu und Befriedigung im ganzen Hause war die Folge.

Aber die Sache sollte doch mit einem kleinen Schreck enden. Beim Herumgehen im halbdunklen Rancho fiel Gusinde schließlich über ein Stück Holz, das er nicht früh genug gesehen hatte. Da wurde es plötzlich ganz still, alles hielt den Atem a Fallen im Tschiechaus-Rancho, das ist verhängnisvoll und kann gegebenenfalls einen frühen Tod zur Folge haben. Nur ein schnelles Eingreifen des Yekamuš (Zauberdoktors) kann drohet dem Unheil noch vorbeugen. Gusinde erhält sofort die Weisung; sich vor dem alten Mašemikens hinzusetzen. Der „erschauet nun im Geiste" und fängt an, ihm den Köšpik (Seele) zurück zurufen. Er streicht und reibt Gusindes Glieder, besonders sein Kniegelenke. Faucht und zischt dabei, saugt auch an den Beine herum. Nach drei bis fünf Minuten läßt er Gusinde wieder frei Die Gefahr ist vorüber, und alles zeigt sich voll beruhigt.

Wir benützten die Gelegenheit und fragten gleich nach den Vorfall, wie man sich das „Köšpikzurückrufen" eigentlich denke. Gusinde sei doch nicht gestorben, also sein Köšpik nicht verschwunden gewesen. Darauf erhielten wir folgende Antwort: Ja, so sei es nicht gemeint. Den Köšpik zurückrufen heiße, die Lebenskraft, welche irgendwelche Anzeichen von Schwäche verrate (bei Gusinde sei das durch das Fallen im Tschiechaus-Rancho angedeutet gewesen), wieder aufzufrischen und zu stärken.

Ähnlich wie) so erklärte speziell Chris weiter, auch ein Fisch der außer Wasser gesetzt wird, nicht sofort stirbt, sondern allmählich erst seinen Köšpik einbüßt, so geht es auch beim Mensehen. Der Yekamuš (Zauberdoktor) allein ist in einem solche: Falle imstande, dem drohenden Verhängnis durch seine bekannte Manipulationen zeitig vorzubeugen. Daß ein Stürzen ins Tschiechaus so tragisch genommen werde, das hänge mit der Heiligkeit de Ortes zusammen. Wenn einer draußen irgendwo einmal stolpere und falle, so bedeute das nichts.

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NOCH EINMAL IN DEN TSCHIECHAUS-RANCHO HINEIN

 a) Der fünfte Tag im Tschiechaus-Rancho

Montag, den 6. März, abends spät war eigentlich das Fest der Jugendweihe Tschiechaus beschlossen worden. An den darauffolgenden Tagen bis Samstag, den 11. März, vormittags, wickelte die Kinafeier sich ab, worüber weiter unten Näheres berichtet wird. Gegen Schluß des Kinafestes erhob sich immer lauter der Wunsch und die Forderung: wir müssen noch einmal im Tschiechaus hinein. Wir stellten uns diesem Begehren nicht entgegen. Das um so weniger, da es auf die folgende Weise begründet wurde: Einerseits sei uns noch nicht alles gezeigt, und anderseits sei einiges nicht exakt genug vorgeführt worden. Vielleicht mehr un­bewußt als bewußt wirkte aber ein dritter Grund mit. Der Spektakel des Kinafestes sagt den Yagan im Grunde wenig zu. Die Festtage mit Kina zu beschließen, widerstrebte daher ihrer Natur. Und so verlangte alles, wenn es auch offen nicht ausgesprochen wurde, nach einem Abschluß im Rahmen des schönen Tschiechaus.

Vor dem Mittagessen am Samstag, dem 11. März, war Kina beendet worden. Bald nach Mittag sollte der Einzug in Tschiechaus wieder vonstatten gehen. Es geht wie ein freudiges Aufatmen durch das ganze Campament. Nun darf auch die Frauenwelt sich wieder regen und rühren. Vom Kinaspuk waren sie nicht nur ausgeschlossen, sondern derselbe richtete sich ja direkt gegen sie. Jetzt kommt wieder das liebe Tschiechaus, das einen so ganz anderen Charakter hat, wo auch Frauen und Mädchen sich sehen lassen dürfen, ja im allgemeinen als durchaus gleichberechtigte und ebenbürtige Festgenossen gelten.

Wie gewöhnlich, so ist auch heute wiederum das Malen eine der ersten Sorgen. Mein Kollege und ich hatten dessen nicht gleich gedacht. Das brachte uns einen leisen Vorwurf meiner Patin Adelaide ein. „Tschiechaus soll wieder beginnen und ihr seid noch nicht bemalt!" Es war, als wollte sie sagen: „So viel solltet ihr doch schon Yagan sein, um zu wissen, daß das Malen in solchen Fällen das erste ist und nicht vergessen werden darf." Gerne hielten wir unsere Wangen hin, und sie zog dieses Mal zwei rote Querstriche darüber. Im weiteren Verlaufe des Nachmittags erhielten diese noch eine Ergänzung in den roten Armbändern, welche Calderón und Chris uns beibrachten.

Die Tätigkeit des „Polizisten" war uns bisher mehr ge­schildert als in Wirklichkeit gezeigt worden. Nun waltete zunächst Richard, später der alte Thomas dieses Amtes in alter Form und Strenge. Fast ständig ist der „Polizist" auf den Beinen, geht auf und ab, schreit immer wieder laut „zum Fenster" hinaus. Vom Boch-Rancho aus erfolgt darauf stets wieder eine prompte Erwiderung. Wie uns die Dolmetscher erklären, fragt der Polizist die Kochjungfern, ob sie noch da seien und ob es ihnen gut gehe. Darauf erschallt als Antwort für gewöhnlich ein lautes langgedehntes Aa-haa!

Reiter wurde die Situation, als gegen vier Uhr vom Koch-Rancho aus der Tee zu uns herübergeschickt worden war. Die glückliche Überkunft des Produktes ihrer Kunst wurde den Kochjungfern sofort wieder auf drahtlosem Wege übermittelt. Aber, so fügte er bei, warum habt ihr denn wieder salziges See­wasser dazu genommen? Die Folge war einerseits ein Entrüstungsschrei von seiten der schwer beleidigten Köchinnen, anderseits ein großes Vergnügen bei der Festgesellschaft. Denn einige Tage zuvor hatten gedankenlose weibliche Wesen uns in der. Tat mit Seewasser einen Tee zu bereiten versucht.

Der Polizist des Tschiechaus trägt einen eigenen Kopf­schmuck. Derselbe besteht aus fingerlangen Federn, die auf einer Guanacosehne eng nebeneinanderstehend sorgfältig aufgereiht werden. Es ist derselbe Schmuck, welcher sonst nur den Yekamušen (Zauberdoktoren) reserviert ist (Taf. XVII a). Warum der Polizist diesen Schmuck tragen muß, das wußte keiner anzugeben. Man weiß nur, daß es immer so gewesen ist.

An diesem Nachmittag kamen auch die beiden Gesänge, welche dem Polizisten gehören, zum Vortrag. Anderen ist es nicht gestattet, dieselben zu singen. Nur der Polizist darf das, wobei die übrigen freilich, wie gewöhnlich, begleiten.

Unter den Festteilnehmern zeigt sich jetzt auch die gute alte Peine. Sie ist vor wenigen Tagen erst auf der Bildfläche erschienen und nun ist sie mit Leib und Seele so bei der Tschiechaus-Feier, wie niemand sonst. Unter ihrer und Gerties Führung tanzen eben Kandidaten und Kandidatinnen durch das heilige Haus. Peine ist mit den Leistungen noch gar nicht zu­frieden. Darum führen sie und Gertie das junge Volk hinaus an einen abgelegenen Ort, wo eine Zeitlang tüchtig geübt wird. Nach einer halben Stunde etwa sind sie wieder da. In der Tat, die Übung ist nicht ohne Erfolg gewesen. Es kommt schon ein ganz anderer Zug auch in das Tanzen der Neulinge hinein.

Im Verlaufe des späteren Abends kamen die schöneren Tanzspiele noch einmal zur Geltung. Die alte Peine strahlte dabei vor Begeisterung. Beim Katölla-kel, wo es gilt, einander Brot, Fleisch oder ähnliches, das mit dem Munde gehalten wird, weg­zuhaschen, widmete sie uns beiden schließlich eine größere Auf­merksamkeit, als uns eigentlich lieb war. Denn da sie sich Gesicht, Arme und Hände zur Feier des Tages rabenschwarz angestrichen hatte, so ließ sie überall, wohin sie kam, entsprechende Spuren ihrer Tätigkeit zurück. Aber übelnehmen konnten wir ihr es doch nicht. Sah sie in diesem Aufzuge auch drein wie eine leibhaftige Hege oder Teufelin, so wußten wir ja doch schon längst, was für eine goldene Seele sie im Grunde war.

Die glänzende Feststimmung hielt die Gesellschaft wieder lange munter. Es war zwölfeinhalb Uhr, als endlich die Erlaubnis, sich zur Ruhe niederzulegen, gegeben wurde. Aber nicht alle machen davon Gebrauch. Mehrere der jungen Männer wachen und singen und tanzen leise bis in die frühen Morgenstunden hinein. Wie wir am folgenden Tage vernahmen, hatte der Polizist Thomas mit aller Energie darauf bestanden, es so zu machen. Denn früher habe man auch gesungen und getanzt bis zum Umfallen, es sei eine Schande und verhängnisvoll, wenn die jüngere Generation nun der Bequemlichkeit nachgehen wolle.

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b) Der sechste Tag im Tschiechaus-Rancho

Der 12. März brachte nun wirklich den Schluß all der solemnen Festlichkeiten.

Sieben Uhr früh war die Morgentoilette schon gemacht, und unsere Gesichter erglänzten bald in frischen Farben. Auch das Singen ließ nicht mehr lange auf sich warten, und gegen acht Uhr sah man einzelne bereits wieder vergnügt das Tanzbein schwingen.

Die Alten erinnern sich, daß wir noch nicht gesehen, wie früher das Kandidatenvolk hinausgeführt wurde, um im Walde das rechte Brennholz auszusuchen und es dann heimzutragen. Unter Führung von Calderón und Walter marschieren gegen achteinhalb Uhr wir Kandidaten alle etwa hundert Schritte in den Wald hinein und tun, wie uns geheißen wird: sammeln Holz und tragen es dann heim. Durch lautes Rufen wird ständig die Verbindung mit den im Tschiechaus-Rancho Zurückgebliebenen aufrechterhalten. Es soll dadurch verhütet werden, daß die Kandidaten sich zu weit entfernen oder zu lange ausbleiben.

Es ist neun Uhr vorbei, da hören wir, wie die Jugend die Weisung erhält, sich zu Füßen des alten blinden Witsch nieder­zusetzen. Vor Schluß des Festes will er ihnen noch eine der üblichen Instruktionsstunden erteilen. Witsch spricht gut zwanzig Minuten lang mit leiser, etwas gedämpfter, aber ernster Stimme. Aufmerksam hören die Jungen, aber auch die Alten zu. Den Inhalt seiner Rede sparen wir auf für das nächste Kapitel, wo die üblichen den Kandidaten bei Gelegenheit der Tugendweihe erteilten Belehrungen in kurzer Zusammenfassung folgen werden.

Hiermit ließ man das Tschikhaus-Fest nun wirklich schließen. Das Singen und Tanzen hörte auf. Die Zungen lösten sich. Auch innerhalb des heiligen Hauses durfte nun eine ganz gewöhnliche Unterhaltung gepflogen werden, wenn auch eine gewisse Zurück­haltung des Benehmens hier stets wieder durchschimmerte. Wir benutzten die treffliche Feststimmung, um noch mehrere rückständige Gesänge auf den Phonographen zu bannen. Mit Freuden waren sie dazu bereit, und kräftig sangen sie in den großen Trichter des Apparates hinein. Wie gewöhnlich, so wurde auch jetzt der Gesang immer wieder durch das Rufen einzelner unterbrochen bzw. begleitet. Sinnhabende Texte kennen ja die Yaganlieder alle nicht, sondern von irgendwelchen sinnlosen Silben und Worten wird die einfache monotone Melodie getragen. Was die Sänger dabei denken und fühlen, kleidet sich in einfache Worte, Zwischenrufe, womit dieser oder jener von Zeit zu Zeit hervorplatzt.

Der alte Mašemikens fühlte sich an diesem Morgen so wohl, daß er fast immer den Zwischenrufer spielte. Seine Einfälle reizten zwar nicht selten die anderen zum Lachen und gefährdeten so nicht wenig die Aufnahmen. Meistens nämlich waren wir, Gusinde und ich, der Gegenstand seiner Kraftäußerungen. So pries er uns als Freunde. Wir hätten unsere Sache vorzüglich gemacht. Musterhaft sei unser Betragen gewesen; denn treu hätten wir die alten Yagangesetze beobachtet.

Das günstige Wetter lud dazu ein, heute das Mittagessen, das natürlich ein Festessen werden sollte, draußen einzunehmen. Schon brennt lichterloh ein Feuer, und ein halb Dutzend Frauen, Gertie und Adelaide an der Spitze, haben alle Hände voll zu tun, um die guten Sachen, welche wir mit Absicht für diese Gelegenheit hatten beiseitelegen lassen, entsprechend herzurichten.

Das Mahl nahm denn auch seine Zeit in Anspruch(Taf. XVIIb). Es war relativ reichlich und gut und wesentlich europäisch, was die Yagan immer als eine angenehme Abwechslung empfinden. Natürlich war auch ein Quantum Wein noch vorrätig. Alle bekamen ihre Portion. Und weil nicht nur für die Alte, sondern auch für die Neue Welt geltend ist: Wein erfreut das Herz, so kletterte nun­mehr die Festesfreude und Jubelstimmung auf ihre höchste Höhe. Nach Indianerart ließen sie uns mehrere Male hochleben, indem sie mit Stöcken und Zweigen fest auf den Boden schlugen.

Selten wohl sahen wir so vergnügte und dankbare Gesichter, als an diesem Nachmittage auf Feuerland. Alle tauten auf und wurden zutraulich, auch jene wenigen, die wir vor einigen Tagen hier in Puerto Mejillones erst kennengelernt hatten. Und schließlich rührte es uns tief, als die einzelnen heranrückten und uns die Reste ihrer alten Yaganhabe zum Geschenk anboten. Die einen Frauen hatten noch Binsenkörbchen (Abb. 14) zu offerieren, die anderen einen Kopfschmuck aus Vogelfedern, oder ein Kollier, wie sie entweder aus Vogelknochenstückchen oder aus kleinen bunten Schneckenhäuschen zusammengereiht werden. Die Männer erinnerten sich ihrer Harpunen und Speere und brachten sie herbei.

Der alte Richard besonders schlich sich immer wieder un­auffällig heran. Ihm lag es so auf der Seele, er mußte uns stets von neuem danken für alles, was wir ihm und seinen Stammes genossen Gutes getan. Alles, was er an Harpunen (Abb. 17) und Speeren noch besaß, bot er uns an: wir sollten es mitnehmen zur bleibenden Erinnerung. Es kamen auch die anderen, so Chris und Calderón. Alle, so meinten sie, hätten so viel auf dem Herzen, daß sie uns gerne einzeln eine Dankesrede halten möchten. Aber frei von der Seele weg, das ginge bei den allermeisten nur auf yagan. Und das verständen wir leider noch nicht genügend. So bleibe ihnen nichts anderes übrig, als ihre Dankesgefühle durch die Dolmetscher vermitteln zu lassen.

Von meiner Patin Adelaide bekam ich nun auch die drei Geschenke eingehändigt, wie jeder Kandidat sie am Schlusse der erstmaligen Teilnahme am Tschiechaus aus der Hand seiner

Schutzfrau entgegennimmt. Diese drei Geschenke sind (Abb. 15) 1. Ein kleines mit Federn und reifen Beeren geschmücktes Binsenkörbchen. 2. Ein hohler Röhren-(Vogel-)Knochen, der den Namen Ombali trägt. Er erinnert den Kandidaten immer wieder an die drei ersten Tage im Tschiechaus, wo er das Wasser durch einen solchen Knochen zu schlürfen hatte. 3. Ein kleines zierliches, mit roter Ockererde gefärbtes Holzstäbchen (Möraku tamiaki), das - es sage keiner, daß die Yagan nicht an alles denken - dazu dienen soll, sich, wenn nötig, auch einmal kratzen zu können. Bei der Überreichung der letzten Gabe vermochte auch die gute Adelaide ein Schmunzeln nicht zu unterdrücken. Ihr wie auch den übrigen schien die Sache heute wohl ein bißchen spaßig, aber so ist nun einmal die alte Sitte, und die will respektiert sein.

Im Laufe des Nachmittags glaubten wir, mein Kollege und ich, uns noch einen kleinen Spaziergang gönnen zu sollen. Etwa. eine halbe Stunde weit entfernten wir uns vom Campament der Yagan, um in völliger weltverlorener Einsamkeit ein wenig aus zuruhen und zurückzudenken. In die Seele des Feuerlandstammes der Yagan hatten wir hineinschauen dürfen, so tief, wie es nie zuvor einem Stammesfremden gestattet war. Urweltliches mensch­liches Denken, Tun und Treiben hatte sich uns entschleiert in einem Maße, wie es bislang sehr wenigen Sterblichen nur ver­gönnt gewesen. Der Eindrücke waren zu viele und zu starke, um sie in so kurzer Zeit geistig voll zu meistern. Aber wenn auch noch ganz nahe der Stätte der Ereignisse, so vermochten wir hier doch schon das Erlebte aus einer gewissen zusammenfassenden Perspektive zu überblicken. Und dieser kurze Rück blick bereits drängte uns den Dank auf die Lippen gegen ein gütiges Geschick, das uns etwas in seiner Art so Außergewöhnliches und Großes hatte schauen und miterleben lassen.

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URWELTWEISHEIT. DIE DER JUGEND IM TSCHLECHAUS ERTEILTEN BELEHRUNGEN

Die theoretische Unterweisung der Kandidaten (ušwoala kinana) bildet einen Wesensbestandteil der Jugendweihe der Yagan. Es fehlte den Leuten gewiß nicht am guten Willen, uns einen vollen Einblick auch in dieses ganze Instruktionsverfahren tun zu lassen. Aber wir erlebten da nicht mehr als die oben (S. 87) schon erwähnte zwanzig Minuten dauernde Belehrung, welche der alte blinde Witsch dem Kandidatenvolk am letzten Tschiechaus-Tag erteilte. Und es hatte wahrhaftig keine geringe Mühe gekostet, den Alten überhaupt soweit zu bringen.

Der tiefere Grund für diese auf den ersten Blick vielleicht überraschende Zurückhaltung hatte uns indes nicht lange ver­borgen bleiben können. Die Yagan sahen sich in diesem Falle vor eine psychologische Unmöglichkeit gestellt, und wir konnten es ihnen nicht verargen, wenn sie das Unmögliche nicht möglich zu machen verstanden. Alles andere nämlich läßt sich schließ­lich ausführen auf Kommando, aber eine Belehrung mit mehr oder weniger starkem moralischen Einschlag zu erteilen, das auf Bestellung gewissermaßen zu tun, war jedenfalls von den primi­tiven Yagan zu viel verlangt. Gewiß gaben sich die Leute alle Mühe, Tschiechaus nicht nur zur Parade, sondern auch mit dem Herzen zu feiern. Aber die Unterweisungen sind nun einmal ihrer Natur nach so geartet, daß zu ihrer Erteilung der rechte Augenblick abgewartet werden muß. Und diese Gelegenheiten finden sich leicht und wie von selbst, wenn die Yagan in aller Gemütsruhe für sich allein Tschiechaus feiern. Dann zieht sich das Fest über mehrere Monate hin, man unterbricht es gegebenen­falls für einige Tage, um neue Nahrungsmittel herbeizuschaffen oder auch aus anderen Gründen. Diesen althergebrachten Rahmen benötigen die Yagan, um in demselben für die theoretischen Unterweisungen die passende Zeit und den rechten Ort zu finden. Immerhin waren wir dankbar und froh, wenigstens einmal den alten Witsch in der Eigenschaft als Instruktor der Kan­didaten fungieren gesehen bzw. gehört zu haben. Aber es waren bei weitem nicht alle der üblichen Instruktionen, die Witsch in seiner zwanzig Minuten dauernden Ansprache hatte berühren können. Das versicherten uns gleich nachher besonders unsere beiden Hauptdolmetscher Chris und Calderón. Jedoch wir waren uns mittlerweile selber schon darüber klar geworden, wie wir verhältnismäßig leicht und sicher zur Eruierung aller alten In­struktionspunkte gelangen könnten. Wir nahmen die einzelnen privatem vor, Männer sowohl wie Frauen, und fragten sie aus nach dem, was sie früher im Tschiechaus an derartigen Weisungen kennerlernten. Einerseits Mary, Gertie, Adelaide und Señora Laurence, anderseits Chris, Calderón und Santiago wurden auf diese Weise ins Gebet genommen. Von ihnen nämlich wußten wir bestimmt, daß sie einstmals Tschiechaus in alter Form und Strenge durchgemacht hatten. Natürlich trat zu all diesem auch das, was der alte Witsch in unserer Gegenwart den Kandidaten ans Herz gelegt. Das eine und das andere, zusammengenommen, vermittelte uns ein vollkommen klares Bild sowohl von dem In­halt als von dem Charakter der üblichen Tschiechaus-Instruktion. Die leitende Idee aller Belehrungen ist: aus dem Kandi­daten einen guten Menschen zu machen. Was dann dem Yaganideal entsprechend zu einem guten Menschen gehört, das geben die Unterweisungen nicht nur im allgemeinen, sondern auch im einzelnen getreulich an. Wir lassen sie hier der Hauptsache nach alle folgen. „Wenn du nächstens verheiratet bist und hast selber eine Hütte, und es kommt dann ein anderer zu dir und nimmt von den Muscheln, Fischen oder Krebsen, die gerade am Feuer braten, so darfst du darüber nicht böse sein. Im Gegenteil, darüber mußt du dich freuen; denn es ist doch eine Ehre für dich, wenn ein Fremder in deinem Hause mit dir speist."

„Wenn du etwas verschenken willst, so denkst du vielleicht, ich habe da eine schlechte Harpune oder einen schlechten Speer, den will ich weggeben, will damit diesem oder jenem eine Freude machen. Wenn du so tust, tust du nicht gut. Denn der Emp­fänger sieht ja gleich, ob das Ding etwas wert ist oder nicht. Ist es schlecht, so wirft er es beiseite und sagt, das hätte er mir überhaupt nicht zu schenken brauchen. Nein, wenn du etwas verschenken willst, so gib eine gute Sache her. Der Empfänger bemerkt das sofort, und er wird dann überall erzählen, was für ein guter Mensch du bist." „Wenn du draußen einher­gehst und siehst einen blinden Mann, der den Weg nicht finden kann, so nimm dich seiner an und führe ihn dorthin, wohin er will."

„Hörst du draußen irgend­wo ein Kind schreien, das seine Eltern verloren hat, dann gehe hin, nimm es auf deinen Arm und bringe es den Eltern zu­rück. Und das mußt du selbst dann tun, wenn es das Kind deines Feindes sein sollte. Denn das Kind ist ja nicht schuld daran, wenn ihr euch nicht ver­tragen könnt. Und wenn du das Kind auch deinem Feind zurück­bringst, so wird der das sehen und dir dankbar sein. Und er wird sich sagen: Nun, ein schlechter Mensch ist das doch nicht.' Und ihr werdet bald wieder in Frieden zusammenleben, so wie es sich gehört."

„Du darfst keinen anderen Menschen töten. Denn sonst wird man auch dich umbringen wie einen Hund. Kannst du mit deiner Frau gar nicht auskommen, so töte sie nicht, sondern gehe lieber weg. Du sollst auch nicht stehlen; denn wer stiehlt, macht sich unbeliebt bei allen."

„Wenn alte Leute mit dir reden, so höre immer aufmerksam zu, auch dann, wenn es dir langweilig werden sollte. Denn du selbst wirst ebenfalls einmal alt. Und dann hättest du es auch nicht gerne, wenn junge Leute deine Gesellschaft fliehen würden."

Den Mädchen wird besonders folgendes noch eingeschärft. „Du mußt des Morgens immer früh bei der Hand sein. ,Watauinewa sikaia kalakanaua sakumacha`: Watauinewa sieht auf dich Faulpelz! Watauinewa wird dich strafen, wird dich früh sterben lassen, wenn du eine faule Langschläferin bist."

„Du mußt selber immer bereit sein, Wasser und Holz her­beizuholen und für das Feuer zu sorgen. Habe auch ein Auge dafür, den alten Männern und Frauen zu Diensten zu sein, wenn ihnen irgend etwas fehlt."

„Bist du einmal verheiratet, so sei deinem Mann eine gehorsame und getreue Gattin. Und selbst dann, wenn es einmal geschehen sollte, daß dein Mann sich vergäße und ginge zu einer anderen Frau, so mußt du nicht glauben, daß du gleich dasselbe tun und zu einem anderen Manne geben dürftest. Nein, warte erst einmal in Geduld ab. Denn über kurz oder lang wird sich dein Mann gewiß besinnen, er wird zu dir zurückkommen, und wenn er dann findet, daß du ihm trotz allem treu geblieben bist, dann wird er dir dankbar sein, wird sich freuen und ihr werdet wieder in Frieden zusammenleben."

„Schreie nicht auf wegen eines Nichts. Erzähle auch nicht alles wieder, was du über andere gehört hast. Denn sonst wirst du leicht Streit und Unfrieden stiften."

„Wenn du einhergehst, so blicke nicht vorwitzig nach allen Seiten umher, sondern schaue vor dich, halte den Kopf ein wenig gesenkt!"

„Wenn du" - das Folgende richtet sich wieder an Knaben und Mädchen - „die im Tschiechaus erhaltenen Vorschriften nicht befolgen willst, so tun wir dir nichts; denn du wirst jetzt groß und selbständig. Auch ist es deine Sache, ob du die Vorschriften im geheimen beobachten willst oder nicht. Aber glaube nicht, daß du weder in dem einen noch in dem anderen Falle ohne Strafe davonkommen würdest. Denn der da oben (Watauinewa) sieht dich ja doch, und er wird dich strafen, vor allem strafen mit einem frühen Tode. Und straft er nicht gleich dich, so wird er dir doch die Kinder sterben lassen."

Inwieweit bei den Yagan diesen schönen Theorien auch die Praxis entspricht, betrachten wir in einem neuen, dem folgenden Kapitel.

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THEORIE UND PRAXIS

Niemand wird bestreiten wollen, daß die im Tschiechaus der Jugend erteilten Instruktionen, falls sie treu befolgt werden, Familien- und Gemeinschaftsleben wohltuend beeinflussen müssen. Nun sind gewiß auch die Yagan keine Engel. Im Gegenteil, die Praxis bleibt bei einzelnen oft merklich weit hinter der schönen Theorie zurück. Inkonsequenzen und Schwächen solcher Art zu beobachten, dazu bot sich uns mehr denn einmal die Gelegenheit. Aber dem steht andererseits doch die Tatsache gegenüber, daß besonders bei allen denen, welche noch formgerecht durch die alte Schule gegangen sind, immer wieder das aufrichtige Bestreben zutage trat, Leben und Handeln im Einklang mit jenen Vorschriften zu gestalten. Die Tschikhaus-Instruktionen lernten wir in ihrer formellen Fassung relativ spät erst kennen. Es war für uns keine uninteressante Überraschung, zu finden, daß sie meistens nur eine theoretische Formulierung dessen boten, was wir aus der Praxis des Alltags schon längst kannten.

Eine der leitenden Ideen in den Tschiechaus-Vorschriften ist diejenige des Altruismus, der gegenseitigen Rücksichtnahme. In Gaben und Geschenken, in Hilfeleistungen aller möglichen Art kann und muß ein solcher Altruismus seinen kon­kreten Ausdruck finden. Keinen Tag verlebten wir im Kreise der Yagan, der uns hierfür nicht neue Beispiele vor Augen geführt hätte. Davon wird freilich wenig Aufhebens gemacht, sondern das gilt unter den Yagan guten alten Schlages als selbst­verständlich. Wer z. B. anwesend ist oder gerade darüberkommt, wenn Muscheln, Krebse oder ähnliche Dinge am Feuer liegen und braten, der wird mit einer leisen Handbewegung sofort zum Mittun eingeladen oder man legt ihm seinen Teil auch direkt in die Hand hinein.

Wer mit dem Boot ausfährt und eine gute Beute an Fischen, Krebsen, Pinguinen usw. heimbringt, von dem wird erwartet, daß er auch andere davon mitgenießen läßt. Mary und Richard sahen wir eines Nachmittags von einer solchen erfolgreichen Tour zurückkommen. Es dauerte kaum eine halbe Stunde, da waren drei Viertel der mitgebrachten Schätze schon verteilt. Natürlich verfehlte es seinen Eindruck nicht, wenn wir gegebenenfalls die­selbe Liberalität an den Tag legten. Die Leiste freuten sich, als. wir die achtundzwanzig Seekrebse, die mein Kollege und ich eines Abends speerten, zum allergrößten Teil ihnen überließen.

Wenn die Gertie, die Adelaide, die Mary oder die Señora Laurence einander oder sonstwo in einer Hütte Besuch machten, dann sah man sie fast nie mit leeren Händen erscheinen. Irgend etwas, und mochte es auch nur eine Handvoll Beeren sein, brachten sie für gewöhnlich mit und. teilten es aus. Man fühlte sich nicht recht wohl, wenn diese Aufmerksamkeiten vergessen wurden. Sie waren andererseits aber sehr geeignet, immer wieder gleich eine trauliche und wohlige Atmosphäre zu schaffen.

Die Tschiechaus-Instruktionen fordern ferner stets wieder besonderen Respekt den alten Leuten gegenüber. In der Tat, wir erlebten keinen einzigen Fall, der mit dieser Vorschrift im Widerspruch gestanden hätte. Selbst der einarmige und

geist ig nicht vollwertige Aikantschis wurde als Alter estimiert. Ja, als er gegen Schluß der Kinafeier auf Grund nächtlicher Träume noch besondere Wünsche offenbarte, deren Erfüllung uns an die zwei Stunden Zeit kosten sollte, da wurde er keineswegs ver­nachlässigt, sondern man willfahrte ihm.

Chris wollte uns eines Abends gegen achteinhalb Uhr auf­suchen, um uns über bestimmte alte Yagansitten Näheres noch au erzählen. Wir wunderten uns nicht wenig darüber, als er zur festgesetzten Zeit nicht erschien, denn Chris hielt sonst wohl auf Pünktlichkeit. Nach neun Uhr erst kam er ganz außer Atem herangestürmt und entschuldigte sich. Der alte Richard habe ihn angesprochen gehabt. Und wir kennten ja schon die Yaganvorschrift, der gemäß man den alten Leuten seine Aufmerksam­keit widmen soll, solange sie selber es wünschen. Der Richard sei eben alt, und wir noch jung, und so hätte er uns warten lassen müssen. Natürlich erklärten wir uns ganz zufrieden mit seinem Verhalten und bedeuteten ihm, es in einem ähnlichen Falle nur wieder so zu machen.

Der alte Witsch ist jetzt der einzige Blinde im Yagan­stamme. Seit ungefähr zwei Jahrzehnten des Augenlichtes beraubt, findet er sich auf Grund eines feinentwickelten Tastgefühles für gewöhnlich in allem leicht allein zurecht. Man läßt ihn da gewähren. Sobald aber auf Grund einer irgendwie neuen unbekannten Situation ihm Hilfe nötig war, wurde ihm sofort der nötige Beistand geleistet, und dazu zeigte sich jeder gern bereit. Der Alte litt überhaupt keinerlei Mangel. Besonders sorgten natürlich seine eigenen Kinder Gertie und Adelaide für ihn. Mit einer direkt rührenden Liebe hingen diese an ihrem alten blinden Vater. Es entging uns nicht, daß gute Sachen, die wir ihnen schenkten, bald, wenn nicht ganz, dann doch zum großen Teil, zu ihren alten Eltern wanderten.

Die Yagan sollen in Frieden zusammenleben und etwaige Feindseligkeiten nicht ewig fortdauern lassen. Calderón und Santiago, die so heftig aneinander geraten waren, brauchten beide ihre Zeit, um sich wieder zusammenzufinden. Im Verlaufe der Festtage aber verrauchte vollständig der alte Groll, und die ehemals feindlichen Brüder verkehrten schließlich miteinander so ungezwungen wie alle anderen auch. Calderón erzählte uns übrigens bald nachdem der Streit im Walde bei Punta Remolino ausgebrochen war, daß er sich absichtlich vom Kampfplatz entfernt habe, um kein Unheil anzurichten.

Von den Frauen und Mädchen wird erwartet, daß sie ein­hergehend ihre Augen nicht allüberall herumvagabundieren lassen, sondern mehr vor sich schauen und den Kopf direkt ein wenig gesenkt halten. Ein entsprechendes Verhalten war uns besonders bei den Frauen und Mädchen, die noch regelrecht durch die alte Schule gegangen sind, von Anfang an schon aufgefallen.

Nicht gering war unsere Überraschung, als in einer eigenen Tschiechaus-Vorschrift sich die Ursache davon enthüllte.

Daß den Yagan das psychologische Verständnis für den Wert der Ein- und Dauerehe keineswegs abgeht, bringt besonders die den Mädchen erteilte Vorschrift zum Ausdruck, dem Manne selbst dann noch treu zu bleiben und in Geduld auf seine Rück­kehr zu warten, wenn er sich vergessen und zu einer anderen Frau gegangen sein sollte. Wir fanden Gelegenheit, gerade auch über diesen Punkt mehrere Male eingehend mit dem alten Herrn J. Laurence zu sprechen; er hatte ja vor vierzig bis fünfzig Jahren noch die Möglichkeit gehabt, die Yagan in ihren dies­bezüglichen ursprünglichen Verhältnissen zu beobachten und näher kennenzulernen. Die Einehe war auch damals das Ge­wöhnliche. Zu einer zweiten Frau schritten die Yagan im all­gemeinen nur dann, wenn die erste dauernd krank wurde. Auf dem Boote der Yagan spielt nämlich die Frau den Kapitän; sie rudert und steuert, während der Mann, mit Harpune und Speer am Kielende sitzend, die Tiere (Pinguine, Fische, See­hunde usw.) zu erspähen und zu erlegen trachtet. Im übrigen waren und sind auch die Yagan keine Engel. Ehebruch kam nicht zu selten vor. Aber jeder wußte, daß er ein Abweichen von dem Normalen und sich Gehörenden bedeutete. Während unserer Anwesenheit entstand eines Tages ein gewaltiger Auf­ruhr im Lager. Einige Männer wurden wild und rasten, während mehrere Frauen vor Angst das Weite suchten, sie liefen in den Wald hinein. Was war geschehen? Ein Gemunkel war entstanden, daß zwischen diesen und jenen unlautere Beziehungen beständen (die Sache ereignete sich in Punta Remolino, wo auch mehrere weiße Arbeiter lebten). Vorsichtig gingen wir der Angelegenheit ein wenig nach und überzeugten uns, ebenso wie die Eingeborenen selbst, bald von der Haltlosigkeit des Geredes. Und allmählich kehrten Ruhe und Ordnung wieder ein.

Wir brachten auch in Erfahrung, daß den Yagan daran lag, die Kinder nicht zu früh mit den Geheimnissen des Geschlechtslebens bekannt werden zu lassen. Heranwachsende Knaben und Mädchen wurden bedroht und gewarnt, sich nicht miteinander abzugeben. Maßgebend war dabei vor allem auch, wie Gertie versicherte, der Gedanke, daß nicht ein Kind ohne Vater, d. h. ohne väterlichen Schutz und den sichern Schutz der Familie, ins Dasein träte.

Eine Hochzeit bedeutete immer, wie uns die Alten wiederholt und strahlenden Auges versicherten, ein großes Fest. Vor allem wurde die Braut schön gemalt und so dem Bräutigam zu geführt. In letzter Zeit sei es mit dieser Sitte von einzelnen, die schon zu viel Berührung mit den Europäern gehabt hätten, nicht mehr so ernst genommen worden. Den drohenden Zerfall des guten Alten auch auf diesem Gebiete beklagte besonders die treue Mary. „Heute heiraten", so sagte sie mir einmal, dabei mit wegwerfender Geste ein Stück Holz vom Boden aufraffend, „bedeutet manchmal nicht mehr, als ein Stück Holz in die Hand und mit sich nehmen." Das habe man leider, so fuhr sie dann fort, von den Weißen gelernt. Früher sei auch dieses so ganz anders gewesen. Da sei eine Hochzeit stets festlich begangen worden, die Braut habe eine schöne Bemalung erhalten und sei so dem jungen Manne übergeben worden. Und alle seien dann very, very happy (sehr, sehr glücklich) gewesen.

Eine derartige Hochzeitsfeier, treu nach altem Brauch und Gesetz, miterleben zu können wäre für uns natürlich eine ebenso interessante als lehrreiche Sache gewesen. Gar zu gern hätten auch besonders die alten Frauen es gesehen, daß wir Zeugen des Ehrentages einer ihrer wenigen jungen Schönen hätten sein können. Es entging uns nicht, daß sie eifrig Pläne schmiedeten. Agostino, Clementes etwa achtzehn Jahre zählender Sohn, sollte mit der wesentlich gleichaltrigen Elise, Santiagos Tochter, beglückt werden. Gewiß, schön gedacht und geplant. Aber auch auf Feuerland nützt eine noch so umsichtige Wegbereitung von seiten der Alten nichts, wenn die Herzen der Jungen nicht zusammenstimmen wollen. Hieran scheiterte die Hochzeit, welche die Alten bereits so gut wie sicher geglaubt hatten. Uns imponierte es, daß sie nicht weiter drängten, nachdem der Mangel der Neigung zwischen den in Betracht kommenden jungen Leuten klar geworden war. Das um so mehr, weil sie sich nach dem unerwarteten Fehlschlagen des mit so viel Eifer verfolgten Projektes doch ein wenig als blamierte Feuerländerinnen fühlten. Sie waren denn auch am liebsten nicht mehr an diese Angelegenheit erinnert. Das fühlten wir bald heraus, und so ließen natürlich auch wir dieselbe ruhen, wenn wir auch bedauern mußten, eine Hochzeitsfeier im Kreise der Yagan nicht miterleben zu können. Sich auch der kleinen fremden Kinder anzunehmen, das bereitete den Yaganfrauen und -mädchen immer wieder ein großes Vergnügen. Kinderlieb zeigten sich alle ohne Ausnahme.

Die Yagan haben ein Wort für stehlen. Diebstahl kam vor, aber nur selten. Ein solches Individuum konnte nicht lange unbekannt bleiben

und es verfiel dann dem allgemeinen Boykott und der Verachtung. Jetzt scheinen Individuen mit kleptomanischen Neigungen überhaupt nicht vorhanden zu sein. Jedenfalls beobachteten wir nie dergleichen, obwohl die Gelegenheit zum Stehlen an keinem Tage fehlte. Ja auch von unseren Sachen, die zum großen Teil doch anreizend auf die Eingeborenen wirkten, fehlte nie etwas, obwohl dieselben für sie meistens frei zugänglich waren und hin und wieder auch von einzelnen einer näheren Besichtigung unterzogen wurden. Ja, als Gusinde beim Abschied von Puerto Mejillones ein Paar alte Strümpfe ausrangiert und absichtlich zurückgelassen hatte, da kam uns der treue Santiago noch nachgelaufen und rief: „Martin, du hast ja ein Paar Strümpfe vergessen!" Erst als mein Kollege dann sagte: „Die brauche ich nicht mehr, die kannst du behalten!", zog er befriedigt von dannen.

In diesem Zusammenhang sei kurz darauf hingewiesen, daß die vorigen Ausführungen es schon hinreichend klar hervortreten lassen, wie klar und bestimmt der Begriff des individuellen und privaten
E i g e n t u m s bei den Yagan entwickelt ist. Es ist dem Yagan selbstverständlich, daß demjenigen, der eine Sache findet, fängt oder verfertigt, dieselbe auch gehört. Andererseits freilich erwartet man in ebenso selbstverständlicher Weise, daß jeder in weitgehendem Maße altruistisch denkt und handelt, immer wieder gern und reichlich austeilt von dem, was ihm so oder so zu eigen geworden ist.

Diese Beispiele zeigen wohl, daß die bei Gelegenheit der Jugendweihe erteilten Instruktionen nicht bloß leere Worte sind, sondern in weitgehendem Maße auch das gesamte tagtägliche Leben beherrschen. Die Yagan wissen und fühlen nun auch recht wohl, was sie speziell in dieser Hinsicht an ihrer Tschiechaus-Einrichtung besitzen. Sie sind sich darüber nicht im Zweifel, daß damit ihre altererbte Geisteskultur wesentlich steht und fällt. Und wie leuchten besonders den treuen, gediegenen Alten die Augen, wenn vom Tschiechaus überhaupt nur die Rede ist.

Daß unter der jüngeren Generation verschiedene sich finden, welche die alten Einrichtungen, besonders aber diejenige des Tschiechaus, nicht mehr gebührend schätzen, darunter leiden manche sehr. Wie oft klagten uns z. B. Richard, Mary, Gertie usw. ihr Leid, das sie ob des Zerfalls des Alten empfinden. Einzelne junge Männer, wie die Halbblutyagan Sarmiento und Balfour, welche fast ständig auf den Farmen als Arbeiter tätig waren und sind, drücken sich beharrlich an der Teilnahme am Tschiechaus vorbei. „Zwingen können und wollen wir sie nicht," so sagten uns die übrigen Männer, „aber wir hüten uns wohl, mit ihnen eine zu enge Gemeinschaft zu pflegen, wir trauen ihnen nicht."

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VORBEREITUNG DES KINAFESTES

Freie Stündchen hatten im Tschiechaus den Männern schon dazu gedient, die entferntere Vorbereitung für das Kinafest zu treffen. Kina war über dreißig Jahre nicht mehr gefeiert worden, und so zeigten sich in bezug auf Wesen und Betrieb desselben nur die alten Männer noch hinreichend unterrichtet. Aber selbst diese hatten ihre Köpfe tüchtig zusammenzustecken, um die Ge­schichte noch stilgerecht herauszubringen.

Der alte Mašemikens, der anfangs starke Bedenken geäußert hatte, die Leitung der Kinafeier zu übernehmen, war nunmehr endgültig gewonnen und geneigt, ihr vorzustehen. Montag, den 6. März, abends, war mit Tschiechaus, vorläufig 'wenigstens, Schluß gemacht, und so konnte am Dienstag, dem 7. März, unverzüglich mit der näheren Vorbereitung des Kinnfestes begonnen werden.

Die alten Männer wußten noch, wie früher schon einmal im Gebiet von Puerto Mejillones Kina gefeiert worden war. Ein kreisförmiger, etwa fußhoher Erdwall, mit einem Durchmesser von sechs bis sieben Metern, zeigte noch die Stelle an, wo da­mals die Festhütte gestanden hatte. Derselbe Platz wurde auch jetzt wieder als günstig erkannt, einesteils geschützt gegen die Stürme, andernteils frei und offen genug, um demnächst vom Campament der Indianer aus, hundert bis zweihundert Meter weit, die Dinge schauen zu können, die sich bald vor und bei diesem Kinarancho abspielen sollten.

Ähnlich wie Tschiechatis, so feierte man auch Kina früher gegebenenfalls mehrere Monate lang. Ein Grund zu hasten und sich zu überstürzen lag ja nicht vor. Je nach Umständen unter brach man auch das Fest für einige Tage, um hernach mit demselben wieder zu beginnen.

Ein derartig gemütliches Tempo konnte dieses Mal wenig wünschenswert erscheinen. Als bestes Mittel, Bewegung in die langsame Gesellschaft, vor allem schon bei Gelegenheit der vor bereitenden Arbeiten, zu bringen, erwies sich unsere praktische Mitarbeit. So zogen wir denn im Verlaufe des Vormittags schon mit den Männern in den Wald hinein, um armdicke Bäume zu fällen, sie zurechtzuschlagen und dann nach Hause zu tragen. Denn ihrer vor allem benötigte man zum Bau der Kinahütte.

Bald nach Mittag ist so viel Material herbeigeschleppt, daß mit dem Bau des Festhauses (Taf. XIV a) begonnen werden kann. Mašemikens leitet ihn mit kritischem Blick. Von ausschlaggebender

Wichtigkeit ist es, die drei Pfähle, welche das Grundgerüst des Hauses bilden sollen, richtig auszusuchen und dann kunstgerecht zusammenzufügen. Es gilt nämlich nicht, eine einfache kegelförmige Hütte zu bauen, sondern es ist eine Form herauszufinden, die am besten mit einem nach einer Seite verschobenen Kegel gekennzeichnet wird. Der Grundriß des Hauses ist, wie schon erwähnt wurde, ein greis. Zwei der drei Pfähle nun, die das Grundgerüst bilden sollen, werden in einer Kreislinie, in einem Abstand von siebzig bis achtzig Grad voneinander, der Wetterseite abgekehrt, also gegen Osten hin, aufgestellt und dann mit ihren gabelförmigen Enden ineinander gelegt. Darüber nun wird von der rückwärtigen, der Westseite, her der dritte Pfahl gefügt, der dann aber, weil er selbstredend auch in der Kreislinie fußt, um ein gutes Stück länger sein muß als die beiden vorderen Gabelpfähle.

Die Alten sind nicht wenig stolz darauf, ihr Werk so weit bereits gediehen zu sehen. Sie nennen uns auch die eigenen Namen, welche diese Hauptpfähle tragen. Die beiden vorderen Gabelpfähle heißen mašlöch tuauina (mašlöch = Gabel, tuauina= Pfahl, also mašlöch tuauina = Gabelpfähle). Den rückwärtigen nennt man indes ušolöm tuauina (ušolöm = Ecke, Loch, also ušolöm tuauina = Eckpfahl).

Die übrige Arbeit ist jetzt nicht mehr schwer. Mit weiteren Stämmen und gespaltenen Hölzern wird das Grundgerüst ausgefüllt. Das geht verhältnismäßig so rasch vonstatten, daß mein Kollege im Laufe des Nachmittags noch die im Gerüst bereits fertige Festhütte photographisch festlegen kann.

Die eigentümliche Form des Kinahauses gab uns ein doppeltes Problem auf. Erstens, warum hier die Kegel- und nicht die Bienenkorbhütte? Und zweitens, warum dann dazu noch die Form eines so eigentümlich nach vorne verschobenen Kegels?

Auf beide Fragen wissen die Eingeborenen die Antwort wohl zu geben. Kina ist vom Osten bzw. vom Nordosten her zu ihnen gekommen. Dorthin; zu den Ona-Indianern, weist also zunächst auch die Kinahütte. In der Tat, wir haben ja die großen, kegelförmigen Behausungen der Ona einige Wochen zuvor noch mit eigenen Augen gesehen. Nach allem auch, was wir über Kina der Yagan und Kloketen der Ona schon hörten, besteht kein Zweifel mehr darüber, daß irgendein kulturhistorischer Zu­sammenhang beider Einrichtungen vorhanden ist.

Auch die Form des verschobenen Kegels klärte sich bald auf. Die Kinahütte hat einen hinreichend breiten und hohen Eingang nötig, damit die als Geister gemalten und mit hohen Masken versehenen Männer beim Hinausspringen nirgendwo an­stoßen. Das Problem ist also, einerseits, wie immer, auf eine möglichste Ausnützung des Raumes Bedacht zu nehmen und andererseits den entsprechenden Eingang zu schaffen. Eine bessere Lösung dieser Aufgabe als die von den Yagan getroffene wird sich kaum finden lassen. Eine genaue Untersuchung der ,'

Hütte, in welcher die Ona ihr Kloketen feiern, wird zeigen, ob die Yagan selbst auf diesen Einfall gekommen, oder ob sie auch . den verschobenen Kegel von den ersteren übernommen haben.

Der Mittwochabend sollte den Beginn des Kinafestes schon erleben. So waren im Laufe dieses Tages alle letzten Vor­bereitungen noch zu treffen. Über das Gerüst der Festhütte wurden wieder an Stelle der früheren Felle unsere heutigen „Kulturlumpen" zur Bedeckung ausgebreitet. In und vor der Hütte war der Platz zu ebnen bzw. auch von dem Gras und anderen Hindernissen zu befreien. Denn auf diesem Platz sollten '" die „Geister" der nichteingeweihten Bevölkerung, den Frauen zumal, erscheinen und Furcht und Zittern einflößen. Es galt ferner, aus dem Wald ein ansehnliches Quantum Brennholz herzubringen, um damit für die Zeit des Festes versehen zu sein. '

Auch an diesem Tage waren wir nach Möglichkeit überall wieder mit dabei. Das war um so nötiger, weil eine außergewöhnlich warme Witterung immer noch anhielt, die sich den Eingeborenen bleischwer an die Glieder hing. Das Thermometer stieg in der Mittagszeit, ähnlich wie an den vorhergehenden Tagen, bis auf vierundzwanzig Grad Celsius, eine für jene Regionen ganz unerhörte Hitze. In dem Eifer, die jüngeren Männer besonders doch zum Schaffen anzufeuern, hatten wir schließlich auch uns selber fast zuviel zugetraut. So stellte ich in meiner rechten Hand auf einmal eine große Wasserblase fest. Auf die Eingeborenen machte das sichtlicherweise keinen schlechten Ein­druck, und so trug ich die kleine Beschwerde gerne.

Früher hatte auch die Kinahütte im Innern stets eine Bemalung erhalten. Die Alten zeigten uns, wo und wie das geschah. In halber Manneshöhe wurden rund durch die Hütte zwei bis drei Finger breite rote bzw. schwarze Striche gezogen. Die Bemalung unterblieb aber dieses Mal, einerseits aus dem einfachen Grunde, weil im Tschiechaus die vorhanden gewesenen Farben fast alle schon aufgebraucht worden waren, und andererseits beabsichtigten wir nicht, von den ohnehin schon genügend angespannten Leuten zuviel auf einmal zu verlangen.

Damit es an den bevorstehenden weiteren Festtagen an dem nötigen Proviant nicht fehle, war tags zuvor von uns schon nach zwei Seiten hin um eine Ergänzung der Vorräte ausgeschickt worden. Chris, unterstützt von Walters Sohn, ruderte nach dem sechs Stunden entfernten Ushuaia. Er hatte von dort Munition und Wein herbeizubringen. Gertie steuerte in Begleitung der Alakalufin Julia nach Punta Remolino, um Mehl, Nudeln, Tee, Fett und dergleichen Dinge mehr heranzuholen. Beide Boote taten ihr Bestes, und am Mittwoch waren sie bald nach Mittag schon wieder zurück. Für eine Ergänzung durch einheimische Produkte, Fische, Krebse, Pinguine usw., bemühten sich in gewohnter Arbeitsfreudigkeit und Zuvorkommenheit besonders Richard und Mary.

So war denn alles bereit, die Kinafeier konnte am Abend des Tages wirklich beginnen. Je näher die Zeit heranrückte, desto eigenartiger wurde die Stimmung im ganzen Campament.

Die Männer wurden stets nervöser und aufgeregter und rannten vielfach planlos hierhin und dorthin; den Frauen und Kindern dagegen fuhr sichtlich ein Schrecken durch alle Glieder. Chris, bei dem ich zwischen zwei und drei Uhr noch eine private Lektion genoß, raunte mir ins Ohr: „Ich liebe Kina nicht. Die ganze Geistergeschichte kommt mir vor wie eine Hölle." Ich er­widerte, das sei wohl recht. Aber es soll ja auch nur ein Spiel sein, sie sollten uns nur vorführen und zeigen, wie früher Kina gefeiert wurde, dann seien wir schon zufrieden. Das begriff er, wenn es ihm, wie auch den übrigen, schließlich wohl als ein etwas gefährliches Spiel vorkam, so dreist die Geister herbeizuzitieren. Denn allen mochte im Unterbewußtsein etwas von der bekannten Wahrheit schlummern: „Die Geister, die ich rief, die werd' ich nun nicht los."

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ERSTER ABEND DES KINAFESTES

a) Die Stunden vor dem Abendessen

Es ist gut fünf Uhr nachmittags geworden, da kommt Gusinde und meldet mir, daß er eben noch in der Kinahütte weilte und sah, wie die Männer schon anfingen sich zu malen. Kein Zweifel also, daß es bald losgehen wird. Das bestätigt auch der in großer Unruhe und Hast herbeieilende Santiago, dem übrigens zu unserem nicht geringen Erstaunen ganz gehörig die Nase blutet. Der Kinaspektakel macht also auch Blut fließen. Aufs höchste gespannt, aber schließlich auch von einem leisen Grauen erfüllt, verfügten auch wir uns dann zur Kinahütte hin.

In der Tat, dort waren die Vorbereitungen für die bevorstehenden Geistererscheinungen schon im vollen Gange. Sechs der Männer, nämlich Mašemikens, Calderón, Charlin, Halupens, Richard und Walter, standen bis auf die Unterhosen entkleidet und malten sich gegenseitig den Oberkörper, die Arme und die Beine bis zur Kniehöhe hinauf. Die Bemalung bestand zunächst in nichts weiterem als in breiten weißen Längsstreifen über Brust und Rücken, ebenso wie über Arme und Beine (Taf. XIV b).

Die Frauen werden von Zeit zu Zeit durch lautes Rufen vom Männerhause aus avisiert. Sie sollen auf der Hut sein und genau tun, was ihnen geheißen wird. Den Männern geht es schlecht, der große T a n o w a (ein anderer Name für Yeteite, den obersten der Teufel) hat sich gegen sie erhoben, und nun schickt er seine Geister zur Drangsalierung des Yaganvolkes.

Die Weisung an die Frauen wird bestimmter, in einer Ent­fernung von hundertfünfzig bis zweihundert Metern vom Männerhaus haben sie sich niederzulassen und der weiteren Dinge zu harren. Einzelne Frauen sind wirklich blaß und zittern vor Angst wie Espenlaub.

Nun beginnt im Männerhaus auf Weisung des Festleiters ein allgemeines Heulen. Nachdem dieses eine Weile gedauert hat, kommandiert Mašemikens einen der „Geister" aus dem Rancho hinaus. Es ist der alte Richard, der nun als „K i n a - M i a m a" den Reigen der „Geister" eröffnet. Kina-Miama gilt als der besondere Schutzgeist des Kinahauses. Richard hält einen Stab in Gesichtshöhe und tänzelt dann seitwärts, langsam ausschreitend, hinaus. Draußen vor dem Männerhause springt er hin und her, bis der Festleiter ihn zurückkommandiert. Die aus der Ferne zuschauenden Frauen glauben, bzw. sollen glauben, daß der Geist Kina-Miama hier wirklich erschienen und aufgetreten ist.

Doch das bedeutete erst ein kleines Vorspiel. Es sollte noch viel schlimmer kommen. Den Frauen wird befohlen, nun nicht von der Stelle zu gehen, sondern weiter zu warten und zum

Männerhaus zu schauen. Ein anderer Geist, der gefürchtete Kalampaša, im übrigen auch ein Geist des Kinahauses, ist soeben mit seinem Anhang heruntergestiegen und will sich zeigen. Unterdessen erhalten die amtierenden Männer die Farben des Kalampaša aufgetragen. Das ist schnell geschehen; denn es brauchen zu den weißen Längsstreifen, mit denen sie bereits versehen sind, nur noch drei bis vier Querstreifen derselben Farbe hinzuzutreten. Damit ist dann die Kalampaša-Gesellschaft schon erscheinungsfähig.

Ein allgemeines Heulen setzt nun wieder ein. Zunächst empfangen drei der sechs bemalten Männer den Befehl, sich seitwärts eng aneinander zu schließen und dann im Gleichschritt langsam aus dem Männerhaus hinauszutreten. Alle wieder­holen dabei mit emphatischer, tiefbetonter singender Stimme die Worte: Hei-Huschu, Hei-Huschu ! Draußen vor dem Männer­haus verweilen diese „Geister" etwa ein bis zwei Minuten lang, auf Befehl des Leiters treten sie dann wieder zurück. Aber bald wiederholt sich dasselbe Spiel noch einmal. Alle sechs treten nun an. Auch sie tänzeln dann in der eben angegebenen Weise aus und ein.

Während dieser Szene heulen die übrigen Insassen des Männerhauses geradezu fürchterlich, und einer schlägt mit einem zusammengerollten harten Seehundsfell fest auf den Boden. Das sind Tanowas schreckliche Schläge. Die Männer schlagen zurück und kämpfen und ringen mit dem Erzbösewicht. So wenigstens wird es den unweit ängstlich horchenden Frauen vorgetäuscht.

Der Festleiter Mašemikens kündigt eben das Erscheinen eines neuen Geistes an. Der Sohn des Kalampaša ist im Heruntersteigen begriffen. Die Frauen sollen sich wieder auf ihre alten Plätze verfügen und ihre Blicke auf das Männerhaus richten. Unterdessen bekommt Santiago, dem die Rolle zugefallen, den Sohn des Kalampaša zu spielen, die Farben dieses Geistes aufgetragen. Die weißen Längs- und Querstreifen auf dem Ober­körper bleiben ihm. Die Beine sind vollständig weiß, jeder Arm trägt vier breite weiße Ringe. Zu der ganzen Ausstattung tritt nun zum erstenmal aber noch etwas Neues hinzu: die Maske.

Die vorhin erschienenen „Geister" hatten es eigentlich etwas zu eilig gehabt. Es war nicht stilgerecht gewesen, daß sie ohne Masken (Taf. XV a) sich gezeigt hatten. Aber was wollte man machen, die „Geister" hatten keine Geduld mehr, und die Masken waren immer noch nicht fertig. Nun endlich war wenigstens eine so weit, und der Sohn des Kalampaša sollte die Ehre haben, sie als erster zutragen.

Die beiden zunächst in Bearbeitung genommenen Masken sind aus Baumrinde hergestellt (Abb. 18). Ihre Höhe beträgt etwa fünfzig, die Breite dreißig Zentimeter. Oben läuft das Rindenstück spitz zu, und hier werden die beiden Seiten der Maske zusammengenäht, damit das ganze Gebilde eine gewisse Rundung erhält, in welches dann der Kopf gerade hineinpaßt. Für die Augen sind zwei Löcher ausgeschnitten, und damit ist die Maske eigentlich schon fertig.

Entsprechend dem „Geiste', der erscheinen will, bzw. an­gekündigt ist, bekommt die Maske jedesmal ihre neuen Farben, die Farben des betreffenden Geistes nämlich. Die charakteristischen Farben des Sohnes des Kalampaša sind weiß und rot. Über den weißen Grund der Maske werden daher zu beiden Seiten rote Querstriche, nicht ganz bis zu ihrer Mitte, gezogen.

Der Sohn des Kalampaša steht immer bereit. Er übt innerhalb des Ranchos schon ein wenig das Hin- und Her­springen; denn mit der großen Maske auf dem Kopfe gehört einige Geschicklichkeit dazu, nicht in unliebsame Berührungen mit den Wänden des Hauses zu geraten.

Der Festleiter Mašemikens, das Gesicht von einem dünnen schwarzen Tuch umhüllt haltend, tritt hinaus und beginnt zu heulen: Ho, ho! Er schaut zu den Frauen hinüber und sieht sie alle in gebührender Habtachtstellung sitzen bzw. stehen. Dann wendet er sich zurück und winkt dem Sohn des Kalampaša mit einer ebenso köst­lichen als energischen Handbewegung heran­zukommen. Pscht! Santiago tanzt nun mehrere Male hinaus und wieder hinein, alles auf Kom­mando des Meisters. Ist er glücklich wieder im Männerhaus darin, dann setzt jedesmal ein lautes allgemeines Heulen seiner Insassen ein. Zuerst
H o ... h o . . . !

Dann
L a ... L a ... !
Endlich
Ga... ga...!

Endlich nimmt das Erscheinen der „Geister" vor dem Abendessen ein Ende. Ein allgemeines Waschen griff Platz, die Männer reinigten sich von den Farben und kleideten sich wieder an.

Unterdessen hatten die Medizinmänner immer wieder reich­liche Arbeit. Besonders der Männer, welche eben als Geister fungiert hatten, nahmen sie sich an. Sie betasteten deren Arme und Beine, vor allem aber die Kniegelenke. Mit einem allgemeinen T e k e t e k e t e k e ... endeten schließlich auch diese Prozeduren. Kina war uns immer als ausschließliche Sache der Männer­welt geschildert. Es überraschte uns daher nicht wenig, zu sehen, wie zwei alte Frauen, die Frau Witsch und die Frau des

Charlin (die alte Klara) (Taf. XIIb) gleich von Anfang an mit in das Kinahaus hineinziehen konnten. Wir fragten bald, wie sich denn das erkläre. Da kam nun an den Tag, daß unter Umständen auch Frauen in das Kinahaus hineingeraten konnten, nämlich dann, wenn sie in ihrer Neugierde ihm zu nahe kamen und dabei erwischt wurden. So sei es diesen beiden Alten in der Jugend passiert. Und weil sie bei der Gelegenheit den ganzen Kinaschwindel ja doch kennengelernt hätten, so dürfen sie an jeder ferneren Kinafeier ohne weiteres teilnehmen. Ewig nur bleibe es ihnen strengstens untersagt, mit Un­eingeweihten über Kina zu sprechen. Jene Neugierde übrigens werde auch dadurch bestraft, daß die bei ihrem Vorwitz Überraschten mit Gewalt in das Männerhaus hineingeschleppt wurden und sie dort in einer Ecke sitzend einen ganzen Tag lang fasten mußten.

Das künstliche Nasenbluten, das Santiago im Beginne schon hervorgerufen hatte, setzte er in unserem Beisein auch noch weiter fort. Mit einem Stäbchen arbeitete er wenig barmherzig in seinen Nüstern herum. Das Blut strich er sich dann durch das Gesicht. Ja, wir bemerkten bald, daß er auch für andere mitblutete. So nahm er von. seinem Blut und zeichnete damit die Nasengegend der alten Frauen, die im Männerhaus assistierten. In solchem Aufzuge dann eilten alle drei für einige Minuten zu dem Weibervolke und klagten dort unter Zittern und Seufzen ihre und unsere Not: „Der T a n o w a, der T a n o w a hat sich erhoben. Es ist ein fürchterliches Ringen und Kämpfen. Seht nur, wie uns das Blut davon noch im Gesichte sitzt!" Ein neuer heilloser Schrecken erfaßt die Frauenwelt. Santiago aber und die beiden alten Frauen sind bald wieder bei uns im Männerhaus, und alles vergnügt sich nicht wenig über den den nicht eingeweihten Frauen eingeflößten Schreck.

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b) Von der Zeit des Abendessens an

Der Zeiger rückt schon auf acht Uhr zu. Die Kina-Insassen, die „Geister" mit eingeschlossen, fragen nach dem Abendessen. Das können wir ihnen nicht verübeln. Denn wer arbeitet, soll auch essen. Alle haben heute - für Feuerlandverhältnisse wenigstens - bereits ein gutes Tagwerk geleistet.

Wenn früher Kina gefeiert wurde, so mußten vor allem die Kina - U g w o a l a s (die Kinakandidaten) im Männerhaus ver­bleiben und daselbst ihr Essen einnehmen. Irgendein Verwandter oder Bekannter brachte ihnen das Essen. Bei den Nicht­eingeweihten wurde dann die Fiktion aufrechterhalten, daß die guten Gaben nie bis zu den Kandidaten gelangten, sondern eine Beute der Geister würden. Man bedauerte das, ließ aber ander­seits nicht nach, immer wieder das Essen hineinzuschicken, weil man, wie unsere Dolmetscher versicherten, trotz allem die Hoff­nung nicht aufgab, daß die hineingesandten Speisen vielleicht doch einmal den armen Ubwoalas wirklich zugute kämen.

Kina sitzt den Yagan nicht sehr tief. Und beliebt ist das Schrecktheater keineswegs. Dem entspricht es, daß Kina über dreißig Jahre geschlummert hatte. Und gewiß wäre es überhaupt nicht mehr hervorgeholt, wenn wir nicht darum ersucht hätten. Ohne Frage beseelte die Alten der gute Wille, uns das ehe­malige Kina möglichst getreu zur Vorführung zu bringen. Aber anderseits wurde es ihnen doch schwer, gewisse Formalitäten in aller Strenge zu beobachten. Um das Wesentliche nicht zu gefährden, drängten wir natürlich nicht ungebührlich auf die Einhaltung dessen, was sichtlicherweise von nur untergeordneter Bedeutung war. Dazu gehörte z. B. das Essen und Schlafen in der Kinahütte. Was im Tschiechaus selbstverständlich war, schien ihnen hier belanglos. So wurde denn von allen daheim sowohl gegessen als auch geschlafen.

Im Tschiechaus waren mein Kollege und ich in allem Wesentlichen Kandidaten wie die übrigen Jugendlichen auch. Im Kina aber gestattete man uns ohne weiteres, bloß zu schauende und beobachtende Teilnehmer zu sein. Freilich in diesem und jenem konnten auch wir trotzdem aktiv in das Spiel miteingreifen.

Weitere Erfragungen ergaben, daß Kina früher meist im Anschluß an Tschiechaus gefeiert wurde. Ein eigentlicher Zwang, daran teilzunehmen, scheint nicht bestanden zu haben. Aber allgemeine Regel war wohl, daß jeder wenigstens einmal die Geschichte miterlebte. Dafür sprach gewiß auch der Umstand, daß alle wirklich alten Männer, wie Thomas, Mašemikens, Ašikantschis, Witsch, Richard und Santiago, Kina tatsächlich kannten.

Gefragt, ob die Kinageheimnisse jemals verraten worden seien an die Nichteingeweihten, erwiderten alle mit Emphase „Nein!" Das scheint in der Tat selbstverständlich zu sein: Wer eingeweiht ist, spricht außerhalb des Kinahauses nicht über diese Dinge, und wer nicht eingeweiht ist, hütet sich, danach zu fragen. Verrat wurde früher wohl, wie die Alten erzählten, mit dem Tode bedroht. Aber ob er jemals vorgekommen und ob dann mit der Drohung Ernst gemacht worden sei, eines solchen Falles erinnerte sich keiner mehr.

Der Leiter des Kinafestes heißt K i n a - T a g ä g u w a (= Kinaherr).. Die Kandidaten nennt man K i n a - U s w o a 1 a s. Doch verfolgen wir nun den weiteren Verlauf des Festes. Nach dem Abendessen war bereits gefragt, aber es war den Frauen anscheinend ein solcher Schrecken in die Glieder ge­fahren, daß sie mit seiner Bereitung sich arg verspäteten. Für einen Großteil der Kina-Insassen bereitete Gertie, natürlich auf unsere Kosten, in ihrem Hause ein gemeinsames Mahl. Seine Fertigstellung kann aber immer noch nicht gemeldet werden, und so liegen unsere Kinaleute schließlich ebenso friedlich als faul um das Feuer des Kinahauses herum. Der Geister- und Teufelsspuk ist bereits vergessen. Nur das Witzemachen und das Lachen über die zahlreichen drolligen Situationen, die es absetzte, wollen kein Ende nehmen.

Während endlich die übrigen die Produkte von Gerties Kochkunst sich munden lassen, speisen Gusinde und ich bei unseren Gastgebern Santiago und Adelaide. Auch die gute Adelaide hatte den Schrecknissen des Tages den schuldigen Tribut zahlen müssen. Es entging uns aber nicht, wie Santiago während des Essens einiges ganz leise zu ihr sprach. Adelaide zeigte sich darauf sehr erfreut und glücklich und zahlte es ihrem Santiago mit einigen Herzlich- und Zärtlichkeiten heim. Es konnte kein Zweifel darüber sein: Santiago hatte seine treue Adelaide beruhigt und ihr jedenfalls gesagt, nur keine Angst zu haben, es werde ihr nichts geschehen. Urmenschen von Feuer­land! Das Familiengefühl ist so stark, daß es selbst dann, wenn das weiberfeindliche Kina in Tätigkeit ist, doch gleich wieder durchbricht. Es haftet Kina eben nur an der Oberfläche der Seele und der Kultur der Yagan. Was anderswo im Bereiche der bekannten Männerbünde und ihrer Veranstaltungen oft nur als allzu blutiger Ernst in die Erscheinung tritt, das ist hier mehr spielerisch umgedeutet und abgewandelt.
Die Uhr zeigt soeben neun, und wir sitzen wieder im Kina­rancho. Die Weiterentwicklung des Festes bildet den Gegen­stand der Unterhaltung. Die Alten, besonders Mašemikens, führen das Wort, und die Jüngeren hören aufmerksam zu. Der Fest­leiter gibt eine Erklärung über das Kalampaša - M a t u , das gleich noch in Szene gesetzt werden soll. Alle schmunzeln ver­ständnisvoll und freuen sich schon des schönen Streiches, der damit den Frauen an diesem Abend noch gespielt werden wird. Schnell erhält jeder einen weißen Streifen in Mundhöhe auf­gemalt, und so sind wir auch äußerlich für eine derartige Handlung gebührend präpariert.

Was heißt nun Kalampaša-Matu? Wörtlich besagt es: Des Kalampaša 's Gehen (Besuch!). Der Festleiter avisiert die Frauen, indem er fragt: „Seid ihr schon zu Bett gegangen? Ich glaube nicht. Auf jeden Fall sage ich euch, seid auf eurer Hut! Es wird gewiß noch etwas geben!"

Nach einer kleinen Weile schreit er wieder in die Nacht hinaus: „Der Geist Kalampaša ist abermals herabgestiegen, ich weiß nicht, was er eigentlich vorhat. Vielleicht kommt er in eure Hütten. Legt euch nur schlafen und deckt euch gut zu. Hütet euch aufzuschauen oder euch nur zu rühren, wenn Kalampaša in eure Hütten hineintreten sollte!'4

Nun wissen die Frauen, was sie zu tun haben. Kalampaša kommt natürlich nicht. Aber die Männer wollen die Probe darauf machen, ob die Frauen auch wirklich den von den Männern gegebenen Befehlen Gehorsam leisten. Wir alle, zusammen etwa zehn Männer, schreiten nun im Gänsemarsch hinaus, äußerlich voll tiefen Ernstes und in feierlichem Schweigen. Die Probe wird in Chris' Hütte gemacht. Auf Geheiß des Anführers stellen wir uns dort alle im Kreise um das Feuer auf. In der Ecke des Raumes sehen wir richtig zwei Frauen liegen, vollständig zugedeckt, den Kopf verhüllt und regungslos. Der Anführer gibt nun ein Zeichen, und alle zusammen haben wir ein lautes Pu! hervorzustoßen. Das soll natürlich Kalampašas Stimme sein. Ein Seitenblick auf die Frauen zeigt uns, daß sie die Probe soweit bestanden haben. Das Pu! wird darauf noch einmal in derselben Weise wiederholt. Die Frauen halten aus, und so kommandiert der Leiter mit einer Handbewegung zum Abmarsch. In derselben Weise, wie wir gekommen, kehren wir zum Männerhaus zurück. Dort angelangt, wird die Gesellschaft lebendig. Da haben sie aber einmal einen besonders schönen Triumph über die Frauen davongetragen. Das Lachen und Witzemachen 'dauerte wohl eine halbe Stunde an.

Die Nachtstunden benutzten die Kina-Insassen auch dazu, das Hinausspringen mit der Maske zu üben. Auch hierzu kam es an diesem Abend noch. Viel Vergnügen bereitete uns dabei das herzliche Lachen des alten Mašemikens. Ihm rief es wohl angenehme Jugenderinnerungen wach, wenn er die Jugend von heute voll des Eifers hin und her tänzeln sah.

Die gute Stimmung, in der sich der Alte befand, veranlaßte ihn dazu auch, noch Weiteres über die Entstehung des Kinafestes zu erzählen. Kina sei früher nicht von den Männern, sondern von den Frauen gespielt worden. Aber ein gescheiter Kerl hat die Frauen heimlich belauscht und ist ihnen hinter die Geheim­nisse gekommen. Von da datiert der Umschwung der Dinge zugunsten der Männer.

Der kluge Mann war kein anderer als Löm (jetzt die Sonne). Er belauschte zwei badende Mädchen, die einander, nichts ahnend, von dem Leben und Treiben im Kina der Frauen er zählten und dabei freilich sich lustig machten über die dummen Männer, welche das nicht wußten. Da war es aus. Löm instruierte seine Leute, die Frauen wurden im Kina überfallen, und Kina

wurde künftig Männersache, mit einer ausgesprochenen Spitze gegen die Weiber.

Unter Zagen und Bangen hatte uns die gute alte Mary schon einmal unter vier Augen diese Geschichte erzählt. Sie wußte dieselbe leidlich genau. Aber während sie mit einer gewissen Wehmut der alten Weiberherrlichkeit gedachte, vergnügte es den alten Mašemikens nicht wenig, die kühne männererlösende Tat des klugen Löm schildern zu können. (Näheres noch zu Löm und zur Herkunft des Kinafestes siehe weiter unten.)

Mittlerweile war es elf Uhr nachts geworden. Wir be­schlossen den erlebnisreichen Tag. Wir wünschten einander gute Nacht, und alles zog sich zurück. Mein Kollege und ich wanderten noch ein halbes Stündchen im Mondschein am Strand des Kanals auf und ab. Die Natur forderte ihre Rechte. Das Be­dürfnis, über all die geschauten und gehörten Dinge doch ein wenig des Gedankenaustausches zu pflegen, erschien wohl ebenso berechtigt als verständlich.

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ZWEITER TAG DES KINAFESTES

Das volle Tagwerk und das späte Zu-Bette-Gehen hatte allen einen ebenso gesunden als langen Schlaf vermittelt. Am 9. März zwischen acht und neun Uhr früh fand ich mich zu nächst allein einmal im Kinahause ein. Ich traf daselbst nur den Festleiter Mašemikens. Das Bewußtsein seiner Würde und Bürde hatte ihn offenbar nicht länger ruhen lassen. Wir be­grüßten uns, und ich schaute ihm in das Pfeifchen und sah, daß er mit Tabak noch wohlversehen war. Die kleine Auf­merksamkeit tat dem Alten sichtlich wohl. Er benützte die Ge­legenheit, mir bewegten Herzens für alles zu danken, was wir ihm Gutes getan.

Der zweite, der erscheint, ist wieder ein Alter. Richard ist es. Er macht sich unverzüglich daran, den Platz vor der Kina­hütte zu erweitern. Er muß abends zuvor gefunden haben, daß er noch nicht die gebührende Breite und Länge besaß.

Nun stellen aber bald auch die übrigen sich ein, so Calderón, William, Charlin, Chris und Walter. Mašemikens wird veranlaßt, noch einmal die Geschichte zur Entstehung des Kinafestes zu erzählen. Unsere Hauptinterpreten Calderón und Chris indes zeigen sich für eine angestrengte geistige Arbeit noch wenig disponiert. Jeden Augenblick kehrt die Entschuldigung wieder „Es ist zu schwer, ja manchmal unmöglich, für diese oder jene Erscheinung einen vollständig adäquaten Ausdruck im Spanischen oder Englischen zu finden." Nun, das wissen wir schon längst. Wir verlangen , ja deshalb auch nicht mehr, als daß sie die Sache jedesmal, so gut sie können, beschreiben und umschreiben. Wir finden dann erfahrungsgemäß schon bald heraus, was und wie es gemeint ist.

In diesem Zusammenhang fällt eine Bemerkung über den bekannten englischen Missionar und Forscher Th. Bridges. Gewiß habe er sich bei weitem am allermeisten mit dem Studium ihrer Sprache, ihrer Sitten und Gebräuche abgegeben. Aber lang nicht alles, was er über sie geschrieben, sei deshalb schon richtig. Denn, statt in einem Zweifelsfalle immer wieder mit ihnen, den Yagan, Rücksprache zu nehmen, habe er es vorgezogen, mit seinem Kollegen, dem Herrn Pastor Laurence, zu diskutieren, um so zu einem positiven Ergebnis zu gelangen. Inwieweit Th. Bridges dem hiermit angedeuteten Fehler wirklich verfallen ist, wird schwer genau noch festzustellen sein. Aber interessant müssen uns doch Auffassung und Urteil der Yagan hierüber erscheinen. Sie fühlen jedenfalls ganz richtig, daß es nicht so leicht ist, ihre altvererbten Anschauungen getreu wiederzugeben.

Wer einmal am Raunzen ist, findet der Ursachen leicht noch mehr. Nun kommen die Frauen an die Reihe. Fast sämtliche Männer haben die überraschende Entdeckung gemacht, daß den Frauen von heute der ehemalige Respekt vor Kina mangelt. Ja, die alte Emilia, und sie steht da keineswegs allein, glaubt einfach nicht mehr an die Geistererscheinungen. Damit ist der Kinafurcht natürlich der Boden entzogen und ganz Kina zum reinsten Mummenschanz degradiert.

Die Aufregung, welche unsere biederen Yaganmänner ob dieser unliebsamen Wahrnehmung. bekunden, amüsiert uns nicht wenig. Ihre Eitelkeit ist verletzt. Wenn die alte Emilia wenig­stens schweigen würde. Aber daß sie es offen herausgesagt hat, sie glaube an die Geister nicht, das ist doch zu toll. Es soll ihr aber gehörig der Kopf gewaschen werden, usw. Doch auch dieser Zorn ist bald verraucht; denn eben läßt die alte Emilia, die man gerade durch die Zähne gezogen hat, aus weiter Ferne sich vernehmen: „Das Mittagessen ist fertig!" Emilia half der Gertie in der provisorischen Gemeinschaftsküche. Keiner fand, vorläufig wenigstens, den Mut, oder war dumm genug, der Alten die Leviten wirklich zu lesen.

Gegen zwei Uhr nachmittags lagern wir wieder im Kreise der Männer im Kina-Rancho. Jetzt endlich hat auch hier das „Unterbett" seine rechte Ge­stalt erhalten. Ein bestimmtes trockenes Gras ist dafür herbeigeschafft und rings im Hause ausgebreitet worden. Ebenso wie die Form des Ranchos, so weist auch dieses Steppengras nach Nordosten als dem Herkunftsgebiet des ganzen Kinaspieles.

Seit längerem schon hatten wir den alten Mašemikens emsig tätig ge­sehen, eine neue Maske, und zwar eine solche aus Fell, fertigzustellen (Abb. 19). Nun war sie so weit ge­diehen, daß er ihr die weiße Grundfarbe auftragen konnte. Höchst primitiv mutete die Methode an, die er dabei befolgte. Mit der Zunge beleckte und befeuchtete er immer wieder von neuem einen faustgroßen Klumpen weißer Erde, und damit strich er dann über die Maske. „Ländlich sittlich", bemerkte schmunzelnd mein Kollege.

Im übrigen wollte sich zunächst noch kein rechtes Leben entwickeln. Und daran war in erster Linie das andauernd schöne Wetter schuld. Für die Feuerlandgegend brannte die Sonne immer noch viel zu heiß. Wir drängten nicht, sondern warteten in Geduld den späteren Nachmittag und Abend ab.
Seit mehr denn einer Woche schon hatte die Sonne ihr Bestes getan und so Wald und Steppe in einer außergewöhn­lichen Weise ausgetrocknet. An mehreren Stellen im Bereiche des Beagle-Kanals hatte infolgedessen eine Feuersbrunst mächtig um sich gegriffen. Gewaltige Rauchwolken sahen wir schon seit einigen Tagen hier und dort himmelwärts steigen. Heute aber nehme sie beängstigende Dimensionen an. Der Himmel trübt und verfinstert sich mehr und mehr. Einzelne Indianer schauen schon nach ihren Booten. Sollte alles in Rauch und Flammen aufgehen, dann bleibt immer noch der Beagle-Kanal als sicherer Hort und Port. Glückliche Naturkinder! Zu verlieren haben sie ja nicht viel. Alles Hab und Gut führen sie leicht im Boote mit.

Soweit kam es freilich nicht. Bald erhob sich ein mäßig starker Wind, der einen Gutteil der Rauchwolken ostwärts trieb. Die Sonne allerdings zeigte nach wie vor ein ganz eigenartig

rötlich-graues Gesicht. Santiago meinte, daß sie zürne ob der Verfinsterung. Gewiß werde sie in den nächsten Tagen schon Regen senden.

Eine ziemliche Gedankenlosigkeit bedeutete es, daß Manuel gerade jetzt in der heißesten Nachmittagszeit ein mächtiges Feuer in der Kinahütte entwickelte. Er hatte sich die Mühe genommen, neues Brennmaterial herbeizuschaffen, und so glaubte er es auch gleich zur Geltung kommen lassen zu sollen. Ich bedeute meinem Kollegen, der sowieso schon schwitzen muß, gerade wie ich auch, daß ich nun nicht mehr daran zweifle, sondern dessen voll­ständig gewiß bin, daß wir wirklich auf Feuerland sind.

Ich fühle mich unterdessen bemüßigt, ein wenig zu ver­gleichen zwischen den Yaganfrauen und -männern. In den ersten Wochen hatten ja vornehmlich Vertreterinnen des weiblichen Geschlechts uns zu Diensten gestanden. In der letzten Zeit da­gegen arbeiteten wir wesentlich mit den Männern. Ich finde die Frauen im allgemeinen bereitwilliger und auch beweglicher in „geistigen Dingen", die Männer dagegen durchgehends ziemlich dick- und schwerfällig. Aber wenn sie einmal zugefasst haben, dann gehen sie tiefer als die Frauen, erweisen sich auch klarer und bestimmter als diese. Die Yagan fallen somit auch in dieser Hinsicht - das ist für den Augenblick meiner Weisheit letzter Schluß - aus dem Rahmen des Allgemeinmenschlichen keineswegs heraus.

Selten finden sich die Männer so schön und so lange ohne Sorgen zusammen,. wie nun beim Kinafest. Kein Wunder, daß sie von der günstigen Gelegenheit Gebrauch machen und einander immer wieder neue Geschichten und Mätzchen aufzutischen haben.

Eine geraume Zeit lassen wir sie ruhig gewähren. Dann aber kommt mein Kollege auf den glücklichen Gedanken, mit Hilfe der versammelten Korona das Verzeichnis der einheimischen geographischen Namen zu vervollständigen, wie es früher in Punta Remolino, wesentlich auf Grund der Angabe der Frauen, in seinen Anfängen schon fixiert worden war. Jeder Punkt, jede Bucht trägt ihren eigenen Namen. In einer knappen Stunde sind mehr denn sechzig neu festgelegt.

Im Verlaufe dieser weiteren Causerie wird offenbar, daß sowohl Walter als auch Chris in jüngster Zeit noch Blut ge­spuckt haben. Wie sie sagen, stellt nach einer größeren Anstrengung meistens eine derartige Folge sich ein. Die Tatsache bestätigt uns aufs neue, daß der Organismus urzeitlicher Jäger und Fischer nicht von heute auf morgen für so schwere Arbeiten, wie die „Zivilisation" sie mit sich bringt, trainiert erscheint. Wir lassen es im übrigen an guten Ratschlägen unseren Freunden gegenüber nicht fehlen. Vor allem sollen sie sich hüten, das Rauchen zu übertreiben. Die Mahnung wirkt derart, daß einer den Vorschlag macht, sofort sämtliche Pfeifchen ins Feuer zu werfen. Doch ein solches Vorgehen findet Santiago besonders zu radikal. Er gestattet sich einen Vermittlungsvorschlag, der dahin lautet, mit dem Verbrennen der Pfeifchen zu warten, bis der augenblicklich noch vorhandene Tabak wenigstens alle ist!

Mittlerweile ist es sechs Uhr geworden. Die Lebensgeister erwachen wieder. Bald herrscht ein bewegtes buntes Treiben, neue „Geistererscheinungen" sind in Vorbereitung.

Calderón und Mašemikens entkleiden und bemalen sich in gewohnter Weise. Calderón wird als der Geist Tulöraiaka, Mašemikens als
K i n e a k u l u n sich produzieren. Die Farben beider zeigen große Ähnlichkeit. Besonders hervorstechend sind die roten Streifen, die sie auf dem Körper tragen.

Der alte Thomas geht hinaus und avisiert die Weiber. Den Platz von gestern sollen sie wieder einnehmen und dem Männerhaus ihre gebührende Aufmerksamkeit zuwenden.,

Etwas später ruft er wieder: „Der Geist Tulöraiaka ist heruntergestiegen. Ich weiß nicht, warum er eine so böse Miene macht. Gebt wohl acht!" Fünfmal nacheinander tänzelt Calderón alsdann hinaus. Am Schluß der Vorstellung haben wir alle zu­sammen wohl eine Minute lang Ho . . . flo ... zu schreien. Nicht lange hernach verständigt Richard die Frauen. Mašemikens zeigt sich dann dreimal als der Geist Kineakulun. Alles geht dabei in der üblichen Weise vonstatten.

Acht Uhr abends im Kinahause. Es war im Laufe des Nachmittags ein zu gemütlicher Ton herrschend geworden. Wir fühlten, daß einmal fester dreingefahren werden mußte. Gusinde sprach ein ernstes Wort, und das tat, wie immer, so auch dieses Mal seine Wirkung. Die Kina-Insassen rafften sich auf und ließen am selben Abend noch sieben weitere Geister erscheinen.

Gegen achteinviertel Uhr machen Santiago und Charlin eine Inspektionstour durch das Campament, um nachzusehen, was die Frauen denn eigentlich treiben. Es dauert nicht lange, da sind sie schon wieder zurück. Sie haben alles in bester Ordnung ge­funden, Die Frauen sind alle in ihren Hütten und lauern nicht etwa aus heimlichen Verstecken nach dem Männerhause, um in sträflicher Neugierde zu sehen, was dort vor sich geht.

Die Zeit wird zunächst dazu benutzt, die gewöhnlichen nächtlichen Springübungen zu veranstalten. Richard speziell bemüht sich, mit der Maske auf dem Kopf, nicht nur seitwärts, sondern auch rückwärts hinauszutänzeln. Mit kritischem Blick beobachtet der Festleiter diese Versuche und erteilt die entsprechenden Weisungen.       ,

Dann werden die Frauen in gewohnter Weise wieder avisiert und auf den Zuschauerplatz zitiert. Richard repräsentiert sich als T u k a t s c h i y a k a ,            der       als ein Geist      des Kinahauses an­gesehen wird. Kurz darauf hat Calderón den Geist Y a g a r u - w a y a k a zu verkörpern.

Den Schluß bildet ein allgemeines
Ho-Ho-,
dann
Ta­Ta-.
Bei diesem abschließenden Geheul stehen immer alle Kina-Insassen auf. Manuel, den die Geschichte nicht übermäßig mehr interessiert, bleibt im Hintergrund liegen. Das trägt ihm einen ordentlichen Verweis des Festleiters ein. Manuel läßt sich nicht zweimal bitten. In Zukunft steht er gleich mit auf, wenn das allgemeine Indianergeheul einsetzt.

Nun kommt Chris an die Reihe, und zwar als der dem Kina günstige Geist M ö r a r a k u. Richard kündigt ihn den Frauen an, indem er sagt: „Was ist hier denn eigentlich los? Die Geister scheinen sehr erregt zu sein. Schon wieder ist einer herunter­gekommen!"

Einige Minuten sind verstrichen, da meldet sich der Wald­(Berg-) Geist U l a m i n e a k a. Santiago stellt ihn dar, und der Festleiter führt ihn vor. Letzterer ruft den Weibern zu: „Ich bin hier zwar der Herr des Hauses. Aber die Geister zeigen sich derartig stark und aufgebracht gegen mich, daß ich sie nicht zurückhalten kann. Deshalb warne ich euch, ihr Weiber, geht in eure Hütten zurück, schließt euch gut ein und deckt euch voll­ständig zu. Hütet euch, die Geister anzuschauen, wenn sie etwa bei euch vorsprechen!"

Walter spielt nun den Geist des Nordens H a n i a k a. Auch dieser gilt als Geist des Kinahauses. Richard ruft hinaus: „Fast liefen mir die Geister wieder hinaus. Ich kann sie nicht mehr festhalten. Seid daher vorsichtig, ihr Weiber!" Das Schlußgeheul und Geschrei bewegt sich abwechselnd in den Silben Go-Go-, dann Ho-Ho-, endlich Kwa-Kwa-. Der Festleiter versichert ganz am Schluß noch einmal den Frauen : „Fast. hätten mich die Geister im Fluge mit hinauf himmelwärts getragen!"

Der Festleiter selber verkörpert nun den W o n g o a l e a k u (einen bestimmten Meeresgeist). Er hat sich eine Krone aus Buchenzweigen geflochten und aufgesetzt. Farben hat er keine, denn die sollen ihm die Frauen bereitlegen. Gleich nämlich wird er in Begleitung von Insassen des Kinahauses kommen, um speziell die roten Farben von den Frauen entgegenzunehmen.

Dieser Geist (selber ein Fisch) wird der Sohn eines be­stimmten anderen Fisches (einer Walfischart) genannt, weil ein oder zwei derselben diesen zu begleiten pflegen. Er zeigt schöne Farben. Die Yagan erzählen sich von ihm, daß er mitunter auch, wenn ein Boot in die Nähe kommt, an die Oberfläche steigt und dann als ein sonderbares Wesen erscheint. Oben wie ein schönes junges Mädchen, unten wie ein gewöhnlicher Fisch.

Der Mördergeist Y o a m o l a k e m a n a        macht   an        diesem Abend mit uns Schluß. Dieser Geist war früher ein Mörder. Richard fragte die Weiber: „Schlaft ihr schon? Ich glaube nicht. Steht mal auf und hört, was es jetzt hier noch gibt!" Bald darauf fährt er fort: „Ich höre soeben, daß hier wieder etwas im Gange ist. Also gebt wohl acht! Schlaft nicht! Ich fühle mich gar nicht wohl!"

Unterdessen ist ein zusammengefaltetes Seehundsfell hervor­geholt. Einer hält es mit beiden Händen und holt zum Schlage aus. Er repräsentiert den Mörder Yoamolakemana, der nun alle der Reihe nach niederschlagen will. Angesichts der drohen­den Todesnot schreien wir zunächst alle zusammen- Hi-Hi-, Ha-- Ha-.

Nun kommen die einzelnen daran. Wir werden instruiert. Jeder muß auf seine individuelle Art schreien, damit die Frauen hören, wer jetzt gerade vom Mörder Yoamolakemana gefaßt und zu Tode geschlagen wird.

Mašemikens beginnt und heult: Ha- a- - a- -. Nachdem er so eine Zeitlang geschrien, wird mit dem See­hundsfell fest auf den Boden geschlagen. In dem Moment ist Mašemikens ruhig, er hat den Todesstreich empfangen.

Bald darauf fängt Santiago an: Aka-- Aka-- aja--. Der Schlag erfolgt, und auch er verstummt und ist tot. So dann einer nach dem anderen, bis auch wir, Gusinde und ich, unter den Schlägen des Mörders dahingesunken sind. Nach Erledigung dieser ganzen Komödie heißt uns der Fest­leiter wieder aufstehen und springen und schreien: Gags- -,Gaga- -. Wie uns erklärt wird, soll mit diesem Springen und Schreien vorgetäuscht werden, daß Geister vom Himmel ge­kommen sind, um uns „Erschlagenen" das Leben wiederzugeben. Eigentlich freilich ist es die Lachuwakipa (die Schutzfrau des Kinahauses), welche uns neu erstehen läßt.

Nun müßten alle, wie man uns weiter belehrte, mit bluten­der Nase und blutendem Gesicht zu ihren Frauen heimwärtsziehen. Diese würden

dann fragen: „Was ist denn los, was ist euch denn passiert?" Die Antwort würde sein: „Ja, das hat der Mördergeist Yoamolakemana getan."

In der Tat, der alte Mašemikens bohrt so lange in seiner Nase herum, bis sie blutet. Er streicht das Blut über die Wangen und will gleich in diesem Auf­zug auf seine Alte Eindruck machen.

Calderón ist immer gerne dabei, wenn es gilt, als Held zu  erscheinen. Nur läßt er es sich nicht allzuviel kosten. An die Bluttrophäe kann er jetzt billig kommen. Schnell geht er hin und streicht mit dem Blut des alten Mašemikens auch seine eigene Nase ein. So mit „fremden Federn" geschmückt tritt er den Heimweg an.

Wir alle tun dasselbe. Das Ruhebedürfnis ist da. Nicht allein die Arbeit, sondern auch das viele Lachen hat schließlich ermüdend gewirkt. Vor allem die Komödie mit dem Mördergeist hatte bei einzelnen fast zu Lachkrämpfen geführt.

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DRITTER TAG DES KINAFESTES

Am Morgen dieses Tages entwickelt sich in der Festhütte schon bald ein emsiges Treiben. Calderón und Santiago werden bemalt mit den Farben des Geistes des Kinahauses Wilauiläku (einer nicht ganz schwarzen, sondern mehr braunen Möwenart). Auf weißem Grunde zieren die Brust eines jeden sechs senk­recht laufende Reihen roter Punkte. Die Masken erhalten, wie immer, dieselben Farben, die Farben des Geistes, aufgetragen.

Es ist etwas Besonderes in Vorbereitung. Eine zu neu­gierige Frau soll mit mehr oder weniger Gewalt in das Kina­haus Einzug halten. Das Los ist auf die stammestreue und verschwiegene Gertie gefallen (Taf. 6 b). Alles soll bei diesem Akt so gehandhabt werden, wie früher in den Fällen, wo eine Evastochter, die von einer unwiderstehlichen Neugier gezogen dem Männerhaus zu nahe kam, in das Haus hineingeholt und in seine Geheimnisse eingeführt wurde.

Wir sehen, wie das Feuer aus der Hütte entfernt und die Feuerstelle mit Erde bedeckt wird. Man wird also den ganzen Innenraum des Hauses benötigen. Vom Eingang aus gerechnet linker Hand bringt man einen Vorhang an, indem ein paar „Kulturlumpen" im Gerüst des Ranchos befestigt werden. Schon treten die beiden Geister dahinter, um sich dort zunächst ver­borgen zu halten.

Kaum sind alle diese Vorbereitungen getroffen, da kommt schon die alte Klara und bringt die Gertie mit verbundenen Augen in das Kinahaus herein. Beide schreiten bis in das rückwärtige Ende des Ranchos, wo Gertie, die Augen auch weiter­hin verdeckt und abgewandt, sich niederzusetzen hat. Klara nimmt bald an ihrer Seite Platz. Gleich beim Eintreten der beiden rief der Festleiter dem Neuling entgegen : „Ei der Tausend, wer ist denn das?" Darauf gab er sofort das Zeichen zu einem allgemeinen Schreien und Heulen.

Die beiden Geister treten nun hinter dem Vorhang hervor und setzen die Maske auf. Auf Geheiß des Festleiters erheben sich alle Insassen des Kinahauses, auch Klara und Gertie. Letztere freilich steht auch fürderhin mit dem Gesicht zur Wand gekehrt.

Die Geister fangen an zu springen und zu heulen. Der Fest­leiter ruft hin und wieder ein Wort dazwischen. Dann nähert er sich der Gertie und befiehlt ihr, sich den Geistern zuzuwenden. Sie hält aber immer das Gesicht noch mehr oder weniger mit dem Tuch verhüllt.

Brüllend und heulend springen die Geister auf Gertie zu und gleich wieder zurück. Klara lüftet schließlich das Tuch, das Gerties Augen verschlossen hält. Nun sieht sie Santiago als Geist vor sich stehen. Sie greift zu und reißt ihm die Maske vom Kopfe. Der Geist ist entlarvt, sie weiß nun, wer die Kinageister sind. Dasselbe Spiel wiederholt sich sofort darauf mit Calderón. Ein allgemeines, immer wieder einsetzendes Indianer­geheul bildet die Begleitmusik. Ein Luftsprung, von allen gleich­zeitig ausgeführt, beendet schließlich die Komödie. Wir setzen uns. Gertie kann dasselbe tun, aber wieder mit dem Gesicht nach rückwärts. Nach wie vor hält die alte Klara treu an ihrer Seite als Gardedame aus.

Es dauert nicht lange, da beginnt der Festleiter mit einer Ansprache, zunächst an die gesamten Kina-Insassen. Er würdigt den Fall. So wie es in alter Zeit öfters geschehen, so soll auch jetzt wieder eine Frau in die Geheimnisse des Kinafestes ein­geführt werden.

Die Fortsetzung der Rede gilt im besonderen der Gertie. Damit sie um so besser wirke, setzt er sich direkt neben sie. Gertie darf sich umdrehen. Des Meisters langer Rede kurzer Sinn ist dann folgender: „Du kennst nun die Geheimnisse des Kinaspieles, du weißt, wer die Geister sind, wir Männer sind es selber. Aber hüte dich, daß du je in deinem Leben den Nichteingeweihten etwas davon sagst! Jedermann kennt dich als gute Yaganfrau. Du liebst und schätzest das Gesetz. So wirst du gewiß auch niemals das Vertrauen mißbrauchen, das wir dir heute geschenkt!"

Auch alle übrigen lauschen den Worten des Festleiters mit ebensoviel Ernst als Aufmerksamkeit. Man sieht es ihnen an, die Feierlichkeit des Augenblickes versetzt sie lebhaft in frühere Zeiten zurück. Da gab es so viele, viele Yaganleute, da konnte man Feste feiern. Die Berührung mit der Zivilisation hat ihnen nicht nur fast alle Stammitglieder geraubt, sondern bedroht auch ihre schönen alten Feste und Bräuche. Derart hat die Ansprache der Alten gewirkt, daß es hernach wohl eine Viertelstunde dauerte, bis sie allmählich wieder auftauten und ihr gewohnter Frohsinn wiederkehrte.

Das Mittagessen ist vorüber und der Kinarancho wieder unser Aufenthalt. An die drei Stunden sitzt nun schon die gute Gertie im Hintergrunde des Kinahauses, unbeweglich wie eine Statue und streng vor sich hin schauend. So ist es alte Vor­schrift, und daran hält sie sich mit äußerster Gewissenhaftigkeit. Das Feuer inmitten der Hütte ist wieder ganz überflüssigerweise zu höchster Glut entfacht. Man sieht, wie es der Gertie lästig fallen muß. Einer hat ein Einsehen, holt etliche Buchenreiser und stellt sie zwischen sie und das Feuer, um so der Geplagten einige Kühlung zu verschaffen.

Es ist nahezu zwei Uhr, da kommt den Männern der Einfall, noch einmal den blutigen Kampf mit dem großen Tanowa zu imitieren. Wir erhalten' alle die Weisung, möglichst von der Mitte des Rancho wegzurücken. Ein Stück Baumrinde, das die Form einer Rinne hat, wird herbeigeschafft und mit dem einen Ende in das Feuer hineingeleitet. In das andere, höher gehaltene Ende wird Wasser gegossen, das natürlich gleich in das Feuer einfließt und es zum Zischen und Fauchen bringt.

Das löst nun sofort ein fürchterliches Schreien und Poltern aller Anwesenden aus. Thomas verständigt die Weiber, daß der große Tanowa sich abermals erhoben hat und alle Männer um bringen will. Die üblichen Gegenmaßnahmen werden sofort in Szene gesetzt. Santiago legt sich flach auf den Boden und heult die Erde an. Alle übrigen heulen bald mit, und dann kommt es zu einem Stoßen und Trampeln, kurz zu einem Aufruhr, wie wir ihn bisher nicht erlebt hatten. Schließlich einige feste Schläge auf den Boden, der große Tanowa hat seine Drohung wahr gemacht: alle fallen wir, in eine Wolke von Staub gehüllt, wie tot zu Boden.

So liegen wir ein bis zwei Minuten lang. Das Lachen, das einzelne nicht verbeißen können, verleiht die tröstliche Gewißheit, daß noch nicht alle gestorben sind. Die ersten, welche sich wieder erheben, sind die Medizinmänner. Sie kommen zu einem jeden und sagen: „Steh auf!" Die üblichen Manipulationen sollen dann die Verrenkungen der Glieder wieder beheben, die wir nach ihrer Meinung bei dem Spektakel doch davongetragen haben.

Santiago, übereifrig wie immer, vergißt nicht, energisch sein Riechorgan zu bearbeiten, bis Blut in stattlicher Menge daraus hervorfließt. Bereitwilligst teilt er einem jeden davon aus. Dieses Mal kommt er auch zu Gusinde und mir. Ich gestehe, es war ein eigentümliches Gefühl, fremdes Menschenblut um die Nase geschmiert zu bekommen.

Nun noch der gewohnte Luftsprung und das Geheul: Ho-ho-, Kwa-kwa-, und damit schließt die bewegte Tanowaszene. Alle pflegen darnach ein wenig der wohlverdienten Ruhe.

Es dauert aber gar nicht lange, da fordert der Festleiter zu einem neuen Spiele auf. Histuku (auch ein Geist des Kina­hauses) soll gemacht werden. Die weiße Farbe wird hervor geholt, und bald schauen alle drein wie die leibhaftigen Ge­spenster. Quer über die Stirn erhält jeder dazu noch einen roten Strich aufgemalt. Alle heulen und schreien auf den Silben Heu-tu-, Heu-tu-.

Die Frauen erhalten Befehl, sich auf ihren Zuschauerplatz zu begeben. Sei es, daß sie glaubten, derlei Weisungen nicht mehr so ernst nehmen zu brauchen, sei es, daß sie überhaupt anderweitig beschäftigt waren, auf jeden Fall erschienen ihrer zunächst nur zwei auf der Bildfläche. Das entrüstete den Fest­leiter nicht wenig, und so gelobte er abermals, daß er es ihnen aber heute noch gründlich sagen werde.

Unter weiterem Heulen und Schreien formierten nun die elf anwesenden Männer, alle in Hockerstellung befindlich, eine lange Reihe. Diese bewegt sich gemächlich aus dem Rancho hinaus

ins Freie. Es währt nicht lange, da stürmen mehrere Frauen heran und versetzen den einzelnen Männern einen leichten Schlag mit der Hand oder mit einem Tuch an den Kopf. Daraufhin fallen sie alle wie tot zur Erde nieder.

Sobald die Frauen wieder dort sind, wo sie waren, da er­wachen die armen geschlagenen Männer schon wieder zu neuem Leben. Masemikens erhebt sich zuerst, dann die anderen, und bald sind alle im Männerhaus wieder vereinigt. Das Vergnügen über den der Frauenwelt gespielten Streich war kein geringes die meinten, sie seien nun alle tot, aber sie leben ja immer noch.

Auch dieses Spiel weist Beziehungen zu den Ereignissen auf, wie sie nach den Überlieferungen der Yagan an der Wiege des Kinafestes gestanden haben. Bei dem großen Kampfe, den es absetzte, als Kina aus den Händen der Frauen in diejenigen der Männer überging, töteten erstere in ähnlicher Weise eine Schar von Seehunden, so wie sie heute auch die nach See­hundsmanier einherwackelnden Männer kurzerhand ins Jenseits beförderten.

Die Sache wird stets interessanter. Wiederum eine Stelle, wo das Prinzip der Ausschließlichkeit der Männer beim Kina­feste durchbrochen erscheint. Natürlich müssen auch die Frauen erkennen, daß diese histukus, die sie totschlagen, nicht irgend­welche Geister, sondern ihre eigenen Männer sind. Sie wissen also bestimmt um den ganzen Schwindel, aber die herrschende Sitte verlangt es, daß sie äußerlich wenigstens so tun, als glaubten sie an die Geschichte.

Wie wir von Chris und Calderón des näheren hören, wurden, wie heute die Gertie, früher auch die männlichen Kandidaten in das Kinahaus eingeführt. Volle Klarheit war indes zu diesem Punkt nicht mehr zu gewinnen. Möglich, daß einzelne Kandi­daten, die während der Feier sich einstellten und zugelassen zu werden wünschten, auf dieselbe Weise in die Geheimnisse des Hauses eingeweiht wurden.

Eine Erörterung dann zur Sanktion der Kinavorschrift ergab, daß diese im letzten Grunde wesentlich dieselbe ist wie beim Tschiechaus. Auch Kina gehört mit seinen Weisungen zum alten Gesetz. Und Watauinewa will und erwartet, daß man dieses beobachtet. Tut einer das nicht, dann wird ihn die Strafe schon treffen. Ein früher Tod vor allem wird sein Lohn sein. Die Ona töten den, der die Geheimnisse des Kloketen verrät. So streng, meinen unsere Yagan, sei es bei ihnen nicht gehalten worden. Mit dem Tode wurde gegebenenfalls wohl gedroht, aber man habe wohl kaum jemals Ernst damit gemacht. Denn die gebührende Strafe ereile den Betreffenden ja doch, dem allgehenden und allmächtigen Watauinewa könne keiner entfliehen.

Daß als eigentliche Schutzfrau des Kinaspieles die Lachuwa­kipa gilt, steht außer allem Zweifel. Wie man das zu deuten hat, wissen unsere Interpreten nicht klar zu sagen. So sei die Sache einmal von den Frauen übernommen und dann stets bei­behalten worden. Aber wenn auch die Lachuwakipa als Herrin dieses Hauses anzusehen sei, so bleibe selbstverständlich der große Watauinewa auch für Kina die letzte und höchste In­stanz. Denn er ist ja der monauanakin, d. h. der höchste von allen. Im übrigen sei es ja nicht die Gestalt der Lachuwakipa allein, über die der Schleier des Rätselhaften sich ausbreite. Auch manches andere noch zum Kina Gehörige erscheine ihnen, den Eingeborenen, selbst ungeklärt und dunkel. Daß die Leute es selber fühlen, wie unorganisch Kina in ihrem Kultur- und Geistesleben dasteht, ist eine Tatsache, die wir als eine ebenso interessante als lehrreiche buchen.

Ganz versunken in die Probleme, welche Kina darbietet, hat anfangs keiner beachtet, wie dem Männerhause gegenüber im Walde Kinder ihren Spielen nachgehen. Bei der Entdeckung dieses Unfuges setzt es zunächst eine allgemeine große Auf­regung ab. Dann stürzt der sanguinische Santiago hinaus und haucht die Kleinen dermaßen an, daß sie Hals über Kopf das Weite suchen.

Es ist mittlerweile sechs Uhr geworden. Richard läßt sich bemalen, um als Asapakáiaka, d. i. der Geist des Südhimmels, aufzutreten. Die Farben dieses Geistes sind abwechselnd schwarze und rote Querstriche auf weißem Grunde.

Der Festleiter meldet den Frauen: „Der Geist A s a p a  k á i a k a war soeben herabgestiegen. Ich weiß nicht, warum er sich so schnell wieder zurückgezogen hat. Ich glaube, der wird bald wiederkommen. Seid auf eurer Hut!"

Bald darauf läßt er sich abermals vernehmen: „Warum kommt ihr denn nicht schneller aus euren Hütten heraus, um, zuzuschauen? Der Asapakáiaka ist bereits wieder da!"

Sechsmal springt Richard aus und ein. Das gewöhnliche Heulen und die üblichen Fluren der Medizinmänner beschließen die Szene.

Aufruhr und Streikdrohung im Campament! Auch dieses Forscherschicksal sollte uns nicht erspart bleiben. Doch, wie konnte es dazu kommen, bei den sonst im allgemeinen so willigen und gutmütigen Yagan?

Die Sache war einfach. Eine so angestrengte geistige Tätigkeit, wie wir sie fordern mußten, wurde naturgemäß von den einzelnen besonders in Betracht kommenden Persönlichkeiten mehr und mehr als eine drückende Last empfunden. Es kam dazu, daß beim ganzen Kinaschwindel das Herz eigentlich so wenig mittätig war. Die Yagan, unter solcher Rücksicht wie große Kinder, werfen gerne den Krempel beiseite, wenn er den Reiz der Neuheit verloren, oder wenn man zu viel auf einmal von ihnen verlangt.

Die Sache kam zum Platzen beim Abendessen. Von Chris und Calderón dazu ermuntert, um nicht zu sagen aufgestachelt, stellte der alte Masemikens sich plötzlich bei uns ein und fragte nach Wein. Wir konnten zunächst aber keinen Wein mehr verabreichen, weil sonst für die geplante Schlußfeier nichts mehr übrig gewesen wäre. Daraufhin erklärten Chris und Calderón, unsere Hauptinterpreten, kurzerhand den Streik.

Gusinde und ich überlegten schnell miteinander, was am besten zu tun sei. Daß der überwiegende Großteil der Bevölkerung uns nach wie vor geneigt war, dessen konnten wir völlig gewißsein. Wir sprachen daher mit einzelnen der Gutgesinnten, wo­mit zugleich ein Zum-Fenster-hinaus-Sprechen beabsichtigt war. So sagten wir ihnen klipp und klar heraus, daß einzig und allein Chris und Calderón die Quertreiber und Spielverderber seien.

Natürlich dauerte es keine zehn Minuten und die beiden Übeltäter wußten ganz genau, wie wir augenblicklich über sie dachten und redeten. Wir hatten an der richtigen Strippe ge­zogen. Die beiden fühlten den Boden unter ihren Füßen wanken, und so stellten sie sich als reumütige Sünder bald wieder bei uns ein. Da war schon alles wieder vergessen und verraucht. Sie hätten es nicht so gemeint, und auch fürderhin wollten sie gerne alles tun, um uns in jeder Hinsicht zufriedenzustellen. Ja, es läge ihnen wirklich daran, daß nicht mit irgendeiner Disharmonie voneinander Abschied genommen werden müsse.

Das alles war von ihnen im Grunde aufrichtig und ehrlich gemeint. Und so war es selbstverständlich, daß wir gleich mitsammen in Harmonie und Frieden weiterarbeiteten.

Der biedere Santiago fühlte sich seit einigen Tagen nicht wohl, in den Niederlanden seiner Körperlichkeit rumorte es gewaltig. Mašemikens waltet jetzt gerade als Medizinmann an ihm seines Amtes. Der Patient liegt auf dem Rücken, und der Zauberdoktor massiert ihm gründlich die Magengegend. Die Prozedur wird begleitet von Zischen und Fauchen und schließt mit einem wiederholten Püh ... Püh ... Nun sollen die krankheitserregenden Geister und Kräfte gebannt sein und damit die Besserung schon vor der Türe stehen. So schnell ging es allerdings nicht. Mein Kollege hatte noch mehrere Tage zu tun, bis er den Kranken mit Hilfe der Hausmittelchen, die er mit sich führte, wieder kuriert hatte.

Die Uhr zeigt ungefähr zehn abends. Die Alten erinnern sich, daß neben dem Mörder Y o a m o l a k e m a n a noch eine Mörderin namens K o y u t a l a i k i p a zum Kinah aus gehört. Ihr Auftreten wird sofort in Szene gesetzt. Santiago verständigt in üblicher Weise die Weiber von den bevorstehenden Schreck­nissen. Die ganze Komödie ist dann dieselbe wie beim Er­scheinen des Mördergeistes Yoamolakemana. Wieder wird einer nach dem anderen von der Unholdin niedergeschlagen.

Ungeheuren Jubel setzte es ab, als der alte Richard, der be­reits mit dem Schlafe kämpfte, zu früh, d. h. bevor sein Vorder­mann totgeschlagen war, zu schreien anfing. Sein Vordermann war der Festleiter. Dieser, witzig und launig wie immer, be­merkte dem Richard: „Du kannst es auch gar nicht aushalten, bis du umgebracht wirst!"

Unberechenbar, wie diese Naturkinder nun einmal sind, fangen sie gegen zehneinhalb Uhr nochmals an, mit der Maske auf dem Kopfe Springübungen zu veranstalten. Früher war es Sitte, daß der, welcher eine Zeitlang geübt hatte, die Maske irgendeinem zu Füßen setzte mit den Worten: „So, nun kannst du Amaim (bestimmte Beerenart) essen!" Der Angeredete antwortete darauf: „So, das nennst du Amaim essen!« Dann hatte er aber zuzugreifen, einige Sprünge wenigstens mußte er unbedingt machen.

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VIERTER (LETZTER) TAG IM KINAHAUSE

Über Nacht ist die Temperatur bis zu 4 ° C gefallen. Da weiß man die Wohltat des Feuers wiederum mehr zu schätzen. In der Kinahütte brennt es heute (11. März) bereits seit sieben Uhr in der Früh. Nicht lange währt es, und wir hocken alle abermals darum herum.

Eine gewisse freudige Eile durchzittert die Gemeinschaft. Denn vor Mittag noch soll mit Kina Schluß gemacht und bald nach Mittag wieder Einzug in Tschiechaus gehalten werden. Was Kina anbetrifft, da wissen sie auch mit dem besten Willen nichts Weiteres mehr zu sagen und zu zeigen. Sie fühlen sich bis auf den Grund der Seele ausgeschöpft, und so drängt es sie und uns, mit dem Geisterspuk aufzuhören.

Doch da haben wir alle miteinander die Rechnung wieder einmal ohne den Wirt gemacht. Gut neun Uhr, wo die „Schluß­rede° meines Kollegen gerade beginnen sollte, kommt auf ein mal der alte Ašikantschis, halb brummend, halb singend und lebhaft mit den Armen gestikulierend in das Männerhaus herein­geschneit. Der Aufzug, in dem er erscheint, ist wohl seltsam genug. Auf Kopf, Brust und Gesicht hat er die übliche weiße Farbe aufgeschmiert und das Gesicht überdies mit roten Quer­streifen versehen. Das Haupt ziert zu all dem der dem Zauber­doktor eigentümliche Federschmuck.

Ašikantschis wird auch bei den Eingeborenen nicht als geistig vollwertig betrachtet. Er ist es auch wirklich nicht. Aber man läßt ihn mit seiner alten, ihm treu ergebenen Uanaföri ziehen und gewähren. Weder beim Tschiechaus noch beim Kina be­deutete er eine Nummer.

Die Überraschung war daher keine geringe, als er nun in letzter Stunde sich noch einstellte und offenbar „wichtige" Dinge zu erledigen beabsichtigte. Die einzelnen schauten sich fragend an, aber keiner brachte es übers Herz, dem Alten die Freude zu verderben. Sie schickten sich alle ins Unvermeidliche und schauten und horchten zu, was Ašikantschis denn noch in Szene setzen würde.

Nach und nach kommt es an den Tag, was ihn drückt und was er zu tun sich gedrängt fühlt. Die verflossene Nacht hat ihm, dem vermeintlichen Zauberdoktor, lebhaft geträumt, daß Calderón als ein bestimmter Geist (Geist eines Fisches) noch aufzutreten hat. Dieser erhaltenen höheren Weisung will er un­bedingt Folge leisten.

Calderón muß sich vor ihm niederkauern, und er bearbeitet ihn dann von oben bis unten, besonders aber Kopf, Brust, Arm- und Kniegelenke. Von Zeit zu Zeit erhebt er sich und springt wieder um das Feuer herum, dabei singend und brummend: Ho . . . hong . . ., Ho ... hong ...

Endlich dann erteilt er Calderón die Weisung, sich in ge­wohnter Weise zu entkleiden und die Farben des Fiscbgeistes, den er im Traum gesehen, sich aufmalen zu lassen. Die Farben sind: senkrecht laufende rote Striche auf weißem Grunde. Chris geht unterdessen daran, auch der Maske dasselbe Farbenkleid zu geben.

Calderón steht nun in voller Ausrüstung da. Ašikantschis hält sich ständig vor ihm und brummt und singt und gestikuliert mit den Armen. Und wenn der Ašikantschis nach links oder nach rechts langsam ausschreitet, so maß Calderón sich dem stets anbequemen. Eine Zeitlang vollziehen sich diese Bewegungen innerhalb des Ranchos. Schließlich aber führt Ašikantschis seinen Geist auch hinaus und treibt dasselbe Spiel mit ihm dort weiter.

Zu guter Letzt nimmt aber auch das ein Ende. Ašikantschis dirigiert den Geist ins Kinahaus zurück. Er ist nicht wenig stolz auf seine Leistung, und beim Hereinkommen raunt er mir voll großer Selbstbefriedigung ins Ohr. „I Yekamuš toö (ich bin auch ein Zauberdoktor) ! Das reizt besonders den echten Zauberdoktor Masemikens zum Lachen.

Etwas Positives förderte die von Ašikantschis in Szene ge­setzte dramatische Handlung kaum zutage. Im Gegenteil, wir alle hatten dem Spaß zuliebe ungefähr zwei Stunden Zeit zu opfern. Eine solche Zeit abzusitzen wäre den Yagan unter ge­wöhnlichen Bedingungen gewiß nicht schwer geworden. Aber heute saßen auch sie tatsächlich wie auf glühenden Kohlen. Um so mehr erbaute es uns, daß sie trotz allem den einfältigen Alten ungestört walten ließen, bis er von selber ein Ende fand.

Als dieser Moment endlich gekommen war, da freilich atmete alles förmlich auf. Der Schluß des Kinafestes war da. Und zwar ohne Sang und Klang, ohne jede Förmlichkeit endete die Ge schichte. Also nicht wie bei Tschiechaus, wo so umständliche und rührende Schlußzeremonien in Übung sind. Allerdings, was bedeutet auch Kina im Vergleich zu Tschiechaus! So finden wir, daß der dem Kina eigene formlose Schluß gerade stilgerecht zu seinem Wesen paßt.

Kina ist also zu Ende. Mit einiger Mühe und Not haben die Alten alles Wesentliche des Festes noch einmal zusammen­gebracht, und wir konnten es schriftlich festlegen. Nicht nur Gusinde und ich, sondern auch die Eingeborenen selber standen ganz und gar unter dem Eindruck: Das war die letzte Kina­feier, welche die Erde gesehen. Über dreißig Jahre schon hatte Kina geschlummert. Die in unserem Interesse vorgenommene Wiederholung des Festes hat ihm kaum besondere neue Sympathien geschaffen.

Der Bedeutung des Augenblicks waren wir uns daher wohl bewußt. Auch hier hatten wir wissenschaftlich wertvollste Mensch­heitsdokumente in der letzten Stunde noch retten können.

Mein Kollege läßt die Gelegenheit nicht vorübergehen, ohne den lieben Freunden eine kleine Rede in spanischer Sprache zu halten. Wir sind zufrieden und dankbar für alles, was sie uns den letzten Tagen gesagt und gezeigt haben. Und wo und wie immer wir dessen mächtig sind, wollen wir Vertrauen und Mühe, die sie uns so reichlich geschenkt, ebenso reichlich zurückvergelten.

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IM  INDIANEBBOOT ZURÜCK NACH PUNTA REMOLINO

Nach Beendigung der Feste blieben wir in Puerto Mejillones noch ungefähr eine Woche lang. Auch diese Tage gab es noch alle Hände voll zu tun, so reich war die Nachlese, die wir halten konnten. Dann aber mußten wir daran denken, zur anderen Seite nach Punta Remolino zurückzukommen. Die Frage war nur: wie? Der „Garibaldi", das wußten wir, war derzeit anderweitig beschäftigt, also nicht disponibel. Zum weiteren Warten fehlte die Zeit und wohl ein wenig auch - die Geduld. So war es denn bald klar, daß die Überfahrt, wenn überhaupt schon, dann im Indianerboot zu machen sei.

Das Wetter machte aber für mehrere Tage noch einen Strich durch unsere Rechnung. Das Barometer stand ständig tief, und ohne Unterlaß brausten so starke Stürme, daß weder ein Indianer noch einer von uns an eine Überfahrt ernstlich dachte.

Endlich aber nach mehrtägigem Harren und Bangen ein Nachmittag, an dem es schien, daß eine Überfahrt gewagt werden dürfte. In möglichster Eile wurden die letzten Vorbereitungen getroffen: zwei Boote wurden flott gemacht und mit ihnen gegen ein Uhr die Fahrt angetreten.

Das eine Boot, dem mein Kollege sich anvertraute, wird bedient von seiner „Patin" Gertie und von der guten alten Peine, also von zwei weiblichen Matrosen. Ich bestieg das Boot meines „Paten" Santiago, das dann auch von diesem und seiner Gemahlin (meiner „Patin") Adelaide betreut wird. In jedem Boot also drei Personen, dazu unser Gepäck, die Apparate, die ethnologischen Objekte usw. Die Boote erscheinen voll belastet.

Kurz vor der Abfahrt frage ich noch die alten Männer: „Nun, wie ist's, können wir es wagen?" Darauf meinten sie treu­herzig: „Ja, aber eine ordentliche Brise werdet ihr schon haben. Aber dann geht's um so schneller!" Sie meinen, der Wind bläst dann in das kleine Segel (als Segel dient diesen Indianern heute für gewöhnlich ein aufgeschnittener Sack, den sie an einer mitten im Boot stehenden Stange befestigen) so mächtig hinein, daß wir nur so hinüberfliegen werden!

Die „ordentliche Brise" läßt nicht lange auf sich warten. Saum sind wir einige hundert Meter vom Ufer weggefahren, da fängt die Tanzerei auch schon an. Das Boot, in dem ich mich befinde, hat einen kleinen Vorsprung gewonnen. Aus dem anderen, dem mein Kollege sich anvertraut hat, dringen Hilferufe an unser Ohr. Dieses Boot erweist sich als zu schwer belastet, es dringt zu viel Wasser ein, obwohl eine der Frauen ständig mit Aus­schöpfen beschäftigt ist.

Als tüchtige Seeleute wissen nun unsere Yagan sich gleich zu helfen. Die Boote nähern sich einander, und mein Kollege erhält die Weisung, in unser Boot überzusteigen. Bei schwer bewegter See geht das nicht ganz ohne Schwierigkeiten vonstatten. Aber es gelingt doch, und nun nehmen beide Boote den Kampf mit den erregten Elementen wieder auf.

Kaum aber sind einige Minuten verstrichen, da zeigte sich nun unser Boot als zu schwer belastet. Meine „Patin", obwohl ununterbrochen schöpfend, kann des einströmenden Wassers schwer mehr Herr werden. Am rückwärtigen Ende des Bootes, wo mein Kollege und mein „Pate" sitzen, fließt das Wasser durch die offenen Spalten und Ritzen nur so herein. Mein „Pate" schreit nach einem Tuch, einem Taschentuch, um damit die bösen Spalten zu verstopfen. Ich reiche ihm schnell das größte Taschen­tuch, das ich bei mir trage. Erstaunt fragt noch der Empfänger: „Das ganze Taschentuch!?" - „Jawohl," sagte ich, „stecke es nur hinein, ich gebe es schon für mein Leben." Das tat er aber nicht, sondern er trennt säuberlich ein Drittel etwa herunter. Damit verstopft er die Ritzen, das übrige läßt er - ich hatte ja ausdrücklich darauf verzichtet- dankend in seine Tasche wandern.

Bei dieser ganzen Manipulation hat er dann noch die Naivität, um nicht zu sagen Unverfrorenheit, zu bemerken, daß er doch sehe, wie notwendig eine gründliche Ausbesserung des Bootes sei. Morgen wolle er aber gleich daran gehen. Ein schöner Trost für uns, wo wir das Schlimmste der Fahrt noch vor uns haben! Unterdessen entfernen wir uns mehr und mehr vom Ufer, von dem wir ausgefahren sind, und nähern uns schon der Mitte des Kanals. Die See wird immer unruhiger, die Wellen gehen stets höher. Unser Boot beschreibt in seinem Lauf die tollsten Bahnen. Ich bemerke zwar bald, daß dieses zum Teil von meinem „Paten", der es steuert, direkt veranlaßt wird. Kommt nämlich eine größere Welle drohend heran, so wirft er ihr das Fahr­zeug schnell mit dem Kielende entgegen. Wehe uns allen auch, schlüge eine von den großen Wellen, die da kommen, der Länge nach in unser Boot hinein!

Wir sind auf der Mitte des Kanals, in der gefährlichsten Region. Wir alle schweigen, denn wir sind uns des Ernstes der Lage wohl bewußt. Der sicherste Beweis hierfür liegt im Be nehmen unserer Indianer, vertraut mit der Gegend und ihren Wettern von Jugend auf. Der südwestliche Himmel, die Sturm­und Regenecke, zeigt eine eigentümliche, schwarz gestreifte Fär­bung. Das kann nichts anderes als ein Mehr des Sturmes be­deuten. Besorgt schaut immer wieder meine „Patin", ihre Schöpfarbeit für einen Moment unterbrechend, hin zu den Unheil kündenden Gebilden. Und deutlich sehen wir's ihr an, daß sie zum hohen Herrn da oben betet

Uchaia mötawaku, hitapuan,     tökamatu      anen! Bitte, sei gnädig, mein Vater, nimm (rette) das Boot! Einige Tage zuvor waren wir über dieses Gebet gerade von ihr und ihrem Gatten des näheren belehrt worden.

Wie wir alle, so vermochte auch mein „Pate" den Ernst des Augenblicks nicht zu verleugnen. Aber sein vorherrschend sanguinisches Temperament kam doch insofern zu seinem Recht, daß er mitten in dieser Situation uns zu trösten und aufzurichten suchte mit den Worten: „Solange das Boot nicht voll Wasser steht, ist nichts zu fürchten!"

Daß auch auf uns der Ernst der Lage seine Wirkung keineswegs verfehlte, leugne ich nicht. Diese Stunde im Indianer­boot mitten auf dem Beagle-Kanal wird mir gewiß zeitlebens unvergeßlich bleiben. Ein eigenartiges Gefühl und Bewußtsein, so - im buchstäblichen Sinne des Wortes - haarscharf am Rand der Ewigkeit vorbeizusegeln, nicht wissend, ob man schon im nächsten Augenblick hineingleiten wird. -

Die scharfe Brise treibt uns unterdessen verhältnismäßig rasch voran. Segel und Segelstange, für die wir von Anfang an fürchteten, halten wider Erwarten aus. Auf einmal ein zu­friedenes, stilles Lächeln auf dem Antlitz meiner Patin, sie sagt: „Das Schlimmste ist vorüber, die mittlere, die gefährlichste Zone des Kanals, ist bereits passiert!"

Mit einem stillen, aber um so aufrichtigeren „Gottseidank" quittieren wir diese frohe Botschaft. Jedoch ist noch keine Zeit zur lauten Freude; denn wir können nicht wissen, ob die im Westen stehenden geheimnisschwangeren Wolken nicht plötzlich noch ein Unheil bringen werden. Dazu kommt, daß wir bangen müssen für das zweite Boot, das ja nur von zwei Indianerfrauen betreut wird. Um einige sechs- bis siebenhundert Meter hinter uns zurückgeblieben, befindet es sich jetzt gerade in der eigent­lichen Gefahrzone, die wir eben glücklich passierten. Der Atem droht zu stocken, wenn man einen Blick zurückwirft. Tatsächlich tanzt das Boot wie eine Nußschale auf den Wellen hin und her, auf und ab. Manchmal legt es sich so schief, oder sinkt so tief in ein Wellental hinab, daß für einige Augenblicke nichts davon mehr sichtbar bleibt. Ein um so angenehmeres Aufatmen dann, wenn es bald darauf von einer Welle hochgetragen wieder anzeigt, daß es sich immer noch kühn behauptet.

Das drohende Unwetter entlud sich vorderhand noch nicht, das Wetter stand. Und das war unser Glück. Bei dem scharfen Winde waren wir sogar in eineinhalb Stunden von dem einen Ufer zum anderen gekommen, während bei normaler Brise die Indianerfahrzeuge mindestens zwei volle Stunden dafür benötigen. Daß wir von großem Glück sprechen konnten, kam uns etwa eine Stunde nach der Landung erst voll zum Bewußtsein. Denn da hatte sich das vorhin nur drohende Unwetter schon voll entladen. Der Sturm heulte, wie er eben nur auf Feuerland heulen kann, die See toste und schäumte, als zürne sie darob, daß wir ihrer Gewalt so schnell entwischt waren.

Wir erschauerten ein wenig bei dem Gedanken, was sich wohl ereignet hätte, wenn dieses Unwetter eine gute Stunde früher schon losgebrochen wäre. Man wird verstehen, daß wir da nochmals unseren Dank nach oben sandten. So wie wir vorher im Verein mit unseren treuen und biederen Indianern, dankend für die glückliche Landung, schon gesprochen hatten Annu, hibikaia komostekude hitapuan! Ja, du bist uns gnädig gewesen, mein Vater! Agarg hitapuan!

Dank, mein Vater!

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WIE WIR ZUR ENTDECKUNG DER RELIGION DER YAGAN KAMEN.
 DIE NAMEN DES HÖCHSTEN WESENS

Das umstrittenste der Yaganprobleme war ohne Frage das­jenige ihrer Religion. Darwin hatte die Feuerländer geschildert als vollständig gott- und religionslose Leute, und als solche figurierten sie bald in Tausenden von Büchern.

Viel schwerer freilich als das Zeugnis des durchreisenden Darwin mußte die gleichlautende bloß flüchtig Aussage der englischen Missionare in die Wagschale fallen, die seit 1859 im Gebiete der Yagan ihre Tätigkeit entfalteten. Sie erlernten die Sprache der Eingeborenen, und mehrere von ihnen, so Th. Bridges und J. Laurence, verweilten jahrzehntelang an Ort und Stelle. Th. Bridges vor allem schenkte uns eine Reihe von größeren und kleineren Publikationen zur Sprache und zur Ethnographie seiner Pflegebefohlenen. Und wenn nun darin stets die Meldung wiederkehrte, daß er von höheren Ideen, namentlich aber von der Idee eines höchsten Wesens, nichts gefunden habe, so war dieses negative Zeugnis zur Religion der Yagan gewiß ernster Beachtung wert.

Aber andererseits konnte auch damit für den Fachmann die Angelegenheit noch lange nicht als erledigt erscheinen. Denn es lag klar zutage, daß auch Th. Bridges' Forschungen uns kein erschöpfendes Bild der geistigen Kultur der Yagan darboten. So hatte er, um hier nur eines zu nennen, von der Einrichtung der geheimen Jugendweihe uns nicht einmal den Namen, ge­schweige denn deren Inhalt und Wesen mitgeteilt. Die Er­forschung der Yagan wies also klärlicherweise noch bedeutende Lücken auf. Und so mußte eine methodische Forschung natürlich damit rechnen, auch auf dem Gebiete der Religion noch inter­essante Überraschungen zu erleben. Bei Gelegenheit seiner zweiten Feuerlandreise im Jahre 1920 hatte Gusinde einmal eine Anzahl von Yaganmännern um sich versammelt, die ihm verschiedenerlei Stammestraditionen übermittelten. Da hörte er nun zum ersten Male von einer großen Flut, die nach alter Überlieferung der Yagan auch jene Gegenden einmal heimgesucht hat. Gusinde fragte natürlich: „Wer hat denn jene große Flut geschickt?" Die Frage machte alle verstummen. Verlegen schauten die einzelnen zu Boden oder beiseite, und keiner wagte zunächst, eine Ant­wort zu geben. Da Gusinde aber weiter drängte, so ermutigte sich schließlich Alfredo und sagte: „Watauinewa hat jene Flut geschickt." Selbstredend fragte darauf Gusinde weiter: „Wer ist denn dieser Watauinewa?" Jetzt wurde die allgemeine Verlegen­heit vielleicht noch größer. Und wiederum dauerte es eine Weile, bis einer den Mut fand, auch diese Frage, wenn auch nur ganz kurz, zu beantworten. Man sagte: „Watauinewa ist wieder Gott der Christen." Damit war aber Schluß. Die Männer weigerten sich, mehr zu dem Thema zu sagen. Und das Mit­geteilte blieb das einzige, das Gusinde 1920 zur Religion der Yagan in Erfahrung bringen konnte. Diese Frucht war noch nicht völlig gereift. Erst im Jahre 1922 sollte sie uns, wohl als Lohn für die mühevolle vorbereitende Arbeit, die Gusinde 1919 und 1920 schon geleistet hatte, in den Schoß fallen.

Als wir zu Anfang 1922 einige Wochen auf Feuerland ver­weilt, und auch ich schon etwas tiefer in die Psyche der Ein­geborenen hatte hineinschauen können, da begann naturgemäß das religiöse Problem von neuem sein besonderes Interesse aus­zuüben. Ich erinnere mich, wie ich eines Tages, es dürfte der 16. oder 17. Januar 1922 gewesen sein, zu meinem Kollegen sagte: „Angesichts der ganzen ethischen Haltung, welche die Yagan allgemein hervortreten lassen, sollte es mich aber sehr wundern, wenn diese, gewissermaßen in der Luft hängend, ohne ein entsprechendes religiöses Fundament wäre, vor allem, wenn dabei jeder Glaube an ein höchstes Wesen fehlen sollte." Mein Kollege zuckte die Achseln und verwies auf die dürftigen Brocken zurück, welche er zwei Jahre zuvor zu diesem Punkt hatte sammeln können und die er selber mit einem ziemlich großen Fragezeichen, mit der Bemerkung nämlich, versehen hätte: „Wer weiß, vielleicht christlich-missionarischer Einfluß?"

Schneller, als wir es von vornherein vermuten konnten, sollte der Schleier auch von dem Geheimnis des religiösen Lebens der Yagan sich lüften. Die Woche vom 22. bis zum 29. Januar 1922 brachte uns das Licht in eine Sache, die bis dahin allen Weißen wie ein mit sieben Siegeln verschlossenes Buch geblieben war.

Wie so oft, so fanden wir uns auch am Montag, dem 23. Januar, nachmittags im „Waschhaus" zusammen, wo drei bis vier ältere Yaganfrauen uns Geschichten und Mythen des Stammes zu erzählen pflegten. Auf einmal fiel der Name Wa­tauinewa. Natürlich ließen wir die Gelegenheit nicht unbenutzt verstreichen, sondern knüpften gleich daran an und fragten  „Wer ist denn dieser Watauinewa?" Die Frage brachte die an­wesenden Frauen nicht wenig in Verlegenheit. Niemand ant­wortete, sondern alle schauten, wie betreten, vor sich oder bei­seite. Als wir weiter drängten und sagten, daß es für uns wirklich von Interesse sei, über Watauinewa Näheres zu hören, da er­mannte sich schließlich die alte Mary und sagte: „Watauinewa like God, like Christian God."

Damit waren wir glücklich wieder so weit, als Gusinde zwei Jahre früher mit Hilfe der Männer schon hatte kommen können. Da die Frauen genau dasselbe sagten wie die Männer, und das Benehmen der Indianer bei Berührung dieses Gegenstandes immer auffälliger wurde, so hieß es vorsichtig weiterforschen; denn es wurde immer klarer, daß hier etwas unter der Decke schlummerte, das aus irgendeinem Grunde nicht an den Tag wollte. An diesem Nachmittag freilich sollten wir noch nicht viel Neues dazu er­fahren. Das einzige, das wir aus der Mary noch herausbrachten, war die Mitteilung, daß beim Tode eines Kindes oder eines sonstigen lieben Anverwandten die stehende Redeweise sei: „Wa­tauinewa punishes him", das heißt: Watauinewa schickt den Tod als Strafe, sowohl dem, der davon betroffen wird, als auch seinen Angehörigen.. Aber auch diese Mitteilung wollte nur schwer heraus. Nur langsam und unter stets erneuter Zurückdrängug starker ent­gegenwirkender Gefühlsregungen kam die gute alte Mary endlich so weit. Damit war aber wieder Schluß. Nichts vermochte sie dazu zu bewegen, uns mehr über Watauinewa zu erzählen. Ja, unser wiederholtes Verlangen, mehr von dem Hohen Herrn da oben zu vernehmen, erlitt noch eine köstliche Abfuhr. Gut denn, so sagten die Frauen schließlich, dann werden wir euch etwas erzählen über Okotomakalo-Watauinewa. Natürlich glaubten wir, nun irgendeine Geschichte über Watauinewa in Erfahrung bringen zu können. Die Enttäuschung, die wir erlebten, war nicht gering. Denn bald zeigte sich, daß hier wohl der Name Watauinewa vorkommt, aber von dem „Watauinewa like God" rein gar nichts sich vorfindet. Okotemakalo-Watauinewa heißt nämlich nichts anderes als: Die uralte Geschichte von Okotemakalo, d. h. die Geschichte, welche sich am Platze namens Okotemakalo, im westlichen Bereiche des Kanals Beagle, zu­getragen hat. So hatten uns die alten Yaganweiber in wirklich feiner Weise an der Nase herumgeführt. Wir schauten uns an und bemerkten zueinander: Heute ist jedenfalls nichts mehr herauszubekommen. Den Frauen sprachen wir unseren Dank aus für das, was sie uns bereits mitgeteilt hatten. Aber nun sollten sie einmal miteinander überlegen, wann und wie sie uns das übrige, das sie von Watauinewa wüßten, erzählen könnten. Es brauche ja nicht gerade heute zu sein, aber an einem der folgenden Tage möchten sie unseren Wunsch erfüllen. Unsere Bitte wurde schweigend angehört. Irgendeine Reaktion erfolgte nicht. Anscheinend apathisch und interesselos schauten sie alle zu Boden und ließen uns unseres Weges ziehen. Wir fragten uns: „Was wird's denn genauer sein und wird's an den Tag kommen?"

Zwei bis drei Tage verstrichen. Watauinewa schien ver­gessen. Aber das war wirklich nur scheinbar so. Señora Laurence hatte wieder einmal, ohne viele Worte zu machen, im stillen gearbeitet und alles trefflich vorbereitet. Am Mittwoch, dem 25. Ja­nuar, war es, da stellte sie sich bei uns ein und sagte: „So, jetzt kommt mal mit ins Waschhaus, jetzt werden Adelaide und ich euch alles über Watauinewa erzählen." Das ließen wir uns. nicht zweimal sagen, und der Erwartungen voll verfügten wir uns unverzüglich zum Sitzungsraum.

Adelaide mußte kommen, und zwar sie allein, keine von den anderen Frauen. Den Grund dafür, daß nur diese und Señora Laurence anwesend sein durften, sollten wir sofort er fahren. „Uns beide," so leitete Señora Laurence die Sitzung ein, „hat Watauinewa nicht gestraft, uns hat er keine Kinder sterben lassen, und so brauchen wir nicht beschämt zu sein, wenn in unserer Gegenwart von ihm die Rede ist. Wir dürfen frei von ihm sprechen. Aber all den anderen Frauen hat er Binder weg­genommen, sie fühlen sich von ihm bestraft und lieben es deshalb nicht, daß in ihrer Gegenwart von ihm gesprochen wird."

Die Überraschung, die wir hiermit erlebten, war schon keine geringe. So also erklärte sich das sonderbare Benehmen der Leute, wenn wir sie in cumulo nach Watauinewa gefragt hatten. Stets waren solche dabei gewesen, die den Tod lieber Binder oder sonstiger Angehöriger betrauerten. Wir dankten den beiden Frauen und suchten sie zu ermutigen, nun frisch uns alles zu erzählen, was sie über Watauinewa wüßten. Dieser Er­mutigung bedurfte es freilich, wie wir zu unserer Freude bald bemerkten, nicht mehr. Die beiden fühlten sich jetzt unbehemmt, und so begannen sie ohne Verzug damit, uns die verschiedenen Namen zu sagen, welche sie für Watauinewa, das höchste Wesen, gebrauchen.

Watauinewa erscheint als der offizielle, eigentliche Name. Er besagt soviel als „der Uralte, der Ewige". Mit derselben Wurzel hängt auch das uns schon lange bekannte Wort W a t u w a zusammen, das       soviel als „alte Erzählung, alte Ge­schichte" bedeutet.

Ein anderer, sehr häufig gebrauchter Name ist Hitapuan. Hitapuan heißt wörtlich: „Vater von mir", also „mein Vater". H a u i m u n besagt dasselbe. wie, Hitapuan. Aber während Hauimun gewöhnlich einen irdischen, menschlichen Vater bezeichnet, so bleibt der Ausdruck Hitapuan im allgemeinen dem Vater da oben (who is like a father, gemäß der Erklärung der Frauen) reserviert.

Weitere Bezeichnungen des höchsten Wesens sind: M o n a u a n a k i n , d. h. der Allerhöchste (derjenige, welcher höher steht als alle anderen, auch über alle Geister, die es sonst noch gibt). A b a i l a k i n heißt          „der Allmächtige". Der Verstärkung dient es, wenn man sagt: Haiemhulu-Haiemhulu-Abai­

I a k i n, d. h. „der überaus, der ganz Mächtige".            K al a i e c h o n „der gute Alte dort oben". Watauinewa - e s a k u bedeutet Watauinewa, der Felsenharte. So wird er benannt besonders mit Rücksicht darauf, daß er oft unbarmherzig die lieben Angehörigen sterben läßt. Watauinewa- sef, „der Uralte im Himmel droben"; denn sef heißt Himmel.

Die hauptsächlicheren der im vorigen Kapitel genannten Namen für das höchste Wesen hörten wir gleich am ersten Nachmittag von den beiden Frauen Señora Laurence und Adelaide.

WIE DIE YAGAN SPRECHEN UND BETEN ZUM „HOHEN HERRN DA OBEN“

Die anderen lernten wir im Laufe der Zeit bei ähnlichen Ge­legenheiten kennen. Denn es war ja selbstredend, daß wir nun des öfteren noch auf dieses Thema zurückkommen mußten. Und nicht allein mit diesen beiden Frauen sprachen wir über Wa­tauinewa, auch die übrigen, Männer sowohl wie Frauen, wurden bald herangezogen. Wir wußten ja>, warum sie es nicht liebten, daß in ihrer Gegenwart über Watauinewa gesprochen wurde: sie alle hatten ja Kinder oder sonstige liebe Angehörige durch den Tod verloren. In vorsichtiger, wenn auch bestimmter Weise redeten wir den einzelnen zu, sich einmal für ein Stündchen über das Gefühl des Widerstrebens hinwegzusetzen; denn auch von ihnen müßten wir etwas darüber hören, was sie von Wa­tauinewa dächten und glaubten. Ob dieser Zumutung brummten sie meistens wohl ein wenig, aber sie erfüllten schließlich doch unsere Wünsche.

Ja, es entging uns nicht, daß ihnen das Reden über Watauinewa uns gegenüber im Laufe der Zeit stets weniger Schwierigkeiten bereitete. Und das kam daher, daß sie bemerkten, wie auch wir

es mit dem Hohen Herrn da oben wirklich ernst meinten und nicht lachten und spotteten über Gott und Religion, so wie sie es bei so manchen Weißen (sogenannten Christen!) beobachtet hatten. Einige Frauen und Männer, mit denen wir nicht in eine so häufige und enge Berührung gekommen waren, beobachteten fast bis zum Schlusse unseres Aufenthaltes eine ziemlich strenge Reserve, wenn wir das Watauinewathema berührten. Sie schauten ans dann immer wieder in so charakteristisch forschender und fragender Weise in die Augen, als wollten sie sagen: „Ja, ist es euch denn wirklich Ernst damit, und werdet ihr nicht über diesen unseren Glauben lachen und spotten?"

Schon gleich am ersten Nachmittag, wo Señora Laurence und Adelaide uns über die Namen des höchsten Wesens der Yagan berichteten, hörten wir nicht nur diese, sondern lernten auch einige kurze Gebetsformeln kennen, mit denen Wa­tauinewa angeredet zu werden pflegt. Im Laufe der Zeit sammelten wir von solchen Gebeten und Sprüchen gut sechzig, alle in der Eingeborenensprache mit einer möglichst getreuen Übersetzung. Ihrem Charakter nach lassen sie sich bequem in vier Gruppen aufteilen. Zu unterscheiden sind: 1. Klage­gebete, z. Bittgebete, 3. Dankgebete und 4. Aussprüche neutraler Natur, d. h. Redeweisen, die in rein objektiver Weise die Oberherrlichkeit und Macht Watauinewas zum Aus­druck bringen.

Beinahe die Hälfte aller Formeln, die wir so sammeln und festlegen konnten, sind Klagegebete. Auch die Yagan ringen stark mit dem Problem des Übels in der Welt, und besonders der Tod, der auch ihnen als der Übel größtes erscheint, birgt für sie so viel des Dunkeln und Rätselhaften. Warum schickt Watauinewa das alles, warum läßt er so oft selbst die lieben Kleinen schon sterben? Dieser Gedanke vor allem ist es, den die einzelnen Klagegebete so oder so variieren.

Hitapuan, kömödekun n` haia kakupa tutumeuwakete?

 Mein Vater, warum mich von oben er hat gestraft?

So reden besonders die Frauen, denen Watauinewa Kinder hat sterben lassen. Adelaide und Señora Laurence erinnerten sich, daß beispielsweise Anita oft und oft diese Worte klagend wieder­holte, denn alle ihre Kinder hatte sie durch den Tod verloren. - Bei den weiteren Beispielen in dieser Publikation verzichten wir auf die Wiedergabe der einheimischen Texte. Sie werden natürlich ihre Stelle finden in der späteren größeren, ausschließlich wissenschaftlichen Veröffentlichung.

In anderen Klagesprüchen geht man weiter, es kommt zum Rechten und Streiten mit Watauinewa. So heißt es: „Ah, darum also schenkte der von oben mir in freundlicher Weise das Kind, um es selbst mir wieder wegzunehmen!" Oder: „Ah, so also hat mir mein Vater das Kind heimlich wieder weggenommen!" Der alte Alfredo ruft öfters aus: „O weh, der da oben ließ sterben alle meine alten Tschiechaus-Genossen !" Die, mit welchen er früher die Jugendweihe durchmachte, sind bereits alle durch den Tod hinweggerafft.

Der Inhalt einiger weiteren Klagerufe ist: „Wegen des Unglückes, das mir der von oben gesandt hat, trauern und weinen ständig alle meine Anverwandten !49

Eine Witwe rechtet tief betrübt und sehr erregt mit Watauinewa: „Er selber soll dann heruntersteigen und mich heiraten [für mich sorgen]!" Oder auch: „Der da oben hat den Mann mir hinweggenommen, er komme daher herunter und er­nähre meine Kinder!"

Andere Äußerungen der Trauer: „Wegen des einzigen Kindes, das er mir noch ließ, fürchte ich, o Trauer!" Ferner: „Bald wird er wohl kommen, um auch mich hinwegzuraffen, o Trauer!"

Die Frau fordert ihren Mann auf: „Du bist stark, ich bin schwach. Töte du alle Vögel und Tiere draußen, denn sie ge­hören ja ihm [dem Watauinewa]. Tue ihm so dasselbe, was er mir getan. Nur einen Knaben (oder ein Mädchen) ließ er mir noch und den (oder das) wird er bald auch wohl noch holen wollen!" Diese heftigen Worte werden auch heute noch oft ge­braucht, besonders dann, wenn das viele Sterben ihnen schmerz­lich an die Seele greift.

„Wo könnte ich doch einmal Watauinewa sehen und mit ihm sprechen!" Sie möchten ihm klagen und ihn fragen, warum denn er die Lieben so früh sterben ließ.

Gegen Ende unseres Aufenthaltes bei den Yagan hatte eines Abends die alte Peine mit bloßen Füßen einen Gang durch den allzufrüh [Ende März!] gefallenen Schnee zu uns zu machen.

Wir wurden bei der Gelegenheit gleich darauf aufmerksam ge­macht: „Gebt acht, die Peine spricht mit dem Hohen Herrn da oben!" Und was sagte sie? Sie fragte ihn: „Hast du denn deine Augen geschlossen? Siehst du nicht, wie ich hier mit den bloßen Füßen durch den Schnee laufen muß? Ich habe es dir einmal gesagt, mein Vater!"

Wir kommen zu den Bittgebeten, welche unsere Yagan gelegentlich zu Watauinewa hinaufzusenden pflegen.

In diesem Sinne ist vor allem häufig das Gebet um Erfolg beim Fischfang, bei der Jagd, überhaupt bei der wichtigen Arbeit des Nahrungserwerbes.

„Wohlan, mein Vater, sei uns heute gnädig!" Ähnlich bitten sie um günstige Witterung: „Mein Vater, gutes Wetter laß mich sehen!"

Die Mutter fleht um die Gesundung des Kindes: „Wohlan denn, mein Vater, sei mir gnädig (mach mein Kind wieder gesund) !"

„Bitte, mein Vater, sei gnädig, rette das Boot ans Land!" So beten jene, die bei schwerem Sturm sich in Seenot befinden. „Wohlan denn, o Vater, gib uns gnädig wieder Gutes, o Trauer!" So spricht man, wenn die Zeit der großen Trauer, die nach dem Tode eines der nahen Anverwandten etwa ein Jahr lang andauert, vorüber ist.

Bei Gelegenheit der Tschiechaus-Feier wurden wir von Adelaide einmal freundlich darauf aufmerksam gemacht, daß sie eben dem alten Richard, der gerade mit gewohntem Eifer und Geschick den Vorsänger spielte, einen auf Watauinewa bezüg­lichen Spruch gesagt habe. Er lautete: „Möge der da oben dir ein starkes Herz geben, während du hier sitzest und singst!"

Ja, auch eine Art A b e n d g e b e t kannten die Yagan, das, wenn nicht regelmäßig, so doch des öfteren gesprochen wurde. Zur Zeit, wo alles abends sich zur nächtlichen Ruhe ausstreckte, sagte dann ein Alter: „Wohlan denn, möge uns alle der Vater einen guten neuen Tag sehen lassen", oder: „Möge der Vater da oben uns morgen allen gnädig sein!"

Gemäß den von uns gemachten Erfahrungen und Aufzeich­nungen ist bei den Yagan das Dankgebet ebenso häufig als das Bittgebet. Allgemein dann, wenn das Bittgebet Erhörung gefunden, vergißt man nicht, dem „Hoben Herrn da oben" auch gebührenden Dank zu sagen. Die kürzesten und gebräuchlichsten Formeln hierfür sind: Asars oder Katekede Hitapuan! d. h. Dank, mein Vater! Oder auch: Asars Kalaiechon! Dank, du guter Alter!

Ist die Bitte um gutes Wetter oder um Erfolg bei der Jagd, beim Fischfang usw. erfüllt worden, so heißt es auch: „Dank dir, mein Vater, du bist uns heute gütig gewesen!"

Gesundet das Kind wieder, um dessen Leben die Mutter schon gebangt hat,, so spricht sie: „Dank dir, mein Vater, du hast dich uns beiden gnädig gezeigt; ich bin glücklich über das, was mein Vater getan hat!"

Die Insassen des bedrängt gewesenen Bootes danken, wenn sie glücklich wieder sicheres Land unter den Füßen haben, mit den Worten: „Wohlan denn, mein Vater, du bist uns gütig gewesen; gnädig hast du uns das Boot ans Land geführt, wir sind glücklich (zufrieden) mit dem Vater!"

Auch dann, wenn nach dem langen, rauhen Feuerlandwinter der Frühling wieder ins Land zog, stiegen wohl Dankessprüche zu Watauinewa empor: „Wohlan, das neue Jahr (der neue Sommer!) ist da, Dank [dem Vater]!"

Sprüche und Redeweisen der vierten Art, also solche, die nicht direkt als Gebete gelten können, sondern nur in rein ob­jektiver Weise eine Anerkennung des höchsten Wesens bedeuten, sind besonders folgende.

Wenn einer eine gefährliche Tagestour zu unternehmen hat, so sagt er beim Hinausgehen wohl: „Falls der Vater da oben gütig gegen mich ist, dann komme ich zurück; falls aber mein Vater beliebt mich zu nehmen, d. h. mir ein Unglück zustoßen zu lassen, dann suchet mich !

Wer im Begriffe steht, eine längere Reise anzutreten, und sich von den anderen verabschiedet, der hört den Gegengruß: „Ja, Abschiednehmen für immer, wenn es Watauinewa mittlerweile gefällt, einen von uns sterben zu lassen!" Gerade auch, was diesen Gruß anbelangt, konnten wir feststellen, daß er zu­mal den alten Yaganleuten ebenso geläufig und selbstverständ­lich ist, wie etwa dem Osterreicher das „Grüß Gott!" oder ,Auf Wiedersehen, wenn Gott will!"

Die mannigfache Kontrolle, der wir alle diese Gebete und Sprüche unterwarfen, zeigte uns zwar, daß ein Großteil derselben einen ziemlich fixen Wortlaut hat. Aber hinreichend oft stießen wir auf diese oder jene Variante. Als Sklaven der Form erschienen uns die Yagan in keiner Weise. Sie sprechen eben mit dem „Hohen Herrn da oben" nicht nur relativ oft, sondern tun es gerne auch so, wie der Augenblick es ihnen eingibt. Beispiele dafür konnten oben schon angeführt werden. Die alte Peine, die mit bloßen Füßen durch den Schnee schreiten mußte, ließ dem Herzen und der Zunge freien Lauf. Ähnlich die gute Ade­laide, als sie im Tschiechaus plötzlich die Anwandlung spürte, den alten Richard zum weiteren kräftigen Singen zu ermutigen. Ferner auch der alte Alfredo, welcher den Tod seiner ehemaligen Tschiechaus-Kollegen beklagte usw.

Die Leute versicherten uns denn auch stets wieder, daß es keineswegs unbedingt notwendig sei, beim Sprechen und Beten zu Watauinewa sich der alten überlieferten Formeln zu bedienen,

sondern jeder könne das auch in seiner eigenen freien Weise machen. Gegen Schluß der Feierlichkeiten auf Navarin impro­visierte uns Calderón z. B. folgendes Gebet: „Ruhig und geschützt vor Hauutschella (einem bösen Geiste) feiern wir hier Tschiechaus. Wir sind auch zufrieden mit diesen beiden Weißen (Gusinde und Koppers). Sie haben teilgenommen an der Tschiechaus-Feier. Sie sind gut gegen uns und haben uns versprochen, uns immer zu helfen. Uns bleibt dann ein Gebiet, wo wir ruhig den Winter verbringen können. Wenn nur nicht der Mörder im Himmel' [Watauinewa] herunterkommt, um uns zu töten. Dank dem Wa­tauinewa, daß wir hier noch weiter aufwachen (leben) werden. Watauinewa wird hier noch weiter uns hüten und beschützen, wie in diesen Tagen so auch in Zukunft. Auch diese beiden Weißen wird er beschützen, er unser Vater. Dank, mein Vater, Dank, mein Vater!"

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WATAUINEWAS EIGENSCHAFTEN

Es war kaum notwendig, die Eingeborenen noch viel nach Watauinewas Eigenschaften zu fragen; denn diese treten einerseits in dem Namen, anderseits in den Gebetsformeln hinreichend klar zutage. Es wird indes nützlich sein, sie hier noch einmal kurz in einer mehr systematischen Weise zusammenzustellen.

So war schon zu erwähnen, daß Watauinewa soviel heißt als der Uralte, der Ewige. In der Tat wußte niemand anzugeben, woher denn Watauinewa komme. Er ist einfach da, und sein Name besagt, daß er schon immer da war.

Aber nicht nur ist er da, sondern er ist auch überaus mächtig (Abailakin). Er gilt im besonderen als der Herr über Leben und Tod. Er schenkt das Leben, aber er nimmt es auch wieder weg. Er kann Kranke heilen, kann aus Gefahr erretten, kann schönes Wetter senden u. dgl. m.

Er ist folgerichtig denn auch der Herr und Besitzer von allen Dingen. Der stehende Ausdruck Watauinewa-sirh, d. h. des Watauinewa Ding oder Dinge, legt dafür ein schönes Zeugnis ab. Besonders die Lebewesen, die Vögel wie auch die anderen Tiere, gelten als seine Dinge, als sein Eigentum. Watauinewa-sirh deckt sich wesentlich mit unserer Bezeichnung „Gottesgabe, Gottesding".

Daß Watauinewa auf Grund dieser ganzen Auffassung. Er ist höher als alle anderen, seien es gute, seien es böse Geister. Und wenn einer der bösen Geister oder ein Yekamuš (Medizinmann) jemandem einen Schaden zufügt, so vermag er doch nichts auszurichten gegen den Willen Watauinewas. Für alles Unheil, besonders aber auch für den Tod, ist er daher im letzten Grunde stets der Verantwortliche. So kommt es nicht nur in den zahlreichen Gebeten zu Watauinewa zum Ausdruck, sondern so wurde es uns z. B. auch von Calderón und Chris, die als die Intelligentesten des Stammes schon mehr reflektieren als die übrigen, stets wieder eigens betont.

Watauinewa gilt im Grunde ohne Frage als ein guter Gott. Er trägt den Vaternamen (Hitapuan), weil er laut den Erklärungen der Eingeborenen ist wie ein Vater. In der Tat, die weitaus häufigste Titulatur, mit der Watauinewa be­dacht wird, ist Hitapuan (mein Vater). So bitten sie den Vater da oben denn um alle möglichen Gaben und Gunsterweisungen. Schenkt er die Gewährung, dann danken sie auch dem Vater.

Der Bezeichnung Hitapuan ähnlich ist das im übrigen weit seltenere K a l a i e c h o n, das soviel heißt als „Der gute Alte". In demselben Sinne kommt hin und wieder auch das Wort Tanowa in Betracht. Es bezeichnet einerseits den obersten der bösen Geister, der im Kina vor allem seine große Rolle spielt. Aber anderseits hat es auch den Sinn von „ein guter alter Gentleman". Wie mir Pastor J. Laurence erzählte, war auch er im Laufe der letzten Jahre nicht selten mit diesem Titel von den Yagan schon beehrt worden.

Gilt Watauinewa an und für sich den Yagan als ein guter Gott, so sehen sie anderseits in ihm doch auch denjenigen, der die Menschen, und so oft auch selbst die kleinen Kinder schon sterben läßt. Schmerz und Trauer, die sie ob der Verluste empfinden, bohren so tief, daß sie daher, zumal im Affekt, auch von dem „Mörder im Himmel" reden.

Kein Zweifel besteht darüber, daß die Yagan Watauinewa als einen Geist auffassen. Der Geistbegriff erscheint bei ihnen überhaupt relativ hoch entwickelt. Gefragt, was sie denn unter Geist verständen, gingen sie bei der Erklärung immer wieder vom Winde aus. Watauinewa ist der höchste und größte Köšpik (= Geist). Als Geist ist er dann natürlich auch unsichtbar. Diejenigen, welche ihm zürnen ob des Todes lieber Angehörigen, möchten ihn gerne irgendwo treffen und mit ihm sprechen, aber er ist unsichtbar und daher auch unerreichbar.

Als Watauinewas besondere Wohnstätte gilt der Himmel. Deshalb die stehende, oft gebrauchte Wendung: Watauinewa-sef (sef heißt Himmel). Das ist aber nicht so zu verstehen, als sähe er nicht, was hier auf der Erde vor sich geht. Nein, der Tschiechaus-Jugend wird ausdrücklich gelehrt, daß Watauinewa alles sieht und weiß, selbst das, was sie im Verborgenen tun. Man kann ihm also nichts verheimlichen, die Eigenschaft der Allwissenheit zeichnet ihn somit aus.

Mit besonderer Sorgfalt waren wir darauf bedacht klar­zustellen, ob Watauinewa auch in das Reich des Mythos irgendwie hineingeraten erscheine oder nicht. Keine Spur davon war zu entdecken. Im Gegenteil, obwohl Gusinde 192 bereits mehr denn dreißig längere und kürzere Erzählungen und Mythen mitgeteilt erhielt, so war ihm Watauinewa trotzdem immer noch eine unbekannte Größe geblieben. Die Mythen und Sagen handeln über alle möglichen Geister und Wesen, aber Watauinewa als solchen lassen sie vollständig aus dem Spiele.

Um auch in bezug auf diesen Punkt eine noch größere Klarheit zu gewinnen, stellten wir die einzelnen Indianer, Männer und Frauen, auf die Probe, indem wir mit der gleichgültigsten Miene von der Welt die Frage an sie richteten: „Wir möchten nur wissen, mit wem denn der Watauinewa verheiratet ist." Die Antwort auf diese Frage war jedesmal dieselbe: ungemein ver­dutzte Gesichter, so wie sie dieselben stets zu machen pflegten, wenn wir eine nach ihrer Auffassung recht blöde Frage gestellt hatten. „Watauinewa verheiratet!", so etwas hatten sie in ihrem Leben noch nicht gehört. Señora Laurence, gewissenhaft wie sie war, meinte zwar treuherzig: „Ich habe nie davon gehört, aber ich will einmal die ganz Alten fragen, die wissen es vielleicht." Aber auch die wußten es nicht. Chris, dem wir später dieselbe Frage vorlegten, rief entrüstet aus: „Wer hat das gesagt?" Wir erwiderten: „Niemand hat das gesagt, aber wir fragen nur so." Da schaute auch er uns halb fragend, halb mitleidig an, als wollte er sagen: „Macht ihr dumme Witze oder hegt ihr Weiße wirklich so verrückte Ideen?"

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URSPRÜNGLICHKEIT DES WATAUINEWA­GLAUBENS

Der außergewöhnlichen Bedeutung der Entdeckung der Watauinewa-Anschauungen bei den Yagan wurden wir uns, naturgemäß bald bewußt. Handelte es sich doch um die Feuerländer, welche seit Darwin in der ganzen Welt als das Muster­beispiel vollständiger primitiver Religions- und Gottlosigkeit immer wieder aufzumarschieren hatten. Und nun demgegenüber der Glaube an ein höchstes Wesen, so klar und bestimmt, wie er von wenigen primitiven Völkern nur bekannt ist. Es war unsere selbstverständliche Pflicht, mit besonderer Sorgfalt die volle Klarstellung gerade dieses Punktes anzustreben.

Wir fragten zunächst die Leute selber: „Woher habt ihr das, war euch das früher schon eigen oder wurde es von der christlichen Mission übernommen?" Die Frage fand stets die selbe Beantwortung: „Das haben wir nicht erst von der Mission gelernt, sondern immer schon gehabt."

Überaus günstig war der Umstand, daß noch einer von den alten Missionaren, J. Laurence, an Ort und Stelle weilte. Zeit­lebens werde ich des Sonntagnachmittags (29. Januar 1922) gedenken, wo ich zum ersten Male mit den bis dahin eingeheimsten Watauinewa-Resultaten bei dem lieben alten Herrn mich vor­stellte. Er zeigte sich ob unserer unerwarteten Funde zunächst nicht wenig bestürzt und meinte: „Dreiundfünfzig Jahre bin ich jetzt hier und habe dergleichen nie gehört." Ich erwiderte darauf: „Das mag sein, aber es kommt jetzt darauf an, fest­zustellen, was denn mit der Sache los ist, so oder so: ursprüng­liches Gut oder christliche Entlehnung. Bitte, prüfen wir zu­sammen, Sie sind ja der Yagansprache mächtig, sowohl die Namen des höchsten Wesens als auch die Sprüche, mit denen die Leute sich an dasselbe wenden." Mit der ihm eigenen Liebenswürdigkeit willfahrte J. Laurence sofort - und ähnlich später immer wieder, wenn ich ihn darum ersuchte - dieser Bitte.

Das Ergebnis der ersten Überprüfung war gleich, daß J. Laurence erklärte: „Weder die Namen noch die Gebets­formeln verraten in irgendeiner Hinsicht die Entlehnung aus einer christlichen Sprache. Alles macht einen durchaus ursprüng­lichen und echten Eindruck." Gewiß folgte J. Laurence der richtigen Empfindung, daß dann, wenn die Begriffe auf die Missionare oder sonst auf europäisch-christlichen Einfluß zurück­gingen, natürlich auch die Bezeichnungen dieselbe Herkunft ver­raten würden. Aber das war in keinem Falle so. Im Gegenteil, der alte Herr fand bald heraus, daß zumal in den Gebeten und Sprüchen Wörter und Redewendungen vorkämen, wie sie in der tagtäglichen Umgangssprache nicht mehr im Gebrauche waren. Diese Feststellung bedeutete uns eine schöne Bestätigung dessen, was wir auch aus dem Munde der Eingeborenen schon wieder­holt vernommen hatten. Wie so häufig sonstwo auf der Welt, so weisen denn auch bei den Yagan die Gebete vielfach bereits veraltete sprachliche Formen und Wendungen auf.

Natürlich nahm nun der alte Herr selber auch bald Ge­legenheit, über Watauinewa mit den Eingeborenen zu sprechen. Das Ergebnis war und blieb das gleiche: Den Yagan ist von Haus aus ein relativ klarer und bestimmter Eingottglaube eigen.

Von Martin, Fred und Alberto, den Söhnen des Herrn J. Laurence, waren in den Tagen unseres damaligen Aufenthaltes auf Feuerland nur die beiden letztgenannten daheim. Natürlich befragten wir auch diese nach ihrem Wissen über Watauinewa; denn wir hatten bald erkannt, daß diese, auf Feuerland ge­boren und erzogen, mit der Sprache sowohl als mit den An­schauungen der Yagan vielfach besser noch vertraut waren als ihr alter Vater. Alberto nun gab an, daß er hin und wieder den Namen Watauinewa leise und undeutlich wohl sprechen gehört, aber sonst nichts Näheres von ihm erfahren habe. Fred dagegen, seit Jahren mit einer Vollblutyagan verheiratet, sagte uns gleich: „Freilich, das habe ich schon lange gewußt; allerdings habe ich mich nie eingehender darum gekümmert." Wir erlaubten uns darauf die Bemerkung: „Aber warum haben Sie denn das nicht bekanntgegeben?" Darauf erwiderte Fred Laurence gewiß ganz richtig: „Aber, meine Herren, wie kann ich hier wissen von dem Interesse, das Europa für die Religion der Feuerländer hegt!" Die Antwort leuchtete uns ein; denn das Abgeschlossene und Weltentlegene der Gegend kam uns selber ja auch mit jedem Tag von neuem und stets mehr zum Bewußtsein. Diese Lage der Dinge macht es auch einiger­maßen wenigstens erklärlich, daß Herr Fred Laurence selbst mit seinem Vater nie über diesen Gegenstand gesprochen hat. Freilich fand auch er es nicht restlos verständlich, daß die Missionare, sein Vater mit eingeschlossen, nicht zur Erkenntnis dieser Sache gekommen waren, von der er seit langem wußte 1.

Nun gingen wir wieder zu unseren alten Indianern und fragten sie: „Aber warum habt ihr das früher den Missionaren nicht gesagt? Die hätten doch ein Interesse daran gehabt, etwas von eurem Watauinewa-Glauben zu vernehmen." Auf diese Frage erhielten wir für gewöhnlich folgende Antwort: 1. „Die Missionare haben uns darnach ja gar nicht gefragt. Und wenn sie nicht fragten, so fühlten wir uns auch nicht veranlaßt, ihnen über Watauinewa etwas zu erzählen." Und 2. „Wenn die Missionare über derlei Dinge mit uns sprachen, dann fühlten wir doch immer wieder bald heraus, daß sie uns bedeuten wollten: Was ihr da habt, das sind nur Lügen, das müßt ihr alles vergessen. Und das hat, so versicherten uns die biederen Leute, unserem Herzen wehe getan. Denn wenn die Missionare von dem Gott der Christen erzählten, dann merkten wir doch bald: das ist derselbe wie unser Watauinewa!"

Keine Frage, objektiv genommen, muß die Arbeit der Missionare unter den Yagan als eine unzulängliche bezeichnet werden. Persönlich sind sie besonders insofern zu entschuldigen,

als man sichtlicherweise verabsäumt hatte, ihnen die wünschens­werte allgemeine Durchbildung und Schulung mit auf den Weg zu geben. Natürlich hätten sie sich erst ganz anders um das Eigenleben ihrer Pflegebefohlenen kümmern müssen, um dann anknüpfend an das Bestehende das Neue aufzubauen. Und wie leicht wären gerade bei den Yagan die Anknüpfungspunkte ge­geben gewesen!

Der alte Pastor J. Laurence hat das dann auch wohl erkannt, und er sagte uns in diesem Sinne: „Hätte ich doch vor vierzig bis fünfzig Jahren mich um diese Dinge bemüht, wie ganz anders wäre dann die Missionsarbeit einzurichten gewesen! Dazu schwebte uns immer wieder Darwins Aussage vor Augen, der gemäß er die Feuerländer als vollständig religionslos be­funden habe." Wir trösteten den lieben Herrn: „Es war das nicht der erste und einzige Fall, wo Missionare, sei es der einen oder der anderen Konfession, derartige Fehler sich schuldig machten!" Der herrschenden Zeitmeinung, daß so primitive Menschen höhere religiöse Ideen nicht haben könnten, sind eben selbst die Missionare hier und dort zum Opfer gefallen.

Aber als wahrer Freund der Yagan, denen er sein Leben geweiht, hat sich der gute alte Herr schließlich doch recht herz­lich darüber gefreut, daß wir den Watauinewa-Glauben an den Tag gefördert hatten. Wie auf uns, so verfehlte auch auf ihn die Tatsache ihre Wirkung nicht, daß es diesem Urvölkchen ausgesprochen am Abend seines Daseins noch vergönnt sein sollte, der Welt seinen uralten Glauben an Watauinewa bekannt werden zu lassen. Wiederholt beglückwünschte J. Laurence uns zu unseren so überraschenden Resultaten und stand nicht an, die gewiß mehr ihn als uns ehrenden Worte zu sagen: „Selbst wenn ich noch fünfzig oder hundert Jahre hier leben sollte, die Eingeborenen würden mir das Vertrauen nicht schenken, dessen Sie sich bei ihnen erfreuen können."

Unvergeßlich wird uns auch das frohe Leuchten bleiben, das uns aus den Augen der Eingeborenen entgegenstrahlte, als wir ihnen schließlich sagten: „Ja, euer Watauinewa ist im Grunde wirklich derselbe wie der Gott der Christen." Endlich eine Anerkennung des Höchsten und Heiligsten, das sie haben, eine Anerkennung, auf die sie tief im Herzen drin das Anrecht immer schon spürten, aber tatsächlich solange nicht finden konnten! Noch sehe ich z. B. den alten Richard vor mir stehen, damals, als wir auf Navarin das Schlußfest feierten, wie er ge­rade hierfür tränenden Auges immer wieder dankte, indem er sagte: „I thank you, I thank you!"

Textfeld: ' Neues Licht in dieser Angelegenheit hat mir mittlerweile die Durchsicht des immer noch im Manuskript vorliegenden Lexikons der Yagansprache verschafft, das wir Th. Bridges verdanken. Da stellte sich nämlich
die interessante Tatsache heraus, daß Bridges gerade das, worin die Yagan ihre höchsten Güter erblicken, nicht kennengelernt hat. Das rund 32000 Wörter zählende Wörterbuch meldet weder etwas von dem Glauben an Watauinewa noch von Tschiechaus, der Jugendweihe! Diese Tatsache ist gewiß um so bedeutungsvoller, da ihm, wie das Manuskript im übrigen erweist, doch etliche Szenen aus dem von den Yagan weniger geschätzten Männerfest „Kina' und der Medizinmännerschule (siehe weiter unten) mitgeteilt worden sind.

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TOTENBESTATTUNG UND UNSTERBLICHKEITSGLAUBE

Die am meisten übliche Bestattungsart scheint früher das Verbrennen gewesen zu sein. So wenigstens berichteten uns übereinstimmend die Alten, und mehrere von ihnen hatten die eine oder andere Verbrennung, sei es der Leichname von Er­wachsenen, sei es von Kindern, noch miterlebt. Dem Einfluß der englischen Mission, wie überhaupt der Berührung mit der Zivilisation, dürfte es zuzuschreiben sein, daß seit einer Reihe von Jahren ausschließlich das Erdbegräbnis herrschend ge­worden ist.

Nach den Mitteilungen von Fred Laurence, der gerade über diesen Punkt vieles noch hatte erleben bzw. erfragen können, wurde die Verbrennung bald nach dem Tode vorgenommen. Ob diese in der Hütte oder an einem anderen Platze voll­zogen wurde, das hing von den gerade gegebenen Umständen ab. Mit dem Toten wurde vielfach auch dessen persönliche Habe den Flammen überantwortet; so folgten z. B. dem Manne Speer und Harpune, der Frau Ruder und Binsenkörbchen. Als Motiv der Verbrennung dieser Utensilien wußten sie immer wieder nur anzugeben, daß es geschehe, um durch deren Anblick und Gebrauch im Schmerze über den Verlust des lieben Verstorbenen nicht ständig erneuert zu werden.

Die Verbrennung der Gegenstände fand jedoch keineswegs immer statt. Auch den Yagan lag doch manchmal daran, daß gute Geräte und Waffen nicht ohne weiteres der Vernichtung überantwortet würden. Sie schufen sich daher einen Ausweg. Er bestand darin, daß die Angehörigen die Gegenstände, welche die lieben Verstorbenen im Gebrauche hatten, gegen die­jenigen eines Fernstehenden vertauschten. So war beidem, der stetigen Wiederholung des persönlichen Schmerzempfindens und der Vernichtung der ihnen wertvollen Objekte glücklich ausgewichen.

Drei Feuer- bzw. Rauchsäulen bildeten das Trauersignal. Sie gaben auch der Nachbarschaft Kunde davon, daß der Tod ein Opfer gefordert hatte.

Neben der Verbrennung scheint hin und wieder auch ein Erdbegräbnis vorgenommen worden zu sein. Man schaufelte dann das Grab mit Hilfe der Ruder meistens in den großen verhältnismäßig lockeren Muschelhaufen, wie sie so charakteristisch sind für die Hauptlagerplätze der Yagan. Vorzugsweise Kinder­leichen fanden laut der Versicherung der Alten eine derartige Bestattung.

Verbrennung oder Bestattung des Leichnams wurde auf jeden Fall bald nach Eintritt des Todes vorgenommen. Hernach wurde die Stätte möglichst unkenntlich gemacht, mit Steinen und Zweigen bedeckt, so daß der Fremde nicht ahnen konnte, daß hier die Asche eines Yagan ruhte. Der Platz wurde dann unter allen Umständen verlassen und, wenn es sich um einen Erwachsenen handelte, für die nächsten fünf bis sechs Jahre wenigstens, nicht wieder zum Lagerplatz gewählt. Bedeutend früher kehrte man gegebenenfalls zurück, wenn es die Leiche eines Kindes gewesen war.

Als Motiv für die Verbrennung der Toten scheint die Furcht, daß sonst bestimmte Tiere, wie Füchse, Ratten, Hunde von dem Leichnam fressen möchten, stark mitwirkend gewesen zu sein. Der Gedanke nämlich, daß der menschliche Kadaver von den genannten Tieren gelegentlich benagt oder angefressen werden könnte, macht die Yagan direkt erschaudern. Das beste Mittel, dem vorzubeugen, war jedenfalls die Verbrennung. Denn bei dem Mangel geeigneter Werkzeuge und bei dem vielfach steinigen Boden hatte es naturgemäß seine Schwierigkeit, ein tieferes Grab zu schaufeln.

Ratten, Mäuse, Füchse, welche also bei den Yagan stark im Verdachte stehen, gelegentlich an den menschlichen Kadaver heranzugehen, sind deshalb auch absolut von ihrem Nahrungshaushalte ausgeschlossen. „Wie kann man diese Tiere essen, so wiederholten uns stets von neuem die Alten, man käme dann ja in Gefahr, Menschenfleisch zu verzehren. Und das geht doch nicht!« Daß Darwin die Yagan zu Unrecht der Menschenfresserei beschuldigt hatte, war von den englischen Missionaren wieder­holt schon bekanntgegeben worden. Hier offenbarte sich uns ein neuer schöner Beweis dafür, wie tief ihnen der Abscheu vor dem Genuß des Menschenfleisches im Blute sitzt.

Gegen Schluß unseres Aufenthaltes erzählten wir übrigens einigen Männern, daß man die Yagan früher als Kannibalen hingestellt habe. Die Antwort darauf war ein traurig-schmerzvolles Schweigen. Sie blickten zu Boden, und uns war es, als wollten sie sagen: „Also auch das noch haben uns die Weißen angedichtet, das, was wir seit jeher so ganz besonders ver­abscheuen!"

Irgendein Weiterleben der Seele kennen die Yagan unzweifelhaft. Ululufdala heißen die Seelen (die Köšpiks) der Verstorbenen. Sie sprechen besonders auch von den Seelen der Zauberdoktoren und der im Wasser Umgekommenen. Ja, es ist auch die alte Anschauung vorhanden, daß die Seelen der Toten zum Osten fliegen und von dort besonders bei Nacht zurück­kommen in den Beagle-Kanal hinein, was vor allem die Medizin­männer wahrnehmen zu können vorgeben.

Aber wo und wie existieren diese U l u l u f o a l a?       Das ist das große Problem, wo den Yagan die klare Antwort und An­schauung fehlt.

Auf jeden Fall konnten wir wiederholt auch feststellen, daß ihnen die christliche Lehre von der leiblichen Auferstehung der Toten am Ende der Zeiten die größten Schwierigkeiten bereitet hatte. Die Missionare hatten zumal bei Gelegenheit des großen Kindersterbens, wie es zu verschiedenen Zeiten wütete, den trauernden Eltern immer wieder gesagt: „Tröstet euch, denn ihr seht die Kleinen später so wieder, wie sie jetzt von euch ge­gangen sind!" Das, so meinten sie, sei doch nicht möglich, denn man sehe doch, wie der Leib der Verstorbenen zergehe, zu Staub und Asche werde.

Aber die Köpiks, die Seelen der Verstorbenen, was ge­schieht mit ihnen? Auf diese Frage erhielten wir stets wieder die oben schon erwähnte ziemlich unbestimmte Antwort. Der Glaube an irgendein Weiterleben nach dem Tode ist ganz klar vorhanden. Aber wie ist es beschaffen? Das wußten sie nicht. „Und darum", so sagte uns z. B. Gertie, „sind wir ja so traurig, wenn einer von uns stirbt. Denn wir wissen ja nicht, was nach dem Tode sein wird, ob unsere Kö?piks sich sehen und sprechen können oder nicht, ob sie glücklich sind oder nicht. Alles das wissen wir nicht, und darum trauern wir so beim Tod der Lieben."

Hier angelangt, führten wir die Leute vorsichtig auf das Problem der Vergeltung. Sie selber sprachen doch von guten und von schlechten Leuten. „Wird nun ein schlechter Mensch dasselbe Los haben wie ein guter?" Darauf erwiderten sie: „Ob's nach dem Tode noch eine Belohnung oder eine Strafe gibt, das wissen wir nicht. Aber anderseits ist auch sicher, daß ein schlechter Mensch nicht ohne Strafe davonkommt. Ein schlechter Mensch wird nicht alt, sondern stirbt früh: Watauinewa ver­kürzt ihm bzw. seinen Kindern zur Strafe für seine Schlechtigkeit das Leben."       .

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DIE YAGAN IN IHRER TRAUER UM DIE TOTEN

Die Yagan kennen eine mehr p r i v a t e,  e i n z e 1 n e und eine öffentliche allgemeine Trauer. Alles was zur Totentrauer irgendwie Bezug hat, faßt der Ausdruck Talauwaia zusammen.

Wie stark den Yagan der Schmerz um die lieben Toten an die Seele greift, das offenbarten bereits die oben aufgeführten Klagerufe und Trauergebete zu Watauinewa.

Die Yagan benennen einen jeden nach dem Orte, wo er das Licht der Welt erblickte. Dieser Umstand hatte zur Folge, daß gewöhnlich mehrere denselben Namen tragen. Nun gilt aber, daß der Name eines Verstorbenen mehrere Jahre lang nicht ge­nannt wird. Stirbt daher einer, der mit anderen gleichen Namens ist, so werden die überlebenden Namensvettern künftighin mit neuen Namen angerufen. Herr Fred Laurence erzählte uns, wie er z. B. auf diese Weise schon zweimal im Munde der Ein­geborenen zu einem neuen Namen kam. Gefragt nach dem Grunde, warum sie die Namen der Toten nicht mehr nennen wollen, antworteten die Yagan stets nur: „Aus Respekt!"

Die ersten Tage nach dem Tode eines der Anverwandten pflegten die Yagan mehr oder weniger strenge zu fasten. Daß dieses heute von der jüngeren Generation manchmal so genau nicht mehr genommen wird, das ist den Alten wenig recht. Ja die stammestreue Gertie z. B. meinte, daß früher in solchem Falle selbst die kleinen Kinder schon hätten mitfasten müssen, und sie konnte gar nicht einsehen, warum so etwas in der Gegenwart nicht mehr als zeitgemäß erscheinen sollte.

Der Tod der Kleinen durchwühlte mitunter so die Seelen von Vater und Mutter, daß diese sich mit scharfen Steinen die Brust aufritzten und das Blut zum Zeichen ihrer namenlosen Trauer herunterströmen ließen.

Eine große Rolle im gesamten Trauerwesen spielte auch die Bemalung. Früher bemalten sich die Yagan meist den ganzen Körper, heute beschränkt man sich im allgemeinen auf eine Be­malung des Gesichtes.

Eine ganz einzige Stellung auch im Trauerwesen behauptet der Trauergesang, den sie meist kurzweg Talauwaia nennen. Nachdem wir schon sozusagen alle, an die dreißig Gesänge der Yagan mit Hilfe des Phonographen hatten festlegen können, fehlte uns nur noch der Trauergesang. Alle anderen Gesänge waren sie bereit, uns auszuliefern, selbst die Medizin­männer hielten schließlich mit ihren Spezialgesängen nicht mehr zurück. Indes den Trauergesang zu singen, das wollte ihnen lange einfach nicht in den Kopf hinein: „Wie kann man denn so traurig sein, wenn keiner gestorben ist!" Wir verstanden, was die Leute sagen wollten. Trauerstimmung bildet die Voraus­setzung des Trauergesanges. Eine solche aber zu Demonstrations­zwecken gewissermaßen künstlich zu erzeugen, das erschien den Yagan als eine schwer erfüllbare Zumutung. Unser Ansinnen mußte ihnen etwa so vorkommen, wie wenn man bei uns einen plötzlich veranlassen wollte: „Bitte, machen Sie mir einmal vor, wie Sie getan haben, als Sie hinter dem Sarg Ihrer Mutter oder Ihres Vaters einhergegangen sind!" Gewiß würde man darauf auch bei uns die Antwort erhalten: „Danke schön, da verlangen Sie in der Tat zu viel von mir."

Nun, daß wir den Trauergesang schließlich doch auch der Wissenschaft erobern konnten, das verdanken wir vor allem dem Eingreifen von Fred Laurence. Nach unserer Rückkehr von Navarin nach Punta Remolino am 17. März mußten wir ihm am gleichen Tage noch von unseren schönen Erfolgen erzählen. Als er dann aber hörte, daß der Trauergesang noch fehlte, da beauftragte er selber sogleich seine Frau Gemahlin, die gute Señora Laurence, daß sie uns unbedingt auch in dieser An­gelegenheit zum Ziele verhelfen müßte. Señora Laurence versprach ihr Bestes zu tun, bezweifelte aber doch noch, ob der Plan gelingen werde. Am 20. März meldete sie uns früh morgens schon, daß zwei Frauen, Gertie und Peine, sich dazu bereit erklärt hätten. Aber es komme ihnen das so schwer an, es affiziere diese Trauer so das Herz, daß ein Gegendruck nötig sei. Wir möchten jeder der Frauen mindestens zwanzig argentinische Pesos in Aussicht stellen, dann würden sie es wohl leisten können. Wir kannten unsere großen Yagankinder. Eine Halsabschneiderei lag ihnen auch in diesem Falle sehr ferne. Aber Señora Laurence nützte die Gelegenheit. Die Bedürfnisse ihrer Stammesgenossen sind auch die ihrigen. Gertie und mehr noch die betagte und alleinstehende Peine kommen sonst so schwer zu einem neuen Kleid! Natürlich ver­sprachen wir gerne das Gewünschte. Und Fred Laurence stellte bei der Menschenfreundlichkeit, die ihn und sein ganzes Haus auszeichnet, den beiden auch seinerseits noch ein besonderes Geschenk in Aussicht, wenn sie ihre Sache gut machen würden.

Gegen elfeinhalb Uhr fanden wir uns erwartungsvoll im üblichen Sitzungsraum, in dem zur Farm gehörigen Waschhause ein. Wir richteten alles her und glaubten nun bald den so heiß ersehnten Trauergesang hören und festlegen zu können. Aber da hatten wir wieder einmal so ganz schnellebig-europäisch ge­dacht. Die Frauen bedeuteten uns: Aja, jetzt noch nicht; wir sind ja noch gar nicht in Stimmung!" Also geduldig Warten Und Harren im Dienste der Wissenschaft, das war unsere nächste Losung. Die Frauen hockten und meditierten gut drei Stunden lang Endlich gegen drei Uhr erklärten sie: „So, jetzt kann es losgehen

Über den Hergang beim Talauwaia-Gesang waren wir bereits unterrichtet worden. Während eine Person singt, spricht die andere Trauerworte, bzw. hält eine Trauerrede. Gertie wollte zunächst die Sängerin und Peine die Sprecherin sein. Calderón, als gewandter Dolmetsch, war bei uns und instruiert, gut acht zu geben auf das, was Peine im höchsten Traueraffekt alles sagen würde, damit er es uns sofort nachher genauestens wieder­geben könnte. Gertie sang nun wirklich den Trauergesang, und Peine sprach. Folgendes war der Inhalt ihrer Trauerrede:

„Oh, wie arm sind wir doch daran, daß diese beiden (Gusinde - Koppers) uns zwingen, Talauwaia (den Trauergesang) zu singen. Diese kommen von einem Volke, das sehr zahlreich ist, und wir sind so wenige. Die wenigen, welche von uns übrig sind, sind wie wenige Vögelchen, die durch Zufall dem Jäger entwischt sind. Und Watauinewa hat uns hinweggenommen die Guten, nur die Häßlichen und Unansehnlichen blieben bis auf diesen letzten Tag des Yaganvolkes. Wir Schlechte, wir Kranke blieben bis heute. Uns ließ er noch leben, uns, die wir die Schwachen sind, die wenigen. Mir hat er die Kinder hinweg­genommen, meine ganze Familie. Und die zwei Binder (Sarmiento und Balfour), die mir blieben, die werden auch bald wohl den­selben Weg gehen müssen [beide sind nämlich schwach, be­sonders Balfour ist lungenkrank], den die anderen gegangen sind. Meine Base [Señora Laurence] hat auch verschiedene An­verwandte verloren, aber sie besitzt doch noch einen Bruder [den Calderón], der zahlreiche Familie hat. Aber ich stehe ganz allein und besitze nur noch eine entfernte Verwandte [Señora Laurence]. Diese Verwandtschaft kommt aber von einem anderen Manne, von weit her. 0 wehe, o wehe, mein Vater, du läßt mich schwer leiden, du hast mich schwer gestraft. Wie viele Leute gab es einst im Westen [Peine ist da zu Hause]. Jetzt sind wir höchstens nur noch zwei oder drei übrig. Und mir hat er nur noch eine Verwandte [Señora Laurence] von dort ge­lassen, um sie schließlich wohl auch hinwegzuraffen!',

Darauf ließen wir die beiden Frauen die Rolle wechseln: Peine sang, und Gertie sprach. Ihre Trauerworte lauteten wie folgt: „Diese beiden (Gusinde-Koppers) kommen und lassen uns hier Talauwaia singen. Obwohl wir diesen Gesang schon längere Zeit nicht mehr wiederholten, so wünschen ihn diese beiden doch. Sonst hat uns Watauinewa zum Gesang gezwungen durch irgendein Unglück. Jetzt wünschen ihn diese beiden. Die Weißen glaubten bisher, daß dieses nur eine Art Spiel wäre. Für uns ist das aber ein ernster Gesang. Wenn ich Mann wäre, würde ich leiden unter der schweren Arbeit, die die Männer im Walde, auf See usw. zu verrichten haben. Aber als Weib bin ich mehr im Hause beschäftigt. Wenn alle meine Verwandten sterben würden, dann würde auch ich den Mut haben zu leiden wie ein Mann. Und ich würde dann arbeiten und leiden wie sie im Walde, auf See usw. Ich würde dann arbeiten, bis schließlich auch ich zugrunde gehen müßte. Aus meiner Verwandtschaft sind nur noch Weiber übrig. Die Männer aus meiner Verwandtschaft hat er hinweggenommen.

Ich bin nicht wie die alten Frauen unseres Volkes. Diese sangen und sprachen sehr gut und schön, viel schöner und besser, als wie wir es heute tun. Und all die schönen

Worte sind uns verlorengegangen, uns, die wir jetzt eng­lisch und spanisch zu sprechen so vielfach gezwungen sind. So vergessen wir unsere schönen alten Yaganworte. Unsere Zunge hat nicht mehr die alte Sicherheit. Oh, wie arm sind wir daran. Und siehe, wie leiden wir in dieser Welt! Wie wenig sind wir! Aber in der anderen Welt, wo die Euro­päer sind, da sind viele. Wenn da auch mal einer stirbt, so ist das nicht schlimm, da bleiben dann immer noch ,viele übrig. Aber bei uns ist es anders. Stirbt einer von uns, so gilt der mehr als tausend bei den Europäern, die so zahlreich sind. Wie schlimm sind mein alter blinder Vater und meine Mutter daran! An dem Tage, wo sie sterben, da werde ich in den Wald laufen, werde mich verlieren, werde weder essen noch trinken, werde zugrunde gehen aus Betrübnis. Wenn ich Mann wäre, so ginge ich dann hinaus, um alle Tiere draußen totzuschlagen und  brächte nichts davon nach Hause. Alles würde ich zerschlagen. Würde es ebenso machen wie der da oben, der auch alles vernichtet und zerschlägt, als wollte er es essen. Dann könnte ja auch er einmal zuschauen, wie ihm das gefiele. Und dann freilich hätte er schließlich auch wirklich Grund, mich zu strafen."

Wir glauben, daß diesen beiden Menschheitsdokumenten von Feuerland ein ganz besonderer Wert innewohnt. Gesprochen im höchsten seelischen Affekt, offenbaren sie wirklich das, was tief im Herzen drin an Gedanken und Empfindungen lebt und webt bei jenen Menschen, die so lange die Anerkennung, vollwertige Menschenkinder zu sein, nicht finden konnten. Die Dokumente sprechen für sich. Sie lassen gewiß keinen Zweifel darüber, daß auch die Yagan auf Feuerland mit vollem Recht das Wort in den Mund nehmen können: Nichts Menschliches ist mir fremd.

Eine Trauerfeierlichkeit öffentlichen allgemeinen Cha­rakters besitzen die Yagan im Yamala Šemoina (Taf. XVIa). Hat der Tod seine Ernte gehalten, dann vereinigen sich bald alle An wesenden, um gemeinsam zu klagen und zu trauern. In Puerto Mejillones führten sie uns im März 1922 diese Veranstaltung einmal vor.

Männer sowohl wie Frauen nehmen daran teil. Alle be­malen sich, und dann nehmen die Frauen ihre Ruder (Taf. XVIb) und die Männer eigens hierfür verfertigte etwa zwei Meter lange

Stabkeulen (Abb. 22), die zum Erschlagen der Seehunde und als Zeremonienkeulen bei der allgemeinen Trauerfeier dienen, in die Hände. In diesem Aufzug stürmt alles unter Weinen und Schluchzen, man gedenkt ja der Toten, hinaus auf einen freien Platz. Hier bilden sich zwei gleich große Parteien, auf beiden Seiten Männer und Frauen beliebig miteinander vermischt. Zwischen den beiden Gruppen beginnt sofort ein Scheingefecht. Man erhebt und schwingt die Keulen bzw. die Ruder und schlägt zum Schein aufeinander ein. Dabei weinen und stöhnen die einzelnen weiter. Man macht sich auch gegenseitig den Tod der Lieben zum Vorwurf. Die einen sagen: „Ihr seid schuld daran!" Diese aber replizieren und sagen: „Nein, ihr seid schuld daran!" Der Hauptsache nach aber richten sich ihre Worte an Watauinewa, bei dem sie sich beklagen und mit dem sie streiten, weil er die Lieben sterben ließ. Haben sie so eine Zeitlang aus­getobt und sind müde geworden, dann schließt die eigenartige Trauerfeier; den gedrückten und gequälten Herzen ist Luft ver­schafft.

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EIN WIRKLICHES YAMALAŠEMOINA (ALLGEMEINE TRAUERFEIER) MÄRZ 1923

M. Gusinde weilte von Mitte Februar 1923 ab abermals auf Feuerland. Die Zeit bis Mitte April verbrachte er bei den Yagan in Puerto Mejillones. In der Zeit starb die Frau des alten Thomas. Die Frau kränkelte schon stark im März 1922, und wir glaubten, daß sie den bevorstehenden Winter kaum noch überleben werde. Infolge ihres großen Schwächezustandes konnte sie damals bei den Festen schon gar nicht mehr mittun. Sie saß fast immer in ihrer elenden Hütte - freilich keineswegs von ihrem Manne noch von den Yaganfrauen vernachlässigt. Ein volles Jahr hat sie doch noch weitervegetiert, bis sie schließlich langsam dahingesiecht ist. Der Tod bedeutete nicht nur für sie, sondern auch für ihre Umgebung eine Erlösung. Das ist unsere Auffassung. Daß die Yagan dieselbe nicht teilen, zeigt die erschütternde Trauerfeier, welche sie am Tage nach dem Tode der Frau veranstalteten und die Gusinde miterleben konnte. Da fällt auch das richtige Licht auf die Äußerung, die wir 1922 so oft, wenn wir sie zum Trauergesang und Yamalaše­moina aufforderten, von ihnen zu hören bekamen: „Wie kann man denn so traurig sein, wenn keiner gestorben ist?" Gusinde berichtet über das Ereignis von Feuerland aus unter dem 2. April 1923 wie folgt:

„Als ich auf der Insel Navarino war und mit den Männern gerade die Feier des Loima-Yekamuš (Doktorenschule) beendet hatte, starb in der folgenden Nacht, es war am 24. März, die etwa fünfundfünfzigjährige Frau des alten Thomas, die schon seit vielen Jahren an einem schmerzlichen Übel (wohl einem Frauen­leiden) krankte und langsam dahinsiechte. Bald nach erfolgtem Dahinscheiden jener Frau wurde ich durch lautes Blagen, Weinen und Wimmern geweckt, das man in allen Hütten hören konnte. Als ich am Morgen aufgestanden war, ging ich auch zu der Hütte, wo die Tote lag, und da merkte ich schon, wie in das Wimmern und Heulen die mir aus dem letzten Jahre be­kannten alten Formeln und typischen Wendungen, an den Wa­tauinewa gerichtet, eingestreut wurden. Ich spielte den stummen, teilnahmsvollen Zuschauer, und die Leute nahmen von meiner Gegenwart kaum Notiz; so war es ja auch von mir beabsichtigt.

Allgemeine Trauerstimmung hatte nun dieses kleine Indianer­lager befallen; auf das möglichste hielt ich mich persönlich pietätvoll ruhig und sehr zurück zu dem Zwecke, um die Leute gänzlich unbeeinflußt und unbehindert ihren eigenen Gefühlen zu überlassen, damit sie selbst sich gäben und aufführten, wie sie dies im gleichen Falle zu tun pflegen, wenn sie ganz allein nur unter ihresgleichen sind; tatsächlich war ich auch der einzige Weiße unter dieser Indianergesellschaft.

Nachdem sie nun gegen Mittag jene Verstorbene beerdigt hatten nach der Art, wie sie das bei den Christen gesehen, traten sie sofort, der Verpflichtung der alten Sitte folgend, zum Yamalašemoina, der großen Totenfeier, zusammen. Aber da es sehr stark regnete,, hatten sie sich im Häuschen eines der ihrigen versammelt. Als schon der Gesang und die üblichen kurzen Reden begonnen hatten, kam ein Mann zu mir und fragte, ob ich auch in jene Versammlung kommen wollte; -in mitleidigem Ton fügte er bei, daß alles, was sie da machen, für mich wenig Anregung und Freude bedeuten wird, denn sie sind ja alle in großer Tauer; aber wenn ich käme, würden sie es mir hoch anrechnen, daß ich mit ihnen fühle und Teilnahme zeige für alle! - Der gute Alte, er wußte gar nicht, wie sehr ich auf seine Einladung gewartet hatte, denn ich gab mir wohl Rechen­schaft von den wichtigen Beobachtungen, die ich gerade bei dieser Feier würde machen können, und sofort begab ich mich zur Trauerversammlung der Leute.

Alle sonstigen Einzelheiten dieser Feier, wie Bemalungen, Gesang, Bewegungen der Sprecher und Sänger usw., lasse ich hier beiseite; ich will nur hervorheben, daß es für mich tatsächlich eine große Überraschung war, zu sehen, wie diese Leute ganz spontan ihren so ganz und gar menschlichen Gefühlen und Empfindungen freien Lauf ließen, ohne Menschenfurcht oder Verschämtheit, und wie sie mit ungeahnter Selbstverständlichkeit immer und immer wieder von dem großen Geist da oben, von Watauinewa sprachen; jede Person, die das Wort ergriff - und das taten alle Anwesenden zu wiederholten Malen -, wandte sich stets und öfters und längere Zeit an Watauinewa, ihm schrieben sie alle die Schuld an diesem Todesfälle zu; er ist der Mächtigere, gegen dessen Gewalt niemand ankommen kann; und so glaubte jeder in seiner Trauer und in seinem großen Schmerz sich vollauf berechtigt, sich bei Watauinewa zu beklagen, ihm Vorwürfe zu machen, mit ihm sich zu erzürnen, auf ihn zu schimpfen und von ihm Rechenschaft zu fordern über diese seine Tat usw. Und dabei wiederholten sich die alten, üblichen Formeln, die ja obige Ideen ausdrücken, Formeln, die allen Anwesenden sehr geläufig waren; und alle fanden den Sprecher in vollem Recht, wenn er den Watauinewa anklagte und ihm Vorwürfe machte. Alle schlossen sich seiner Ansicht und Äußerung mit rührender Natürlichkeit an.

Ich muß wiederholen, überraschend war für mich die Ge­legenheit hier, diese spontane Äußerung ihres tiefeingewurzelten Gottesglaubens mit solcher Gewalt sich Luft machen zu sehen; ihre religiöse Überzeugung, der Glaube an ihren Watauinewa saß wirklich tief drinnen im Herzen dieser Leute. Hier kam zum Vorschein, daß er eine felsenfeste, sichere Überzeugung war und daß alle sie auch hatten. Dabei kam fernerhin zum Aus­druck, daß sie die Allgewalt des Watauinewa anerkennen, seine Allgegenwart, sein unbestreitbares Eigentumsrecht über alles Sichtbare, seine unnahbare Größe, die niemand antasten kann, und schließlich die Hilflosigkeit und Ohnmacht der mensch­lichen Kreaturen, die ganz und voll in seiner Gewalt stehen und überhaupt ihm gegenüber keine Rechte geltend machen dürfen.

Da sie nun in dieser Versammlung sich sehr mit ihm er­zürnt und auseinandergesetzt hatten - sie schreiben das dem eigenen großen Trauerschmerze zu und entschuldigen damit auch ihr Benehmen -, regte sich dann doch ihr Gewissen am Abend, wenn jeder in seiner Hütte etwas ruhiger geworden ist. Reue­voll wendet er sich dann wieder an Watauinewa und bittet ihn um Verzeihung für die in der großen Erregung ausgesprochenen Worte: ein Beweis dafür, daß nach der Anschauung der Yagan allem Tun und Walten des Watauinewa die höchste Ehrfurcht gebührt, daß alle ihm Anerkennung zollen müssen und keiner gegen seine Handlungsweise sich auflehnen darf!

Sieben Stunden währte dieses Yamalašemoina, die Leute hatten sich dabei etwas ermüdet und gingen still ein jeder in seine Hütte. Aber jeder einzelne gab sich hier seiner Trauer noch weiter hin, und das Weinen und Wimmern hörte man Tag and Nacht."

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MEDIZINMÄNNERWESEN BEI DEN YAGAN

Auch bei den Yagan liegt über dem ganzen Medizinmännerwesen der Schleier des Unnahbaren und Geheimnisvollen. Aber dank des schier grenzenlosen Vertrauens, das wir genießen durften, konnten wir überaus interessante und lehrreiche Blicke auch in dieses Gebiet des Volkslebens tun. Den Medizinmann stellt man sich wohl allgemein in erster Linie als Zauberer und Hexenmeister vor. Als solcher fungiert er bei den Yagan ohne Frage auch. Aber seine Rolle erscheint damit keineswegs er­schöpft. Im Gegenteil, im Yaganmedizinmann steckt daneben auch ein Stück vom Seher und Propheten.

Wie wird nun ein Yagan ein Yekamuš? Unser Aufenthalt bei den Yagan ging schon dem Ende zu, da hörten wir auf einmal von den Leuten, daß es früher gelegentlich auch eine eigene Yekamuš-Schule gab. Wir äußerten ihnen unser Erstaunen . darüber, daß sie uns das nicht schon früher gesagt hätten. Darauf meinten sie treuherzig, wie immer: „Wie konnten wir wissen, daß euch auch das interessiert?" Um so bereitwilliger waren sie dann im Erzählen alles dessen, was zu dieser ganzen Einrichtung gehört.

Der letzte Yekamuškurs muß um 1900 herum auf der Nord­seite von Navarin abgehalten worden sein. Auf Grund der Angaben, welche wir darüber erhielten, ließ sich das leicht berechnen. Ein derartiger Kurs wurde nun von einem älteren, er­fahrenen „Doktor" (so bezeichnen die Feuerländer in der Über­setzung allgemein ihre Medizinmänner) eröffnet, und die Männer und Jünglinge, welche sich für die Sache interessierten, konnten nach Übereinkunft mit dem Leiter des Kurses daran teilnehmen. Gewöhnlich waren es die langen Winterabende, an welchen die Yekamuš-Schule arbeitete. Es wurde hierfür zunächst ein eigenes $aus errichtet, das nach Aussage der Alten in der Form dem Kinahause wesentlich gleich war. Den einzigen Unterschied bildet bei letzterem der große Eingang, der dort eben nötig ist, damit die mit hohen Masken ausgerüsteten „Geister" bequem heraus- und hereintanzen können.

Im Rahmen dieser Schule entfaltet sich dann der Unter­richt im Zauberhandwerk für die teilnehmenden Kandidaten. Diese lernen Krankheiten heilen, Geister beschwören, Kunststücke machen, die Doktorengesänge und dergleichen Dinge mehr. Dieses alles erzählend nannten uns die Yagan beiläufig auch jene heute noch lebenden Männer, welche Teilnehmer der letzten Yekamuš-Schule waren. Dazu zählte z. B. auch unser Freund und mein Pate Santiago. „Also", so sagten wir, „ist auch der Santiago ein Yekamuš?" Die überraschende Antwort auf diese Frage war ein entschiedenes „Nein, nein!" Erstaunt fragten wir weiter: „Aber, der Santiago hat doch die Yekamuš-Schule mit­gemacht, also muß er doch auch Doktor sein!" - „Nein," wiederholte man uns, „das ist nicht genug; ein wirklicher Yekamuš ist nur der, welcher innerlich berufen wird." - Aber, was ist denn das mit der innerlichen Berufung?" Darauf ver­wiesen sie uns an die echten Doktoren, also an jene, welche die innere Berufung an sich selber erlebt und erfahren haben.

Nun kam es an den Tag. Der echte Doktor wird berufen, und diese Berufung zeigt sich auf einmal an in starken inneren Erlebnissen, in Visionen und Träumen. Er wird dabei nicht nur geistig, sondern auch körperlich so stark affiziert, daß er mitunter in Lebensgefahr kommt. Er fühlt sich zeitweilig appetitlos und krank, wenn es auch keine Krankheit im gewöhnlichen Stile ist.

Da die innere Berufung, und nicht die Schule, den Doktor macht, so erklärt es sich, daß auch Frauen echte Doktoren werden können. Tatsächlich gelten heute noch als solche besonders die Frau des Mašemikens und die alte Emilia. Eine derartige Berufung wollte vor etlichen Jahren auch die gute Señora Laurence treffen. Was sie da erlebt und ausgestanden, hat sie uns selber in aller Ausführlichkeit erzählt. Sie ging draußen allein, und da wurde es ihr auf einmal so sonderbar zumute. Hinter einem Baum sah sie etwas, das zwei mensch­lichen Händen glich und sich geheimnisvoll bewegte; sie fühlte sich körperlich und geistig stark erschüttert, appetitlos und krank, wenn es auch, was sie ebenfalls betonte, keine Krankheit im gewöhnlichen Sinne war. Bei Nacht quälten sie einerseits Schlaf­losigkeit, andererseits starke und mannigfaltige Traumvorstellungen. Sie hatte aber selber gar keine Ahnung davon, was die ganze Erscheinung und das Erleben bedeuten sollte. Von dem, was ihr passiert war, erzählte sie niemandem etwas. Ein oder zwei Tage darauf erhielt sie Besuch von einer anderen Frau, die selber Yekamuš war. Kaum war sie dieser gegenübergetreten, da wurde sie von ihr auch schon gefragt: „Aber was ist dir denn, du bist ja krank, ja, und ich sehe, du sollst Yekamuš werden!" Ein Yekamuš erkennt nämlich den anderen, wie uns des öfteren versichert wurde. Nachdem Señora Laurence mit ihrer Erzählung so weit gekommen war, bemerkte sie treuherzig: „Aber das ging doch nicht; wie konnte ich in meiner Stellung als Herrin der Farm Yekamuš sein?" Das war auch gleich der Gedanke der Besucherin, der echten Yekamušfrau, gewesen. Und diese er­bot sich sofort, Señora Laurence in Kur zu nehmen, um ihr das Yekamušwerdens wieder auszutreiben. In einigen Tagen war das geschehen, und seitdem, so sagte Señora Laurence, hat sie nie mehr eine solche oder ähnliche Anwandlung verspürt.

Kein Zweifel, daß der Traum, die Imagination im Leben des Yekamuš eine sehr große Rolle spielt. Im Traum erlebt und sieht der Doktor alles mögliche, das er dann, ist es etwas Gutes und Wünschenswertes, mit Hilfe seines Gesanges zu verwirk­lichen trachtet; ist es aber etwas Unheilvolles, ebenfalls durch des Gesanges Macht zu bannen sich bemüht. So kehrte vor allem stets die Aussage wieder, daß der Yekamuš manchmal im Traum die ganze Bucht voller schöner Sardinchen sehe. Aber nicht nur, daß er sie sieht, er vermag sie auch herbeizuschaffen. Und das bewirkt er mit dem Yekamušgesang, der den Namen Tschowanni trägt. Singt er den die Nacht durch, dann ist ein reicher Sardinenfang sicher. Freilich, die Leute gerieten in einige Verlegenheit, als wir sie fragten, ob sie sich denn auch nur eines Falles erinnerten, wo der Yekamuš mit seinem Tschowanni wirklich eine derartige Ansammlung von Sardinchen verursacht habe. Keiner hatte es je mit eigenen Augen gesehen, aber doch wurde es allgemein so geglaubt. Chris meinte, es scheine, daß Watauinewa das heute nicht mehr erlaube. Aber auch er hielt fest daran, daß die Doktoren früher diese Macht besaßen.

Wie der Yekamuš mit Hilfe seines Gesanges drohendes Unheil abzuwehren sucht, dafür war früher schon ein Beispiel anzuführen. Die Frau Mašemikens hatte zur Zeit des Festes der Jugendweihe eines Nachts geträumt, daß alle unsere Köšpiks (Seelen) ostwärts gezogen seien. Daraufhin sang sie ununterbrochen mehrere Stunden lang, bis sie glaubte, daß unsere Seelen wieder ganz und wohl geborgen daheim weilten.

Nachdem wir die Wochen der Feierlichkeiten in Puerto Mejillones beschlossen hatten und wieder nach Punto Remolino zurückgefahren waren, beraumten die zurückgebliebenen Doktoren - dieses wurde uns später berichtet - für denselben Abend noch eine große Singerei an. Die vielen Feste, besonders aber das Kinafest, hatten nach ihrer Meinung doch allzusehr die Aufmerksamkeit der Geister erregt. Sie befürchteten ein Unheil, vor allem auch eine Schwächung der eigenen Kö?piks (ihrer eigenen Lebenskraft). Das abendlich-nächtliche Singen brachte alles wieder ins Gleichgewicht.

Einige Gesänge gelten allgemein als D o k t o r e n g e s ä n g e, einen besonderen Platz behauptet darunter der schon genannte Tschowanni. Daneben hat aber jeder echte Doktor wenigstens noch einen eigenen Gesang, den er sich natürlich auch selber zu erfinden hat. Er allein singt ihn auch, wobei ihm freilich andere bescheidene Assistenz leisten dürfen. Auch von diesen Spezialgesängen gelang es uns mehrere auf die phonographische Walze zu nehmen. Sie fallen mit ihrer schlichten, monotonen Eigenart aus dem Rahmen der übrigen Yaganlieder keineswegs heraus. Aber bemerkenswert ist immerhin, daß der Yagandoktor mindestens einen eigenen Gesang sich schaffen muß. Wem also jede musikalische Begabung mangelt, der hat bei den Yagan kaum Aussicht, ein vollgültiger Doktor zu werden.

Wie es als besondere Aufgabe des Yekamuš gilt, den Ver­kehr mit der Geisterwelt zu bewerkstelligen, das zeigten schon unsere Ausführungen über das Kinaspiel. Der Leiter des Kina festes muß unbedingt ein Doktor sein. Er allein kann die Geister zitieren bzw. sie bannen, die guten sowohl als die bösen. Er allein verfügt über besondere geheimnisvolle Kräfte, von denen es zweifelhaft ist, ob sie immer auf bestimmte Geister oder sonst­wie auf eine höhere Macht zurückgeführt werden müssen.

Viel geforscht haben wir auch nach der eigentlichen Be­deutung eines Wortes, das im, Zusammenhang mit den Zauber­doktoren und deren Tun jeden Augenblick vorkommt, es ist das Wort Loima. Die Yekamuš-Schule z. B. nennen sie auch Loima-Schule. Wenn bei den Geistervorführungen im Kinahaus die Frauen avisiert wurden, so schlossen die einzelnen Sätze ge­wöhnlich mit dem Wort Loima. Die Veranstaltung am Abend des Tages unserer Abfahrt von Puerto Mejillones bezeichneten sie mit Loima. So ist es gewiß klar, daß in dem Wort Loima irgendeine Beziehung zur Geisterwelt und zum entsprechenden Handwerk der Doktoren beschlossen liegt, aber um was es sich genauer handelt, das war auch mit dem besten Willen nicht vollständig klarzustellen. Die Leute empfanden selber diese Schwierigkeit, und Loima gehörte ähnlich wie Tschowanni zu jenen Wörtern, für welche auch unsere besten Dolmetscher ein­fach sich unfähig erklärten, eine irgendwie adäquate Bezeichnung im Spanischen oder Englischen zu finden.

Der Gebrauch des Wortes Loima erinnerte im übrigen viel an eine ganz ähnliche Verwendung der Wörter T s c h i e c h a u a und Talauwaia. Wie im Kinahause jeder irgendwie offiziell gesprochene Ausruf mit dem Wort Loima schließt, so spielt beim Fest der Jugendweibe das Wort Tschiechaus dieselbe Rolle. Saßen sie zusammen und sollten sie uns die gewöhnlichen Trauer­gesänge (nicht den eigentlichen Trauergesang, den zu erhalten so viel Schwierigkeiten bereitete) zum besten geben, dann er­innerten sie sich, um in Stimmung zu kommen, zunächst in kurzen, abgebrochenen Sätzen an die Toten, und die Worte, womit sie das taten, beschlossen sie jedesmal mit Talauwaia. Talauwaia ist dann weiterhin auch alles, was irgendwie mit Tod, Totentrauer usw  in irgendeinem Zusammenhang steht.

Des Yekamuš' Aufgabe ist es auch, die Kranken zu heilen. Die körperlichen Gebresten werden zum Teil in Form von kleinen Steinchen oder anderen Gegenständen aus den schmerzenden Partien herausgezogen. Hier wird nun auch, wie sie uns unumwunden eingestanden, bewußter Schwindel getrieben! Die Steinchen halten sie geschickt irgendwo im Munde oder sonstwo verborgen und zeigen sie gegebenen Augenblicks dem Kranken und den uneingeweihten Zuschauern vor. In der Ausübung dieser Kunststücke wird besonders auch in der Yekamuš-Schule ein eigener Unterricht erteilt. Sie sollen offenkundig dazu dienen, das Ansehen der Doktoren bei der Menge zu erhalten und zu mehren. Die Taschenspielerkünste, von den Männern im Kina­haus vollführt und den Frauen vorgegaukelt, haben schließlich keinen anderen Zweck. Denn auch hier sind es die Doktoren und deren Helfershelfer, welche die Spiele und Tricks in Szene setzen.

Aber der Yekamuš steht auch im Rufe eines wirklichen Zauberers. Und das schlimmste ist, daß er gegebenenfalls einem anderen Menschen das Leben langsam zu nehmen vermag. Eine alte Frau brachte und zeigte uns einmal mit sichtlichem Schau­dern eine große Schmetterlingspuppe. Die, so sagte sie, benutzt der Yekamuš, wenn er einen Feind hat, den er aus dem Weg räumen will. Irgendwie verschafft er sich dann ein Haar des Gegners und reibt damit mehrere Tage lang immer wieder von neuem diese Schmetterlingspuppe, bis sie schließlich unter dem ewigen Streicheln ihren Köšpik (die Lebenskraft) verliert und tot ist. Damit ist es dann aber auch mit der Lebenskraft dessen zu Ende, dem der Yekamuš nicht grün ist. Freilich hatten selbst die ganz Alten einen derartigen Fall nie selber miterlebt, son­dern kannten auch dieses nur vom Hörensagen. Aber sie glaubten steif und fest daran, daß der echte Yekamuš so schreckliche Dinge wirklich vollbringen könne.

Nun glaubten wir so weit zu sein, unsere Yagan fragen zu können nach dem Verhältnis des Yekamuš zu Watauinewa. Für diese Frage nun zeigten sie wenig Verständnis, sie schien ihnen offensichtlich überflüssig zu sein. Denn, so meinten sie, der Yekamus stehe zu Watauinewa wie alle übrigen auch. Wir bedeuteten den Leuten, der Yekamuš könne die Geister zwingen und könne noch so manches andere mehr. Vermöge er da nicht auch etwas über Watauinewa? Der Gedanke war ihnen vollkommen neu. Daran war überhaupt nie gedacht worden. Der beste Beweis dafür lag darin, daß sie ausdrücklich betonten: „Auch der Yekamuš kann z. B. keinen umbringen, wenn Watauinewa es nicht will.„ Watauinewa ist und bleibt denn auch in einem jeden solchen Falle der eigentlich Verantwortliche für den Tod eines der lieben Angehörigen.

Aber wir forschten weiter: „Alle beten von Zeit zu Zeit zu Watauinewa; tut das auch der Yekamuš?" Auch diese Frage schien ihnen komisch. Warum soll der Yekamuš nicht zu Watauinewa beten? Ist doch Watauinewa der Abailakin (der All­mächtige) und der Monauanakin (der Allerhöchste) auch für den Yekamuš ! Ja, der alte Doktor Mašemikens machte schlieft ,ich aus seinem Herzen keine Mördergrube und verriet uns, was so ein Zauberdoktor z. B. dann, wenn er einen Kranken heilen will, dem Hohen Herrn da oben zu sagen hat. „Bitte, mein Vater, hilf mir den Kranken wieder gesund machen. Und wem du nicht helfen willst des Kranken wegen, dann tue es doch meinetwegen, damit ich nachher nicht als blamierter Doktor da stehe!"

Auf jedem echten Yekamuš ruht, wie ich oben schon sagte gewiß der Schimmer des Unnahbaren und Geheimnisvollen. Aber im tagtäglichen Leben tritt das doch fast gar nicht hervor. In Gegenteil, der Yekamuš hat, wie alle übrigen, sich Tag für; Tag seine Nahrung selber einzubringen. Und von ihm wie von allen anderen wird erwartet, daß er die Tugend des Altruismus übt. Als alter, echter Doktor gilt auch Richard. Von de1 Männern dachte und handelte kaum einer immer so altruistisch wie er.

Die wichtigste soziale Einrichtung der Yagan ist ohne( Frage mit Tschiechaus (Jugendweihe) gegeben. Als Leiter dieses Festes hat aber keineswegs ein Doktor in Tätigkeit zu treten sondern irgendein Alter, der sich auf die Sache halt gut ver. steht, wird damit betraut. Der Leiter von 1922, Santiago, hatte früher wohl die Yekamuš-Schule einmal mitgemacht, aber all( waren einig darin, er selber mit eingeschlossen, daß er kein echter Doktor sei. Anders aber beim Kinafest. Der Geisterspuk der dort inszeniert wird, erfordert die kundige Hand des Doktors Und so ist es selbstverständliche Regel, daß ein solcher beim Kinafest das Zepter schwingt. Beim Kinafest 1922 waltete des alte, echte Doktor Mašemikens dieses Amtes.

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MIT DEN YAGAN IN DER MEDIZINMÄNNERSCHULE

Wofür März 1922 für uns die Zeit nicht mehr reichte, das hat M. Gusinde genau ein Jahr später erledigen können: Seil oben (S. 167) schon erwähntes Schreiben teilt auch Näheres zum Medizinmännerkurs mit, den die Yagan ihm zuliebe noch einmal in Puerto Mejillones inszenierten. Er berichtet darüber (Brief vom 2. April 1923) wie folgt:

,Sofort schritt ich nun an die Erledigung meiner Hauptaufgabe [d. h. der Aufgabe, die bei den Yagan zu erfüllen noch übrig geblieben war] und zugleich dem letzten Teil der Yaganerforschung, zum sog. Loima-Yekamuš (Medizinmännerschule). Dank des überaus großen Vertrauens, das diese Indianer mir entgegenbrachten, konnte ich es wagen, mit der Forderung an sie heranzutreten, nochmals zu diesem Zwecke sich zu versammeln, obwohl schon etwa fünfundzwanzig Jahre verflossen waren, seitdem sie zum letzten Male diese Feier veranstaltet hatten. Letztere kann man als eine eigentliche Doktorenschule, be­zeichnen, in welcher der junge Medizinmann-Aspirant - sit venia verbo - in der Kunst der Yekamuš unterrichtet und ausgebildet werden soll.

Als ich mit diesem Antrag an die alten Männer mich heran­wagte - drei von ihnen gelten als gute Yekamuš -, da wurden sie etwas mutlos und zeigten sich sehr zaghaft, bis sie nach längerem Verhandeln mir klar heraussagten, daß die Zeitperiode der großen und berühmten Yekamuš längst vorüber wäre, daß sie selbst nur ganz kleine Doktoren wären neben ihren nun verstorbenen tüchtigen Vorgängern, bei denen sie als Burschen Unterricht genossen hätten, und daß sie daher sich unfähig fühlten zu den überraschenden Künsten und Proben, wie sie die Alten in vergangener Zeit vorgeführt hatten. Daraufhin tröstete ich diese gutherzigen Leute, und sie ermutigend sagte ich ihnen in entschiedenem und entschlossenem Tone: ,Jeden­falls ist es von mir nicht zu viel verlangt, wenn ich wünsche, daß sie zusammentreten und mit dem Unterricht der jungen Aspiranten beginnen; dabei braucht man ja nicht besondere Kunststücke vorzuführen; ich gebe mich mit dem zufrieden, was sie zeigen können, und das läßt sich bestimmt machen; wer dann der beste Yekamuš von ihnen wäre, will ich am Schluß der Unterweisung entscheiden, nachdem ich alles gesehen und jeden beobachtet habe. Mir kommt es hauptsächlich darauf an, zu sehen, wie in dieser Loimahütte gelebt und was gelehrt worden ist gemäß dem Gebrauch in alter Zeit!' Damit hatte ich so­wohl ihnen die Mutlosigkeit genommen, als auch ihren Ehrgeiz etwas angestachelt - es wurde ihnen etwas leichter ums Gemüt, und sie versprachen, meinem Wunsch gemäß sofort anzufangen.

Da holten die erfahrenen Männer ihre Axt, gingen in den Wald und wählten mit Kennerblick die Stämmchen aus, die sich am besten eigneten zum Bau der Hütte. Letztere hat den Namen Loima-tarhna-ökär (Loimahütte), und zwar ist diese Hütte von genau der gleichen Form wie jene, in der das geheime Männerspiel Kina gefeiert wird, also eine kegelförmige Hütte (Taf. XIVa). Sie unterscheidet sich von der Kinahütte nur da­durch, daß in ihrem Innern, auf halber Manneshöhe, ein horizontaler handbreiter, weißer Strich rund herum gemalt ist, während in der Kinahütte, auf gleicher Höhe, rundherum ein halb so breiter roter und schwarzer Strick gezogen wird. Der Grundriß der Hütte ist je nach der Zahl der Schüler oder Teilnehmer fast kreisförmig oder oval, genau wie beim Kinahaus. Die Stämmchen werden zur Befestigung ein wenig in den Boden gestoßen und stehen eng nebeneinander, und darüber legt man Felle; nur wenn letztere nicht ausreichen sollten, darf man auch Reisig verwerten. Die größte Höhe im Innern der Hütte beträgt etwa dreieinhalb Meter.

In der Mitte brennt das Feuer, rundherum bleibt ein kleiner Gang frei, und anstoßend an die Innenwand der Hütte erhält jeder seinen Platz angewiesen; hier wird auf den Boden etwas kurzes Reisig von sepe (der immergrünen antarktischen Buche, Nothofagus betuloides) gelegt und darüber eine dickere Schicht von dürrem Grase, in gleicher Weise wie in der Kinahütte. Die Verteilung der Sitze ist derart, daß der größte Yekamuš, der als Vorsteher und Leiter der ganzen Feier von den übrigen erwählt wird, der Loima-Tuerhnuwa, am Eingang seinen Platz hat, und zwar linkerhand, gerechnet von der Person, die in die Hütte eintritt. Die Schüler ihrerseits sind so verteilt, daß ein bis vier von ihnen immer zwischen zwei Yekamuš sitzen, Je nach der Zahl der Schüler und Doktoren. Außerdem hat jeder Schüler seinen Sitz begrenzt durch einen kurzen mitteldicken Knüttel an jeder Körperseite. Er befindet sich fast immer in Hockstellung mit vor der Brust gekreuzten Armen; nur ver­einzelt darf er mit untergeschlagenen Beinen sitzen. Nachts gestattet man, sich auf die Seite zu legen und die Beine etwas auszustrecken; den Nacken hat er auf einem kurzen, dicken Knüttel aus trockenem, schwammigem Holz liegen, der gleichsam als Nackenstütze dienen soll und den er selbst an die Hütten­wand anpreßt. In dieser Stellung verbleibt der Schüler während der Unterweisung und des Gesangs; auch die alten Meister halten diese Körperstellung ein, wenigstens während des ersten Teiles der Nacht.

Es beginnen Gesang und Unterricht mit dem Eintreten der Dunkelheit, also gegen drei Uhr hier in diesen Gegenden, da diese Feier gewöhnlich im Winter veranstaltet wurde, und das ging dann so lange weiter, bis die beiden Yoaloch (Sternbild) über den Zenit nach Westen vorgeschritten waren, also bis zwei bis drei Uhr nachts. Dann ruhten alle bis zum Morgengrauen, bis etwa acht Uhr; mehr Schlaf wurde nicht gestattet. Nun mußten die Schüler das Holz zur Feuerung herbeischleppen, oder fischen und Seetiere bringen, die zur Nahrung der Leute dienten, bis dann gegen drei Uhr nachmittags die Unterweisung in der Hütte wieder begann.

Sowohl die erfahrenen Yekamuš als auch die Ugwoalechamuš (Zusammenziehung aus Uswoala [Schüler] und Yekamuš), die Schüler, nehmen nur sehr wenig Nahrung zu sich, vermeiden unter allen Umständen Fett und Tran. Als Regel gilt, daß die kleine Miesmuschel (Mythilus) die beste und geeignetste Nahrung für beide Teile ist; daher erhält der Schüler während der ersten Zeit des Unterrichts nur drei Miesmuscheln täglich und ein wenig Wasser, das er durch einen langen Röhrenknochen saugen muß. Macht er aber einige Fortschritte in jener Kunst, nach dem Urteil der Alten, dann wird seine Ration auf nur zwei Muscheln heruntergesetzt, die er dann einhält bis zum Schluß der Unterweisung. Und dies zu dem Zwecke, damit er noch weitere und schnellere Fortschritte mache. (Es gehörte Energie dazu) das während mehrerer Monate auszuhalten!) In Einzelfällen gestattet man den Schülern auch Fisch zu essen; jedoch dürfen sie dann nur die hintere Hälfte nehmen und müssen die vordere Hälfte samt Kopf verbrennen. Immer wieder wird be­tont: Je schmaler die Kost, je geringer das Maß an Speise und Trank, das einer zu sich nimmt, um so schneller und lebhafter kommen die Träume, um so geeigneter ist der Yekamuš zu den Kunststücken und Proben, die er vorzuführen pflegt.

Sowohl Schüler als Lehrer sind in der Hütte unbekleidet und malen sich mit tumrapu (weißer Farbe), sehr selten mit imi (roter Farbe) den ganzen Körper; doch bevor diese Farbe eintrocknet, kratzt man mit den

Nägeln der vier längeren Finger von Stirn bis zu den Knöcheln in verti­kaler Richtung streifenförmig einen Teil der Farbe ab; auf dem Kopf, besser um den Kopf herum, tragen alle den nur dem Yekamuš eigenen Federschmuck in Diademform her­gestellt, das Apawörha (Abb. 24; vgl. Abb. 23 und Taf. XVIIa).

Die Berufung zum Amte des Yekamuš kann eine doppelte sein: a) eine außergewöhnliche oder direkte Art, wenn z. B. der Knabe durch eine Erscheinung im Traume aufgefordert wird, diesem Amte sich zu widmen; oder wenn im Walde eine ähnliche Er­scheinung, gewöhnlich aus einem alten Baume herausschreitend, ihm entgegentritt mit der gleichen Aufforderung -- diese Er­scheinung ist dann immer der Köšpik (Geist) eines jetzt ver­storbenen Yekamuš; oder wenn der junge Mann eine lockende Stimme wie die eines seltsamen Vogels hört, die ihm die ganze Zeit in den Ohren klingt, bis er etwas matt und unwohl zu seiner Bütte kommt, hier bald sich niederlegt und träumt, wie eine große Schar von Geistern der verstorbenen Yekamuš um ihn herum tanzt und ihn einladet und lockt, an ihrem Spiele und Tanze teilzunehmen usw. b) Von einer mehr indirekten Berufung zu diesem Amte müssen wir dann sprechen, wenn z. B. die Ver­wandten oder andere Doktoren gewisse vorteilhafte Anlagen in irgendeinem Burschen bemerken, oder wenn dieser persönliche Lust und Liebe für dieses Amt zeigt, oder ein Yekamuš im Traume den Auftrag erhält, jenen Knaben in dieser Kunst zu unterrichten usw.

Jedoch trotz dieser direkten oder indirekten Berufung be­stand nicht der unausweichliche Zwang, daß der betreffende Bursche unter allen Umständen sich diesem Amte widmen müsse. Es gab Fälle, wo er diese Berufung nicht beachtete oder andere Faktoren ihn diesem Amte fernhielten, ohne daß er Schaden davongetragen hätte seitens der ihn rufenden Kö?piks. Es be­stand also für einen solchen Burschen nicht die Verpflichtung, gelegentlich in der Loimahütte Unterricht zu nehmen, wie eine solche allgemeine Verpflichtung herrschte betreffs der Teilnahme am Tschiechaus, der Jugendweihe.

Während der ganzen Dauer der Unterweisung, die manch­mal bis sechs Monate hindurch anhielt, mußten die Schüler ständig die Wangengegend des Gesichtes, besonders über den Backenknochen, mit weißer Farbe und feinen Holzspänchen (tschilörg), gewonnen aus dem' weichen Holz der hiesigen großen Berberitze (Berberis acanthifolia) reiben und immer wieder reiben, zu dem Zwecke, daß die alte ursprüngliche Haut gänzlich ver­schwinde und eine neue, weichere, zartere erscheine. Wurde diese schließlich nach ständigem, langem Reiben und Malen wirk­lich sichtbar - gewöhnlich nach drei bis vier Wochen -, dann bestand über die Berufung dieses Burschen zum Amte eines Yekamuš kein Zweifel mehr, und die alten Meister äußerten darüber ihre helle Freude mit großer Genugtuung. Aber jetzt mußte der betreffende Bursche mit noch mehr Eifer immer und immer wieder weiterreiben und sich auf der Wangengegend malen, bis schließlich nach langer Anstrengung während Monate hin­durch auch diese zweite zarte Haut verschwand, und eine dritte neue, noch feinere und empfindlichere sich bildete, die so dünn und weich und empfindlich war, daß man sie überhaupt nicht berühren konnte, ohne Schmerz zu verursachen. Der Schüler nun,  bei dem diese dritte, äußerst zarte Haut zuerst erschien, der war der größte Yekamuš und zugleich der beste aller jener Schüler, die zugleich mit ihm den Unterricht genossen hatten, und damit hörte dann gewöhnlich die Unterweisung des Loima-Yekamuš auf.

Jedoch das Hauptziel dieses Zusammentretens in der Loima­hütte - und dem dienten auch alle weiteren Nebenumstände und Bestimmungen, wie mangelhafte Nahrung, kurzer Schlaf in unbequemer Körperhaltung, die Monotonie des Gesanges und des gesamten Lebens in der Loimahütte - war [nach meiner eigenen Beobachtung und Ansicht, denn die Leute selbst wissen darüber keine besondere und klare Auskunft zu geben] die möglichst große Entwicklung und Ausbildung der Imaginationsgabe und Vor­stellungskraft, sowie der schnellen Kombination äußerer Er­scheinungen und Vorkommnisse mit den eigenen Träumen und Phantasiegebilden, auf der Grundlage starker, lebhafter Auto­suggestion. Letztere muß bis zu einem solchen Grade entwickelt werden, daß der Yekamuš in der Überzeugung lebt, seine Traum­gebilde, Halluzinationen und Phantasieprodukte sind lautere Wirklichkeit, sind tatsächlich lebende Gestalten, die sich dem Yekamuš nähern, sich benehmen und handeln, so wie die Menschen dies tun - allerdings nur ihm allein sichtbar, nicht den gewöhnlichen Leuten -, die mit ihm verkehren, sprechen und verhandeln, ihm Aufträge geben, oder mit ihm streiten, ihm zu Diensten sind oder ihn bekämpfen, ja selbst töten können usw. Je nach seiner Geschicklichkeit erhält und erlangt er mehr oder weniger Macht und Gewalt über die verschiedenen Geister, er kann sie sogar sich untertänig und botmäßig machen, daß vor seiner Stärke dann alle Köšpik zittern.

Ist der Yekamuš einmal so weit in der Autosuggestion vorangekommen, dann beeinflußt er suggestiv auch die übrigen Leute ganz bedeutend. Durch geschickte Wendungen, durch Fingerfertigkeit, durch Schnelligkeit seiner Handbewegungen, mit einem Wort: durch eine gewisse Art Taschenspielerkünste führt er schließlich den schon suggestiv Vorbereiteten irgendwelche Dinge vor, die die Fähigkeiten eines gewöhnlichen Mannes überschreiten und die diese als außergewöhnliche Leistungen beurteilen s er gilt dann als großer Yekamu&#353.

An mir selbst habe ich es in der Loimahütte verspürt, welch große suggestive Gewalt und Beeinflussung von dem in voller Tätigkeit sich befindenden Yekamuš ausgeht auf alle, die ein irgendwie empfängliches Gemüt mitbringen und sich wirklich beeinflussen lassen wollen. Und andererseits erscheint es mir nicht übertrieben oder unmöglich, daß nach monatelanger Schulung und nach später sich anschließender Selbstbeeinflussung im Yekamuš sich die Einbildungskraft bis zu dem Grade ent­wickeln kann, daß er in der festen Überzeugung lebt, die Geister verkehren ständig mit ihm, geben ihm Aufträge, denen er gehorsamst nachkommen muß, daß er mit deren Hilfe andere Leute krank und gesund machen, ja selbst töten kann. Hierin liegt auch der Erklärungsgrund dafür, daß bei Krankenheilungen und überhaupt immer, wenn der Yekamuš irgendeine seiner Amtsfunktionen ausübt, er vorher lange Zeit braucht, bis er in der richtigen Geistesverfassung ist, d. h. bis er durch einförmigen Gesang, durch rhythmische Bewegungen des ganzen Körpers, die ansteigend schneller und wilder werden müssen, sich selbst so stark suggestiv beeinflußt, daß seine Phantasiegebilde gemäß seiner Überzeugung reine Wirklichkeit sind, und daß er allem, was er in dieser autosuggestiven Erregung sich denkt und sich vorstellt, sofort auch ein wirkliches Geschehen und eine tatsächliche objektive Entwicklung zuschreibt. Selbstverständlich bleibt das ganze Benehmen des Yekamuš nicht ohne merkliche Einwirkungen auf das Gemüt der umstehenden Zuschauer. Tritt dann z. B. irgendwelche Wendung im Verlauf der Krankheit einer Person ein, die von der Tätigkeit des Yekamuš auch psychisch tief beeinflußt werden muß, dann zweifelt niemand mehr an der direkten Gewalt, die der Yekamuš über die Geister und Naturgewalten auszuüben imstande ist; ein Umstand, der die gewöhnlichen Leute noch leichtgläubiger macht für alle Zukunft.

Auf eine spätere Gelegenheit will ich es hinausschieben, weitere Einzelheiten zur Begründung der oben geäußerten Mei­nung beizubringen. Den, guten Yagan aber werde ich immer dankbar bleiben dafür, daß sie mir die seltene Möglichkeit ge­boten haben, mich persönlich unterrichten lassen und einleben zu können in der Kunst ihrer Medizinmänner. Sie selbst be­dauern allerdings, daß es heutigentags keinen einzigen großen Yekamuš mehr gäbe, wie solche in verhältnismäßig bedeutender Anzahl in früheren Zeiten sich fanden und sich berühmt machten durch so manche seltene Kunststücke und Proben, die sie ihren Leuten vorzuführen imstande waren.

Auf meine Frage hin, warum wohl diese tüchtigen Meister sich heute nicht mehr finden, antworteten sie in ganz bezeichnender Weise:       Das kommt von dem vielen und guten Essen, das die Christen (die Weißen) genießen und das auch wir alle jetzt zu nehmen uns angewöhnt haben. Davon werden Körper und Geist schwerfällig, die Träume aber kommen nicht mehr so leb­haft und häufig. Die alten Yekamuš haben eben bis Mittag ge­fastet und dann nur zwei bis drei Miesmuscheln täglich gegessen, wenn sie einen Kranken heilen wollten, oder schlimme Geister. verscheuchen mußten, oder im Traume ihre Schutzgeister zu befragen wünschten - sie kannten eben Alkohol, Tee oder Kaffee nicht, wie wir diese Dinge nunmehr so häufig genießen. Jene alten Meister begnügten sich mit einigen Tropfen Wasser; nachts ruhten sie nur kurze Zeit aus und das nur in Hockstellung.' -­Es ist wirklich Tatsache, daß die heute lebenden Yagan sich allzuviel an die europäischen oder importierten Nahrungsmittel wie: Mehl, Zucker, Nudeln, Reis, Hülsenfrüchte, Kaffee, Alkohol und besonders Hammelfleisch gewöhnt haben. Nur nebenbei, oder in Zeiten der Not, oder falls ihnen Geld mangelt, geben sie sich mit der Nahrungsversorgung, wie sie in alter Zeit geübt wurde, zufrieden.

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DIREKTE ODER INNERE BERUFUNG ZUM YEKAMUŠ (ZAUBERDOKTOR)

Seinegenaueren Feststellungen zu diesem so interessanten Thema faßt M. Gusinde in einem späteren Schreiben zusammen wie folgt:
1. Wenn einer so ganz allein durch den Wald geht, träume, lisch in sich versunken, sieht er plötzlich vor 'sich eine große Zahl von Geistern. Dies ist ein kleingestaltiges Volk, doch von der Körperform der Menschen. Diese Person (Mann, Mädchen oder Frau) fällt dann um und bekommt einen tiefen Schlaf, träumt und sieht im Traume diese kleinen Geister viel klarer und besser, wie sie um ein großes Feuer sitzen, sich wärmen und leise sprechen; sie winken freundlichst dem Schläfer; besonders einer oder zwei von ihnen zeigen sich besonders gütig und entgegen­kommend und laden ihn ein, sich zu ihnen zu setzen, was der Träumer auch tut, und er fühlt sich wohl in dieser Gesellschaft.

Diese Geister sind: Hateka-Yekamuš, sie leben meist in alten Stämmen; diese Stämme werden von den Geistern in auffälliger Weise bewegt (= der Stamm macht Bewegungen, wie ein anderer Baum sie nicht ausführen kann: starkes Neigen, Drehen um die eigene Achse), diese Stämme sind ihre Wohnung. - Wenn dieser Träumer dann erwacht, bleibt ihm diese Traumerscheinung im besten Gedächtnis; er reibt sich die Augen, denn sein Schlaf war schwer und tief; er ist schon Yekamuš und braucht keine besondere Schule mehr; denn er hat schon seinen Schutzgeist, d. h. jenen Geist, der ihm besonders freundlich entgegengetreten ist; dieser Geist selbst wird ihm dann den bestimmten Gesang geben und lehren.

2. Es können aber einer solchen Person, die am Strande wie geistesverloren wandelt (Bursche oder Mädchen) auch die Tschowanni-Yekamuš erscheinen; das sind Geister, die weit draußen in der Hochsee leben: auch hier fällt diese Person um, sieht im Traume alle diese Geister, wie sie von weither heran­kommen und um das große Feuer sich setzen, dann den Träumer einladen in ihre Gesellschaft.

3. Auch erscheint unter den beiden erwähnten Umständen manchmal die Hauatschella-Kipa, die große weibliche Teufels­gestalt aus der Loima-Yekamuš-Schule, selbst, aber dann immer in Form eines großen Walfisches, um vieles größer als der lebende, größte Wal. Der Träumer sieht sie unter dieser Gestalt und weiß diese Erscheinung zu deuten. In solchem Falle muß der Träumer später die Schule noch durchmachen; im Falle 1. und 2. ist die Verpflichtung dazu nicht so streng, doch immer noch ratsam, zumal wenn diese Person jung ist; ältere Personen aber sind nicht dazu verpflichtet.

In den erwähnten Fällen wacht dann der Träumer auf, und mit schwerem Kopfe geht er nach Hause. Die übrigen Yekamuš sind von ihrem eigenen Yefatsel (= Schutzgeist) schon von der Vision, die jener Träumer hatte, unterrichtet worden. Auch die übrigen Leute sehen es dem Ankömmling an, daß etwas Besonderes ihm zugestoßen sein muß. Niemand belästigt oder fragt ihn. Er geht in seine Hütte, sehr wortkarg und wie geistes­abwesend; er legt sich wieder hin auf sein Nachtlager und schläft bald ein. Ein sehr tiefer Schlaf kommt über ihn; niemand macht irgendwelche Störung. Selbstverständlich ißt und trinkt er nichts. Im Traume kommt dann wieder jenes kleine Volk von Geistern, wie er sie kurz zuvor gesehen; er fühlt sich jetzt noch heimischer in dieser kleinen Gesellschaft. Wieder tritt ein Geist ihm mit überschwenglicher Freundlichkeit und Herzlichkeit entgegen; er empfiehlt sich dem Träumer ganz besonders; dies ist dann der eigentliche Schutzgeist (Yefatsel) des angehenden Doktors; dieser Schutzgeist gibt nun dem letzteren seinen Gesang; diesen Gesang greift der Träumer auf und übt sich darin im Traume, bis er ihn gut beherrscht. Er wacht dann vom tiefen Schlafe auf und bald fängt er an zu singen. Das hören die anderen Leute, und alle wissen um seine Berufung. Doch bald fängt er an, sich in seinem Amte zu üben, und je nach seinen Erfolgen wächst das Vertrauen der Leute zu ihm. Je nach seiner Fertigkeit macht er nochmals die Schule durch oder nicht.

Es konnte eigentlich jeder für diesen Beruf sich entschließen und die Schule besuchen, der eben Lust hatte und nach An­sicht der anderen Yekamuš auch Anlagen zeigte. Wenn Verwandte sahen, daß ein Knabe aus ihrer Verwandtschaft Be­fähigung zeigte, wurde er zum Besuch der Schule' verpflichtet; desgleichen Personen, welche die obenerwähnte Erscheinung' hatten; das wußten die übrigen Yekamuš und drangen in diese Person, diesem Amte sich zu widmen. Solche, die der inneren Berufung nicht Folge leisteten, starben gewöhnlich bald."

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HERKUNFT VON KINA UND DOKTORENSCHULE

Die persönliche Teilnahme am Medizinmännerkurs bei den Yagan ließ M. Gusinde auch neues Material gewinnen zur Be­antwortung der Frage nach der Herkunft dieser Einrichtung, sowie des damit irgendwie zweifellos zusammenhängenden Kina­festes. Sein Brief (2. April 1923) berichtet darüber wie folgt: „Auf den Zusammenhang von Loima -Yekamuš und der Kinafeier habe ich im obigen schon gelegentlich hingewiesen. Tatsächlich unterliegt es keinem Zweifel mehr, das beide Ein­richtungen einem fremden Kultureinfluß zugeschrieben werden müssen, während Tschiechaus (Jugendweihe), soweit diese in einzelnen Punkten nicht auf die Alakaluf hinweist, einen durch­aus originalen Charakter hervortreten läßt.

Obwohl wir, mein Reisegefährte von 1922 W. Koppers und ich, schon im vergangenen Jahre zu einer gewissen Sicherheit darüber gekommen waren, daß die beiden genannten Einrichtungen wohl von den Ona übermittelt worden sein müssen, da das K 1 o k e t e n (Geheimfest) der letzteren sich nicht wesentlich vom Kina der Yagan unterscheiden wird, gelangte ich dieses Jahr zur vollsten Sicherheit darüber. Denn gemäß einer sehr alten Tradition wurden tatsächlich sowohl Kina als auch Loima-Yekamuš vom Norden her in die Heimat der Yagan gebracht, natürlich in sehr weit zurückliegender Zeit. Die Überlieferung berichtet darüber. ,Oben im nördlichen Teile dieser Isla Grande, [der größten der Inseln des Feuerlandgebietes] ], auf der schönen Pampa (mit Gras bedeckten Ebene) in der Gegend von Yayiochan (auf dem Südufer der Maghellanstraße), da spielten die Weiber zuerst Kina. Damals hatten ja die Weiber allein die Gewalt, sie herrschten, und die Männer waren ihnen untertan, so wie heute die Weiber den Männern gehorchen müssen. Diese Weiber spielten nun lange schon und suchten daher immer nach dem großen Teufel, dem Tanowa, wo er wohl wäre und ob er aus der Erde herauskäme, in ihre Kinahütte einträte usw. Aber sie fanden ihn in jener Gegend nicht, und so zogen sie weiter, erst der Nordküste dieser Isla Grande entlang, bis an die Nordostspitze. Und wo sie Rast machten, da bauten sie die Kina­hütte und spielten immer weiter. Und von da zogen sie am Ost­ufer dieser Insel entlang in der Richtung nach Süden; und überall, wo sie spielten, entstand eine schöne, weite Pampa [- ganz ebenes Land mit niedrigem Graswuchs], und immer suchten sie nach dem großen bösen Geist, dem Tanowa. Und sie zogen immer weiter nach dem Süden, bis sie in die Nähe des Cabo San Pablo [Kap St. Paul] kamen; dann gingen sie nicht mehr der Küste entlang, und daher sieht man auch heute noch, daß südlich von diesem Kap sich nur bewaldetes gebirgiges Land findet. Die Weiber nahmen jetzt eine südwestliche Rich­tung, überschritten die Kordillere und kamen hier an den Beagle-Kanal, an die südliche Küste dieser Isla Grande, ungefähr in der Gegend von Puerto Harbarton. Von hier aus zogen sie west­wärts, und wo sie die Kinahütte bauten und spielten, wie z. B. in Puerto Brown [gut zwei Reitstunden westlich von Puerto Harbarton gelegen], da gestaltete sich die Erde um, und es bildete sich eine sehr schöne ebene Landfläche. Und später zogen sie weiter an der Küste des Beagle-Kanals entlang, westwärts, bis sie endlich nach Yaia-Agaka (= boca del infierno) kamen, etwas südlich vom heutigen Städtchen Ushuaia. Hier spielten sie wieder oft und sehr lange Zeit ihr Kina. Aber da nach langem Spielen und Suchen sie den Tanowa doch nicht finden und aus der Erde herausholen konnten, da entschlossen sie sich, nicht mehr weiter zu wandern, sondern hier in Yaia-Asaka zu bleiben; denn dieser Platz gefiel ihnen, und sie sagten, hier wollen wir bleiben. Wir wollen jetzt die Männer täuschen und ihnen sagen: ,Wir haben jetzt Tanowa gefunden, und er kommt jetzt aus der Erde heraus und ist bei uns im Rancho !' Da wickelten sie einige trockene Felle zu einer dicken Rolle zusammen, schlugen damit auf die Erde, daß es dröhnte, schrien, brüllten und heulten wie aufs höchste geängstigt, daß es die Männer, die in ihren Hütten waren, hörten und, ebenfalls von großer Furcht ergriffen, sagten ,Wirklich, die Weiber haben Tanowa entdeckt. Denn früher hatten sie nur geschrien und gerufen, während die übrigen Geister auftraten.' Als aber dieses fürchterliche Gebrüll anhob und die Erde dröhnte, sagten die Männer: Das ist sicherlich Tanowa, der aus der Erde steigt, die Weiber haben ihn gefunden!

Hier also in Yaia-Asaka spielten sie weiter und hielten ihre Männer in Angst und Unterwürfigkeit; auch verrichteten diese, wie bisher, alle Arbeiten.

Löm, die Sonne, weil ein trefflicher Jäger, wurde wie gewöhnlich auf die Jagd geschickt; denn er brachte immer gute Beute heim, und die vielen Weiber in der Kinahütte benötigten sie. Eines Tages kam er nun wieder von der Jagd zurück und schleppte ein großes Guanaco heran. Als er sich dem Lager näherte, kam er bei einer Lagune vorbei und hörte hier die Stimmen zweier Mädchen. Löm wurde neugierig und sagte sich: Was mögen diese beiden wohl haben? Er schlich sich heran, verdeckt vom Gebüsch, und sah nun, wie die beiden Mädchen sich die Bemalung (in welcher die Geister' aufzutreten pflegen) abwuschen und dabei Übungen machten, um die Stimme seiner Tochter (= der Tochter des Löm) nachzuahmen, die eine be­vorzugte Rolle im Kinahause spielte. Die Mädchen sagten: Wir wollen uns gut üben und die Tochter der Sonne (= des Löm) genau nachahmen; dann wollen wir ihr singen helfen und die Männer täuschen!' So übten sie weiter und sprachen von dem Leben und Treiben im Kinahause.

Da sprang Löm plötzlich aus dem Versteck hervor und stellte sich so nahe vor die Mädchen, daß sie nicht entwischen konnten, und sagte: Was macht ihr denn hier?' Sie verstummten vor Schrecken. Ihr müßt mir alles sagen, was ihr hier macht, was ihr gesprochen habt und was in der Kinahütte vor sich geht; vieles habe ich ja schon gehört!` Da wurden die Mädchen rot vor Scham, und der Schweiß trat ihnen auf die Stirn vor Angst, und schließlich erzählten sie ihm alles und sagten, daß die Weiber selbst bemalt und maskiert aus der Hütte treten, daß keine eigentlichen Geister da seien, und daß sie selbst brüllen und heulen, um die Männer zu erschrecken, nicht aber der Tanowa ... Da sagte Löm: Zum Dank will ich euch einen Rat geben: Bleibt hier an der Lagune, geht nicht mehr zurück zum Lager, zur Kinahütte, denn etwas Schlimmes wird jetzt eintreten!` Da blieben diese beiden Mädchen zurück und verwandelten sich später in kleine Süßwasserenten.

Löm indessen nahm jetzt sein erlegtes Guanaco wieder auf die Schultern und ging nach Hause, daran denkend, sich bald zu rächen. Angekommen, warf er zornig das Guanaco auf die Erde und sagte: Also dazu schleppe ich alle Tage die gute Jagdbeute herbei, daß meine Töchter sich über mich lustig machen und uns Männer insgesamt täuschen und uns das Fleisch wegnehmen, um es in der Kinahütte zu essen!' - Und alle, die in dieser Hütte waren, schauten erstaunt auf und fragten sich ,Was ist denn los, was spricht Löm, weshalb ist er so wütend?' Zufällig saß die Tešurš-Kipa (jetzt ein kleiner Vogel) in der Nähe und arbeitete an einer Harpunenspitze. Sie hörte die zornigen Worte der Sonne und sagte sich: Dem muß wohl jemand die Sache erzählt haben; vielleicht hat er die beiden Mädchen belauscht, die an der Lagune Übungen machten. - Sie wurde rot vor Scham, denn sie glaubte sich mit allen Weibern entdeckt. Und dachte: Wie kann ich ihn nur zum Schweigen. bringen, daß er nicht viel erzählt und niemand etwas erfährt; denn viele Männer lagen ja in derselben Hütte, wohl zugedeckt, aber doch wach! Nur sie selbst saß da, ohne unter die Decke gekrochen zu sein. Als nun Löm eintrat, sagte ihm dieses Weib in der Absicht, um alles zu vertuschen, ihn zum Schweigen zu bringen: Soeben haben wir Weiber den Männern großen Schrecken eingejagt, wir sind hier zum Rancho gekommen, die Männer krochen unter die Decken und glaubten wohl, wir wären Geister! Dies sagte sie, um Löm etwas verdutzt zu machen, damit er nicht weiter spräche und die Männer nichts hören sollten!

Bald danach indes ging sie hinaus, lief zur Kinahütte und erzählte den Weibern, daß Löm alles wisse. Große Bestürzung unter den Weibern war die Folge. Sie standen auf, malten sich, schrien, setzten sich Masken auf und kamen wieder zur Hütte, wo alle Männer sich zusammengefunden hatten, um letzteren abermals Angst und Schrecken einzujagen. Die Männer schauten heimlich hervor aus den Fellen, mit denen sie zugedeckt waren, und sagten: Wir wollen uns jetzt aber nicht erschrecken lassen, sondern gut zuschauen, ob dies die Weiber sind!' Da hielten sie sich wohl die Hände vor das Gesicht, aber unvermerkt schauten sie zwischen den Fingern durch, und während die Weiber so tanzten und schriee und mit ihrem Mund ganz nahe an die Ohren der Männer herankamen, da ermüdeten Weiber abzogen, deckten sich die Männer auf und sagten: Jene war meine Tochter - jene war deine Frau - jene war mein Weib, usw. Es sind keine Geister, sondern nur unsere Weiber.'

Nun schickten die Männer den Schnellfüßigsten von ihnen aus, den Weibern nachzulaufen. Er trat schnell in den Weiberrancho ein: Die Frauen saßen im Kreise um das Feuer, und jede Frau hatte hinter sich die Maske gegen die Hüttenwand ge­lehnt, und das Gesicht einer jeden konnte der kleine Mann - Šalalakina hieß er (= kleiner Vogel) sehr gut erkennen. Er lief schnell in die Hütte hinein und machte die Runde hinter dem Rücken der dasitzenden Weiber und warf alle Masken um und entwischte an der anderen Seite des Einganges. Da ahnten die Weiber, daß wohl ein schneller Mann hier durchgelaufen und die Masken umgeworfen haben mußte. Vor Schmach knirschten und schriee sie. Dieser kleine Läufer erzählte nun den Männern: .Ich war in der Hütte, lief schnell herum und warf alle Masken um, aber Tanowa habe ich nicht gesehen! Es waren nur Weiber in der Hütte!' Doch glaubten die Männer, mehr Sicherheit sich verschaffen zu müssen, daß die Tanowa-Erzählung nur Schwindel der Weiber sei. So schickten sie bald diesen, bald jenen Mann, die Schnelläufer waren; erst die kleineren, dann die größeren. Das merkten aber die Weiber, und sie nahmen Pfeil und Bogen; und wenn wieder solch ein Mann durch die Hütte lief, sandten sie ihm einen Pfeil nach, und dieser wurde dann zum Schwanze, weil der Pfeil schauten die Männer gut zu. Sie hielten sich aber still, und als nach mehreren Stunden des Tanzes die jedesmal stecken blieb; besonders die schwer­fälligen Tiere (die damals Männer waren) wurden leichter er­reicht und haben daher bis heute ihren Schwanz. Der Fischotter warf man eine Harpune nach; sie hat deshalb bis heute noch den breiten Schwanz; dem Fuchs warf man einen gerade da­liegenden Canelostrauch mit allen Blättern und Zweiglein nach, der blieb ihm auch stecken, und so ist sein Schwanz buschig. Und jeder Mann, der so der Hütte sich näherte, wurde von Weibern vertrieben.

Als endlich die Männer keinen schnellfüßigen Läufer mehr hatten, ruhten sie aus. Dann bewaffneten sie sich mit ihren Knütteln, Schleudern, Harpunen, Steinen, Pfeilen und rückten immer näher heran, und es kam zum schweren Kampfe. Nur zwei konnten entwischen; alle übrigen bekamen schwere Schläge und wurden in Tiere verwandelt; ihnen allen kann man anmerken, daß sie damals einen immerwähren­den Denkzettel mitbekommen haben. Und während des Kampfes schüttete Löm große Wasser­mengen auf die Kinahütte, um das Feuer zu löschen; und dieses Wasser       bildete  eine gewaltige Welle, und diese Welle ging dann weit hinaus ins Meer und nahm die großen Hochseetiere mit, denn für diese gibt's ja keinen Platz hier auf der Erde; und diese Welle sieht man heute noch, es sind die gewaltigen Wogen, die an hochragenden Felsen sich brechen. So wurden fast alle Weiber umgebracht, und bald nach diesem schweren Kampfe ging dann Löm als Sonne zum Firmament hinauf, und seit jener Zeit spielen die Männer Kina in gleicher Weise, nach gleichem Programm, wie einstens die Weiber.

Dies ist die alte Sage, welche den Ursprung des Kinafestes erklären soll. Tatsächlich ist darin eine Kulturübertragung zu sehen; dem Kloketen der Ona, das ich in den Monaten Mai und Juni 1923 miterlebte, ist es in allen wesentlichen Punkten gleich."

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GESCHICHTEN UND MYTHEN, WELCHE DIE YAGAN SICH ERZÄHLEN

Die Zahl der Mythen und Erzählungen bei den Yagan ist nicht gering. Im Jahre 1920 hatte Gusinde bereits eine vorzügliche Gelegenheit gefunden, gerade auch diese Schätze zu sammeln. Als ihre beste Kennerin gilt nämlich heute die Frau des Alfredo. Sie stand Gusinde damals wochenlang zu Diensten, während Calderón mit gewohnter Gewandtheit sich als Dolmetscher betätigte. An die vierzig längere und kürzere Mythen und Erzählungen legte Gusinde bei jener Gelegenheit schon fest. Der Hauptschatz war damit geborgen. Die Nachlese, welche wir 1922 anstellten, erhöhte diese Zahl auf gut fünfzig.

Wir staunten nicht wenig über das relativ reiche Geistesleben, das die Yagan auch unter dieser Rücksicht offenbaren. Ihrer Aufmerksamkeit entgeht kaum etwas. An alle irgendwie auffälligen Naturdinge, wie bestimmte Tiere, Pflanzen, Gestirne usw., knüpfen sie. ihre Gedanken und dann auch ihre Geschichten an. So kommen vor allem auch ihre Tierfabeln und Riesengeschichten zustande, von denen hier einige Beispiele wenigstens geboten werden sollen.

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a) Die Geschichte vom selbstsüchtigen Eetech (Kormoran)

Eines Tages fuhren sehr viele Leute in ihren Kanus zu einer Felseninsel, um Vögel zu jagen. Sie erbeuteten eine gute Menge schon am zweiten Tage. Aber da setzte unerwartet sehr schlechtes Wetter ein, und es war unmöglich, die Kanus zu be­steigen zur Rückfahrt. Es fehlte an Wasser, und mit jedem Tage wurde die Lage ernster; so zwar, daß die Leute alle vor Durst umzukommen schienen. Und doch war einer unter ihnen, der schien irgendwo Wasser entdeckt zu haben, denn man merkte ihm gar nicht an, daß er Durst litte. Das war der schwarze Kormoran. Tatsächlich hatte er weit drinnen im Innern' der Insel eine kleine Lagune aufgefunden, die etwas Süßwasser enthielt. Er war aber derart selbstsüchtig, daß er dieses Ge­heimnis für sich behielt und allein dorthin ging, unbemerkt von den anderen, um Wasser zu trinken; es rührte ihn nicht im entferntesten, daß die anderen vor Durst verschmachteten. Wenn er sich nur mit Wasser versorgen konnte, war es ja genug; die anderen kümmerten ihn nichts. Da kam ein Mann und sagte ihm: „Du hast wohl irgendwo eine Wasserquelle entdeckt und trinkst dort allein; warum sagst du uns nicht, wo diese ist?" Er sagte darauf: „Ich weiß nicht, daß hier eine Wasserquelle wäre; denn diese Insel ist klein und steinig."

Später fragte ihn ein anderer: „Wo holst du denn Wasser? Wir sehen nämlich, daß du keinen Durst hast, und wir ver­schmachten fast." Darauf sagte er: „Ich spüre bisher noch keinen Durst, und Wasser gibt es hier nicht!" Da kamen wieder andere Männer zum Eetech und drängten ihn und sagten ihm Du mußt von irgendwoher doch Wasser haben; wir haben dich nämlich beobachtet und konnten sehen, daß du Fleisch issest. Aber ohne Wasser kann man nicht lange Fleisch essen; es trocknet ja die Kehle gänzlich aus. Deshalb können wir ja auch kein Fleisch essen, weil es uns in der trockenen Kehle stecken bliebe! Also rücke nur mal heraus mit der Sprache und sage uns, wie du es anstellst!" Da erwiderte Eetech : "Gewiß, ich esse Fleisch, aber Wasser zum Trinken habe ich auch nicht; aber ich mache es so: ich reiße den Mund weit auf und halte ihn so offen gegen den Wind lange Zeit; da wird mein Mund und meine Kehle gut angefeuchtet,. und dies reicht mir, und da­mit halte ich gut aus!" Da sagten die anderen: „Das kann nicht sein!" Und Eetech sagte: „Macht doch die Probe!" Und da machten einige Männer die Probe und kamen zum Eetech zurück und sagten: „Eigenartig, wir haben den Mund auf­gemacht, so weit als möglich, wie du gesagt hast, und haben den offenen Mund gegen den Wind gehalten; aber da wurde uns die Kehle noch mehr trocken, als sie schon vorher war! Wie sonderbar ist doch die ganze Sache!" Da sagte Eetech „Ich helfe mir auf diese Weise!" Und ungläubig gingen die anderen zu ihren Hütten.

Die Leute waren nahe daran, gänzlich zu verschmachten und vor Durst zu vergehen. Da dachte der schlaue Wuasenint (weißbäuchiger Kormoran) : Es muß mein Vetter, der Eetech, doch irgendwo Wasser haben; ich will ihn mal gründlich und genau beobachten! Als eines Tages Eetech wieder seine Hütte verließ und ins Innere der Insel ging, da schlich ihm Wuasenim nach mit aller Vorsicht. Wenn dann Eetech sich umwandte, dann duckte sich Wuasenim schnell; zum Glück war etwas Gras auf dem Boden. Und da Eetech sehr oft zurückschaute, mußte Wuasenim gar oft sich ducken. So gingen sie voran; Eetech zuerst, und hinter ihm, unbemerkt, der Wuasenim. Als endlich Eetech zur Lagune kam, da schaute er wieder aus nach allen Seiten, um sicher zu sein, daß niemand ihn beobachtete; und schnell duckte sich wieder Wuasenim; da glaubte sich Eetech ganz sicher. Und langsam bückte er sich nach unten, und mit Wohlbehagen schlürfte er das frische Wasser. Als das Wuasenim sah, war er zornig; er lief schnell herbei, faßte den Eetech am Genick, schüttelte ihn herzhaft und schrie ihn dann an: „Also hast du doch eine Wasserquelle gehabt, du miserabler, selbst­süchtiger Kerl! Es ist dir ganz gleichgültig gewesen, daß wir alle hier vor Durst fast verschmachtet wären. Jetzt sollst du Wasser trinken, so lange du willst, und mehr, als dir lieb ist!" Dabei faßte er ihn noch kräftiger und hielt ihn so lange unter dem Wasser, bis er ertrank!

Nun ging Wuasenim zu den übrigen Leuten und erzählte ihnen alles, daß Eetech ein so ganz selbstsüchtiger Kerl ge­wesen wäre, wohl eine kleine Lagune entdeckt hatte, aber nur ganz allein dort sich Wasser holte. Und Wuasenim zeigte den Leuten den Ort, wo diese Lagune war; und alle kamen und tranken und waren froh ob dieser Rettung. Und das Wasser langte aus, bis das Wetter wieder besser wurde, alle bestiegen dann ihre Kanus und zogen weg von dieser Insel.

Auch heute sieht man noch, wie die Kormorane gerade auf Felsen sich aufhalten, wo gewöhnlich das Wasser fehlt. Und ihre heisere Stimme haben sie behalten von jener Zeit her, da sie so starken Durst gelitten haben. Auch Eetech streckt heute noch seinen offenen Schnabel gegen den Wind, wie er es damals jenen Leuten vorgezeigt hatte; und wenn Eetech sich zugleich mit Wuasenim bei Süßwasser trifft, haben sie immer noch Streit, wie damals, als Wuasenim den Eetech am Genick packte.

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b) Die Geschichte von der [verliebten] Seeassel..

Es war einmal eine Frau, die immer mit sehr großer Lust täglich hinausfuhr auf die hohe See, um Vögel zu holen; sie hatte nämlich in ihrem Kanu einen jungen Mann versteckt, in den sie sehr verliebt war. Deshalb ging sie so gern jeden Tag schon sehr zeitig hinaus auf die hohe See, um unbemerkt mit diesem Manne allein sein zu können; und erst am späten Abend kam sie heim. Aber immer brachte sie sehr viele Vögel zur Hütte und verteilte sie an alle Leute. Da fragten die anderen Weiber: „Wo findest du denn alle Tage so viele und so große Vögel?" - Und da sagte dieses Weib: „Diese Vögel finde ich immer dort, wo ich hinfahre, so ganz frisch, eben getötet. Diese lade ich schnell auf mein Kanu und bringe sie hierher." - Darauf erwiderten die anderen Weiber: „Aber wie ist denn das möglich? Wir haben noch nie so große und so viele Vögel ge­funden, wie du; und wir suchen doch auch überall herum, und fahren von einer Stelle zur anderen; du aber bringst alle Tage gute Beute heim." - Da sagte dieses Weib: „Ja, ich finde alle Tage diese Vögel. Man muß eben gut suchen."

Es war nämlich ihr Liebster ein trefflicher Schütze, der die Schleuder sehr gut zu handhaben wußte; der war es, der immer die vielen und großen Vögel tötete. Dann gab er sie jenem Weibe; deshalb brachte es immer am Abend sehr viele zum Lager an.

Eines Tages nun ging dieses Weib wieder hinaus auf die See, in ihrem Kanu. Und als dieses Kanu weit weg war vom Strande, da hielt eine andere Frau Ausschau vom Lager aus und konnte ganz deutlich zwei Personen in dem fernen Kanu unterscheiden. Da rief sie schnell andere Weiber herbei und sagte zu ihnen: „Schaut doch mal hinaus! Ich kann ganz deut­lich zwei Personen in jenem Kanu unterscheiden." - „Ja," sagten die anderen Weiber, „wir sehen auch ganz deutlich zwei Personen in jenem fernen Kanu. Wer weiß, ob da nicht irgend­ein Mann mit jenem Weibe im Kanu sitzt?" - Und ein anderes Weib fügte noch bei : „Wenn die beiden weit draußen sind auf der See, muß wohl jener Mann die Vögel mit der Schleuder erjagen; deshalb bringt jenes Weib immer sehr viele und große Vögel zu unserem Lager und sagt: Ich habe alle diese Vögel gefunden, sie waren noch ganz frisch und können eben erst ge­tötet worden sein." - Daraufhin sagten die anderen Weiber: „Aber wer mag wohl jener Mann da sein? Ganz deutlich unter­scheiden wir zwei Gestalten in jenem Kanu!"

Danach liefen all diese Weiber zur Hütte jener Frau; hier schauten sie nach, ob ihr Gemahl etwa mit ihr hinausgefahren wäre auf die See. Aber dieser Mann war in seiner Hütte; er saß am Feuer und wärmte sich. Da sprachen die anderen Weiber unter sich: „Wer mag wohl jener andere Mann sein, der mit jenem Weibe im Kanu sitzt? Es muß doch wohl ein Mann sein!" Und danach gingen all diese Weiber in ihre Hütten zurück.

Als nun am Abend jene Frau wieder zum Lagerplatz zurück­kam von ihrer Fahrt in die See hinaus, da brachte sie wieder viele und große Vögel heim;, sie verteilte diese reiche Beute unter die anderen Weiber. Dabei sagten die anderen Weiber zu ihr: „Woher bringst du denn wieder so viele und große Vögel?" - Darauf sagte sie: „Diese habe ich weit draußen gefunden; und da diese Vögel noch ein frisches Aussehen hatten und erst kurz vorher getötet sein konnten, deshalb habe ich sie mitgebracht." - Auf dieses erwiderten die anderen Weiber: „Aber wir sind gestern gerade auch in jener Gegend gewesen, wo du heute warst, und wir haben nichts gefunden; wie ist es denn möglich, daß du gerade dort heute so viele und große Vögel finden konntest." - Und daraufhin sagte sie: „Das mag wohl sein, daß ihr gestern keine Vögel gefunden habt; aber heute fand ich alle diese Vögel." - Während die Weiber so sprachen, da lauschte unbemerkt der Gemahl jener Frau diesen' Geplauder. Als nachher jene Frau etwas weiter weggegangen war, da sagten die anderen Weiber zu jenem Manne: „Deine Frau muß wohl Verbindung und Umgang haben mit einem anderen Manne, denn wir sahen heute zwei Personen in ihrem Kann. Wie wäre es anders denn möglich, daß sie immer so viele und so große Vögel findet, und wir alle können gar nichts finden." Und andere Weiber sagten: „Wer mag wohl jener Mann sein, der mit jenem Weibe immer im Kanu hinausfährt. Wir haben doch nie ihn einsteigen gesehen." - Dieses Ge­rede hörte auch der Gemahl jenes Weibes, und er überdachte alles.

Am nächsten Tage, wie immer, ging seine Frau sehr freudig und vergnügt zu ihrem Kanu und fuhr hinaus auf die See. Und als sie weit draußen war, da schaute ihr Mann gut zu; doch sagte er nichts von dem, was er gesehen und vorhatte, den anderen Weibern. Am Abend spät kam seine Frau wieder zurück, und brachte, wie immer, sehr viele und große Vögel mit. Ihr Mann erwartete sie diesmal am Strande. Als das Kanu auf den Strand gelaufen war und auf dem Ufer festsaß, da stieg der Mann schnell ein und schaute in dem Kanu etwas herum. Dann sagte er zu seiner Frau: „Ich sehe, daß du wieder viele und große Vögel angebracht hast." -,Darauf erwiderte seine Frau: „Ja, diese alle habe ich draußen gefunden; ich hatte wieder gutes Glück." - Da sagte der Mann: „Das freut mich sehr! Aber ` ich sehe, daß das Kanu viel Wasser einläßt; es wird gut sein, die Ritzen auf dem Boden etwas zu verstopfen." - Schnell ant­wortete darauf seine Frau: „Das ist gar nicht nötig, denn eine nur ganz geringe Menge Wassers tritt ein; es verlohnt sich gar nicht, diese kleinen Ritzen zu verstopfen." - „Dennoch ist es besser, das alles bald zu machen," sagte der Mann; „denn ,später erweitern sich die Ritzen, damit kommst du und das Kanu in Gefahr." - „Das ist wirklich noch nicht nötig, sich diese Mühe zu machen", sagte die Frau. - „Mir aber scheint es doch das beste, ich fange bald mit dieser Arbeit an, die Brettchen des Bodens etwas hochzuheben und die kleinen Ritzen zu verstopfen." - „Spare dir doch diese Mühe", sagte mit fast ängstlichem Tone die Frau. - „Doch, doch," sagte der Mann, "viel besser ist es, ich mache diese kleine Arbeit sofort!" -

„Meinetwegen denn," erwiderte verdrießlich die Frau, „wenn du durchaus diese kleinen Ritzen verstopfen willst, so werde ich dir zeigen, wo sie sind. Schaue mal her, sie sind gerade im Vorder­teil." - „Das kann nicht sein," behauptete der Mann, „ich sehe nämlich, wie gerade im Hinterteil das Wasser eindringt!"  Und ehe sein Weib ihn daran hindern konnte, hob er schnell hier am Hinterteil des Kanus einige Brettchen hoch. Da sah er hier einen Mann liegen, der versteckt war; er hatte das Ge­sicht nach oben gewandt, weil er auf dem Rücken lag. Wirklich trat ein wenig Wasser ins Kanu; damit dieser Mann gut atmen konnte, lag er mit dem Gesichte nach oben gewandt. Die Frau wurde bleich vor Furcht. Ihr Mann aber geriet in Wut, griff nach einer Harpune und durchbohrte damit den Liebhaber seiner Frau. Danach warf er den Leichnam ins Wasser.

Jetzt gingen die beiden in ihre Hütte; diese Frau aber war sehr traurig und sagte kein Wort; auch wollte sie nicht essen. Am nächsten Morgen schickte sie ihr Mann hinaus auf die See, um Vögel zu holen. Sie hatte diesmal nicht Lust dazu; doch ging sie. Erst spät am Abend kam sie wieder zurück, aber sie brachte keinen einzigen Vogel mit. Da kamen die anderen Weiber, wie immer, an den 'Strand, und hofften einige Vögel zum Geschenk zu erhalten. Jetzt sahen sie auch, daß dieses Weib gar keine Beute gebracht hatte. Da lachten sie spöttisch und sagten: „Schaut doch mal her! Jetzt zeigt sich, daß jenes Weib uns immer belogen hat. Es war eben ihr Liebster, der immer die vielen und großen Vögel jagte; und sie sagte zu uns: Ich habe diese Vögel gefunden, ganz frisch und eben erst ge­tötet. Und diesen ihren Liebsten hatte sie sich gut in ihrem Kanu versteckt." Und das andere Weib schämte sich jetzt sehr. Ihr Liebster aber war die Seeassel; noch heute schwimmt er auf dem Rücken, so wie er in ihrem Kanu gelegen hatte.

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c) Eine Riesengeschichte

Es lebte ein blinder Mann mit seiner Frau. Beide schliefen nicht zusammen, sondern getrennt zu beiden Seiten des Feuers. Zu diesen schlich sich des Nachts ein Hanug (Hanug heißen die sagenhaften Riesen) in die Hütte und kam zu der Frau. Der blinde Mann hörte den Hanug weggehen und fragte: „Wer ist denn das?" Die Frau antwortete: „Es ist nichts." Schließlich aber wurde der Mann gewahr, daß seine Frau schwanger war, und bald schon gebar sie einen Sohn. Der blinde Mann liebte den Sohn aber nicht, weil er wußte, daß er nicht der seinige war. Dieser Sohn aber war wie ein Wunderkind, in. wenigen Tagen war er groß, konnte laufen und klettern und arbeitete für die Eltern, besonders für den blinden alten Mann, in dem er seinen wirklichen Vater sah.

Nun fand der Sohn im Walde hier und dort sonderbare Zeichen an den Bäumen. Er fragte sich: „Woher mögen die stammen? Mein blinder Vater macht sie doch nicht." Da auf einmal sah er den Hanug hinter einem Baume stehen. Der sagte zu ihm: „Ich bin es, der die Zeichen machte." Der Sohn ant­wortete nichts; denn er fürchtete sich vor dem Hanug. Letzterer sprach darauf: „Jetzt erschrickt mein eigener Sohn vor mir!" Darüber verwunderte und ärgerte sich der Sohn, und er sagte zu seiner Mutter: „Wie kann ich denn zwei Väter haben?" Der blinde Vater erzählte ihm darauf von den nächtlichen Be­suchen des Hanug. Die Mutter aber verteidigte sich und sprach -­„Ich weiß von nichts, es war mir wie im Traum!" Der Sohn aber arbeitete weiter für den blinden Mann; er liebte den Hanug (seinen eigenen Vater) nicht. Eines Morgens wieder im Walde tätig, kommt der Hanug und nimmt ihn mit weit fort und läßt ihn die große Hanugfamilie (Aiaauäla) sehen. Das war nun eine sonderbare Gesellschaft: die einen hatten vier Augen, die anderen nur eines, einige hatten keinen Kopf, andere zeigten das Gesicht auf der Brust, diese hatten nur ein Bein, jene nur einen Arm, usw. Und alle laufen neugierig herbei, um den Fremdling zu sehen. Der Hanug aber, der seinen Sohn gebracht, geleitete ihn auch wieder zurück. Der aber hatte genug davon. Er war es, der den anderen von dem Hanugvolk erzählte. Er arbeitete weiter für den blinden Mann.

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KULTURBRINGER DER VAGAN

Schon im Jahre 1920 hatte M. Gusinde über die beiden Brüder Yoaloch und deren ältere Schwester Yoaloch Törnikipa genauere Mitteilungen erhalten. Der Hauptsache nach lauten sie wie folgt:, „Die beiden Yoaloch müssen als eigentliche National­helden der Yagan betrachtet werden, obwohl der jüngere Yoaloch klüger und von größerem Einfluß war als sein älterer Bruder. Sie hatten noch eine ältere Schwester, die _Yoaloch Törnikipa; diese hatte großen Einfluß auf ihre beiden jüngeren Brüder und half letzteren in' vieler Hinsicht. Außerdem hatten sie noch zwei weitere Schwestern, deren Namen nicht bekannt sind, die auch besondere Bedeutung nicht haben.

Es gelten die beiden Yoaloch und ihre ältere Schwester als die ersten Menschen; trotzdem wird auch später die Mutter dieser Geschwister erwähnt; von deren Vater habe ich nie etwas erfahren, obwohl mir gesagt wurde, daß diese Geschwister eben doch auch einen Vater haben müssen

Jedenfalls betonte man in verschiedenen Gelegenheiten, die beiden Yoaloch und ihre ältere Schwester sind die ersten Menschen. Diese hatten große Wanderungen durch die ganze, große Welt gemacht und waren dann in die heutige Heimat der Yagan gekommen. Hier fingen sie an, die eigentlichen Menschen, die nach ihnen kamen, d. h. die hier geboren wurden, in der praktischen Lebensführung zu unterrichten: sie lehrten viele Ge­setze, Regeln, Verhaltungsmaßregeln, praktische Handgriffe; sie ordneten die Handlungsweise der Menschen an; sie gaben ihnen brauchbare Waffen, Instrumente und Werkzeuge und lehrten sie diese zu handhaben. Denn sie waren sehr intelligente Menschen und sehr geschickte Handwerker; deshalb waren sie in der Lage, die verschiedensten Waffen und Instrumente zu erfinden, die nötig waren auf der Jagd, beim Fischen und überhaupt zum Erlegen der Tiere im Wasser und auf dem Lande. Und nicht nur diese zu töten, wie Wale, Seelöwen, Fische, Krustentiere, Vögel, Fischottern usw., sondern diese Tiere, ihre Felle und ihr Fleisch auch gut zu verwerten und gebrauchsfähig zu machen.

Die Schwester half den beiden Yoaloch in jeder Weise, denn sie war sehr geschickt und intelligent; während von den beiden Brüdern gerade der jüngere der schlaueste, tüchtigste und einflußreichste war. - Heute beziehen sich die Yagan ge­gebenenfalls gerade auf die beiden Yoaloch und sagen: An ihnen schon konnte man feststellen, daß die jüngeren Brüder oft schlauer und geschickter und intelligenter sind als deren ältere Geschwister. –

Die Erfindung des Feuers.

Einst hatte der ältere Yoaloch sich viele kleine Steine zusammengetragen und unter­hielt sich damit, diese gegeneinander zu schlagen. Darunter fand sich auch ein guter Swali (= der eigentliche Feuerstein). Und als er diesen dann gegen einen anderen Stein schlug, da gab's Funken. Nun schlug er noch verschiedene Male weiter und immer kamen die Funken heraus. Da holte er schnell eine Handvoll sehr trockener Daunenfedern; diese legte er auf die Erde und fing wieder an, aus dem Swali Funken herauszulocken; doch schlug er derart, daß diese Funken sofort in die Daunenfedern sprangen. Letztere begannen zu brennen, und bald gab's eine große Flamme, denn er holte auch schnell Holz herbei und legte dieses auf. Und das Feuer wärmte, und es war sehr angenehm, daneben zu sitzen und nachts daneben zu schlafen. Auch zu vielen anderen Zwecken diente das Feuer: zum Braten des Fleisches, zum Geradebiegen von Rindenstücken, zum Trocknen der Felle usw.

Da sagte der ältere Yoaloch ganz erfreut: Das Feuer ist wirklich eine große Wohltat und von bedeutendem Nutzen! Lassen wir es ständig brennen, daß es nie erlischt; einmal an gezündet soll es sich von selbst ständig unterhalten; da können es die Menschen leicht benützen und haben nicht viel Mühe, es immer von neuem herzustellen oder es ständig mit neuem Holze zu unterhalten.' Das hörte der jüngere Bruder mit Mißtrauen an; es gefiel ihm der Plan seines älteren Bruders durchaus nicht, deshalb antwortete er ihm sogleich: Mit deiner Absicht bin ich nicht einverstanden. Es ist viel besser, daß die Menschen arbeiten und ein jeder sich selbst um das Feuer bemüht und es gut hütet. Jeder soll sich selbst das Feuer machen, wenn er es hat ausgehen lassen; die Menschen sollen eben arbeiten!'

Da stocherte er jetzt mit einem langen Stock im Feuer herum, streute die brennenden Holzscheite weit auseinander, und das Feuer erlosch allmählich. Und seit jener Zeit erlischt das Feuer jedesmal, wenn man es nicht mit Sorgfalt und ständig unterhält; und die Leute sind somit zur Arbeit gezwungen. Er lehrte dann die Menschen, wie man das Feuer anmacht mit Swali, wie man es unterhält und anfacht. Und seither ist es eben nötig, daß die Menschen das Feuer mit Mühe machen, wenn es ihnen erloschen ist, und es mit ständiger Wachsamkeit behüten; sonst erlischt es sofort und muß von neuem wieder angemacht werden.

Das Töten der Vögel

Die beiden Yoaloch gingen oft auf die Jagd, um sich das zur Nahrung nötige Fleisch zu besorgen; meist töteten sie die Vögel mit der Schleuder (Abb. 29).

Aber das war dem älteren Bruder doch etwas mühsam und be­schwerlich. Da sagte er zu seinem jüngeren Bruder: Mir scheint, es wäre besser, wir töten die Vögel mit einem bloßen Blick unserer Augen; die Vögel scharf anschauend, sollen sie tot niederfallen. Wenn also jemand einen Vogel benötigt, braucht er diesen nur scharf anschauen; dieser fällt tot nieder und jeder kann diese seine Beute dann nach Hause tragen und hat keine besondere Mähe sonst!' Er machte sofort einen Versuch: Einige vor­beifliegende Vögel schaute er mit starkem Blick an und mit dem Willen, sie zu töten. Sofort fielen diese Vögel zu Boden und waren tot. Darüber freute sich der ältere Yoaloch und sagte sich: So wollen wir es in Zukunft immer machen und auch die Menschen lehren, in welcher Weise sie die Vögel anstarren müssen, daß diese tot niederfallen. Damit ersparen wir uns viele Mühe und Beschwerden, lange Reisen, Wanderungen und Ge­fahren aller Art!' Dies hörte der jüngere Yoaloch und wurde ungehalten über den Plan seines älteren Bruders; er widersetzte sich und sagte: Viel besser ist es doch, die Menschen machen sich ihre Waffen und sonstigen Instrumente und gehen damit auf die Jagd; damit sie sich etwas mühen müssen und alle List aufwenden, um an die Vögel sich heranzuschleichen und diese dann erjagen. Denn es sollen eben alle arbeiten! Das gefiel dem älteren Yoaloch durchaus nicht. Trotzdem machte er am anderen Tag wieder einen Versuch: er wollte durch seinen bloßen Blick einige Vögel töten; aber er hatte gar keinen Erfolg dabei. Er starrte wohl jene Vögel an und hatte den bestimmten Wunsch, diese sollten sofort durch den bloßen Anblick von ihm tot niederfallen. Aber die Vögel flogen unbehelligt weiter. Da wurde er nun ganz verstimmt; denn seit jener Zeit muß jeder Mensch viel List und Mühe aufwenden, um die Vögel zu erjagen. Und gar oft entwischt einem ungeschickten Jäger seine Beute. (Stab mit Schlinge dienend zum Vogelfang, Abb. 26b.)

Das Erjagen der Seelöwen. Der ältere Yoaloch hatte einst von seiner Schwester eine vollkommen gearbeitete Harpune (Abb. 17 b) erhalten; diese Waffe leistete ihm sehr viele Dienste; denn mit dieser Waffe verfehlte er nie seine Beute, und immer wieder kam deshalb diese Waffe in seine Hand zurück, so daß er stets sehr gutes Glück hatte, wenn er auf die Jagd ging.

Eines Tages kam er wieder mit einem großen Seelöwen zur Bütte zurück; diesen hatte er auf den ersten Wurf erlegt, und seine Harpune war ihm nicht dabei gebrochen oder verloren gegangen. Da sagte er seinem jüngeren Bruder: Wie schön wäre es doch, wenn ich diese Harpune beständig behalten könnte, wenn sie mir nie verlorenginge oder nie zerbräche! Mit dem ersten Wurf sollte eigentlich der Seelöwe tot sein und die Harpune wieder in die Hand des Jägers zurückkommen; somit ersparen wir uns und auch den Menschen viele Mühe. Wir und die Menschen hätten weniger Sorgfalt aufzuwenden bei der Herstellung der Harpunen, und viel leichter und sicherer käme jeder zum Fett und Fleisch des Seelöwen; denn diese Tiere zu erjagen erfordert viel Anstrengung und List.' - Diesem Vorschlag widersetzte sich der jüngere Yoaloch mit allem Ernste; er sagte: So darf es nicht sein! Die Menschen sollen arbeiten und sich anstrengen! Viel besser ist es, daß sich jeder selbst seine Waffe herstellt, als daß wir sie für einen jeden der Männer herstellen, wie du das willst; und besser ist es auch, daß jeder Jäger seine Harpune verliert und zerbricht, wenn er ungeschickt und unvorsichtig ist auf der Jagd; und viel besser ist es, daß der Seelöwe eben entwischt, wenn der unpraktische Jäger die Harpune nicht richtig geschleudert hat!'

Dagegen konnte der ältere Yoaloch nichts einwenden. So kam es, daß heute ein ungeschickter Mann seine Harpune zerbricht, wenn er sie nicht richtig zu schleudern gelernt hat; oder daß sie im Rücken des Seelöwen stecken bleibt und der damit wegschwimmt, wenn sie nicht stark genug geworfen worden war. Ein solcher Mann muß dann mit viel Mühe sich eine andere Harpune herstellen.

Die Schwester gab danach dem älteren Yoaloch auch alle weiteren Waffen und Instrumente: den festen Lederstrick aus Seelöwenfett, das gut geschliffene Messer aus der Miesmuschel schale, den starken Knochenkeil mit dem Stein als Hammer; auch eine starke Schleuder (Abb. 29), die lange Schlinge zum Vogel­fang, und alle sonstigen Geräte und Gebrauchsgegenstände. Er freute sich sehr darüber, denn er hatte immer guten Erfolg, wenn er sie gebrauchte. Deshalb wünschte er, daß all diese Gegen­stände sich nie abnützten oder zerbrächen oder der Hand ihres Besitzers entglitten oder auf sonst eine Art dem Eigentümer verlorengingen; damit die Menschen es bequemer hätten und sich die Arbeit ersparen könnten bei der mühsamen Herstellung all dieser Waffen und Gegenstände!

Doch all diesen Plänen widersetzte sich der jüngere Yoa­loch. Dieser wollte, daß die Menschen Arbeit hätten, daß des­halb auch der ungeschickte und ungeübte Mann seine Waffen verliert und zerbricht, damit er geschickter würde und Beschäf­tigung hätte. Deshalb ruht bis heute auf jedem Manne die un­angenehme Verpflichtung und bleibt es ihm nicht erspart, müh­sam und ständig sich all jene Gegenstände herzustellen, die er benötigt auf der Jagd.

Der Erwerb von Fischtran. Dem älteren Yoaloch schmeckte das Seelöwenfett und der Walfischtran immer ganz besonders gut; das war seine Lieblingsspeise, und er war ganz versessen darauf, Da hatte er starkes Verlangen, ständig eine große Menge von frischem Tran zur Verfügung zu haben. Er faßt also den Plan, alles Wasser in sämtlichen Kanälen, Flüssen und Lagunen in Walfischtran und Seelöwenfett umzuwandeln, doch so, daß dieser Tran immer frisch bliebe, nie schlecht würde, seinen guten Geschmack nie verlöre und daß diese große Menge nie zu Ende ginge. Er sagte sich: Wenn das mal so eingerichtet ist, dann hätten die Menschen den frischen Tran immer gleich bei der Hand; sie könnten sich mühevolle und gefährliche Reisen und Jagden ersparen; sie brauchten diesen schmackhaften Lecker­bissen nie entbehren, und das Leben wäre viel angenehmer.

Dies alles legte er jetzt seinem jüngeren Bruder vor und wollte diesen für seine Pläne gewinnen. Aber der wollte davon durchaus nichts wissen und erwiderte ernst seinem Bruder: Das darf nie so werden, wie du es willst! Die Menschen sollen. ständig Arbeit haben! Deshalb sollen auch die Männer auf die Jagd gehen, und wenn sie Seelöwen oder Wale erlegt und er­reicht haben, dann sollen die Weiber den Tran zurechtmachen; dann erst sollen sie den schmackhaften Tran genießen, der nach der Arbeit immer besser schmeckt. Denn ohne vorherige An­strengungen und Mühe sollen die Menschen auch keinen Genua haben!'

So mußte auch diesmal der ältere Yoaloch mit seinem Plane zurücktreten und dem Entschluß des jüngeren Bruders weichen. Daher kam es, daß von jener Zeit an den Männern die Jagd und den Menschen die Sorge um den Nahrungserwerb überhaupt zur Notwendigkeit und zum allgemeinen Gesetze wurden.

Diese Beispiele und das Verhalten des jüngeren Yoaloch lassen deutlich kennen, wie die jüngeren Geschwister oft klüger und einsichtsvoller, aber auch eigensinniger und dickköpfiger sein können wie ihre älteren Geschwister.

Wie der Tod eingeführt wurde. Die Mutter der Yoaloch: war schon sehr alt und gebrechlich geworden; von Tag zu Tag­ schwanden ihre Kräfte immer mehr. Ihre Mattigkeit und Widerstandslosigkeit nahm ständig zu, und schließlich blieb sie eines Tages regungslos liegen vor Altersschwäche und Ermattung und gänzlichem Kräfteverlust. Da trugen die beiden Brüder sie hin­aus aus der Hütte und legten sie auf einen guten Platz, wo viel Gras war, damit die Sonne sie bescheinen könnte.

Der ältere Yoaloch setzte sich neben die Mutter hin und schaute sie ständig an; immer hielt er seine Augen auf sie ge­richtet; aber er sprach nichts zu ihr. Nur war er überaus traurig, weil er seine Mutter so regungslos daliegen sah; doch störte er sie nicht in ihrem tiefen Schlafe und hoffte, sie würde sich bald wieder erheben.

Und da der ältere Yoaloch seinen starren Blick von der Mutter nie abwandte und sie ständig an­schaute, da begann sie wieder langsam sich zu regen und die Augen zu öffnen und wieder etwas leb­hafter zu werden; sie hatte den Schlaf beendet und langsam kam sie wieder zum Bewußtsein nach dem so überaus tiefen Schlafe. Nur wenig regte sie sich noch; denn nur ganz allmählich schien die große Ermattung und Altersschwäche von ihr zu schwinden.

Sehr erfreut darüber lief der ältere Yoaloch schnell zur ,$litte zurück, um dem jüngeren Bruder dies mitzuteilen, und er sagte ihm: Du, höre mal, unsere Mutter ist wieder aufgewacht, ganz langsam fängt sie an, sich zu regen, und ich glaube, sie wird bald aufstehen! Darüber wurde der jüngere Yoaloch sehr verstimmt und sagte sogleich: Das kann und darf nicht sein! Die Mutter schläft jetzt, denn sie ist alt und schwach genug, sie wird und soll nun schlafen für immer! - Und so geschah es denn auch wirklich; die Mutter stand nun nicht mehr auf. Denn als der ältere Yoaloch wieder aus der Hütte hinausgegangen war und zu jener Stelle kam, wo die Mutter auf dem Grase lag, fand er sie ganz regungslos. So blieb sie immer liegen : sie war jetzt tot.

Und damit war das Sterben eingeführt unter den Menschen. Deshalb müssen jetzt alle Menschen ebenfalls sterben, weil der jüngere Yoaloch es so gewünscht hatte."

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UNKRAUT DES ABERGLAUBENS

Die Yagan müßten keine wahrhaftigen Menschenkinder sein, wenn nicht auch bei ihnen das Unkraut des Aberglaubens ge­diehe. Einige Pflänzchen aus diesem Garten lernte der Leser ge­legentlich schon kennen. Hier lassen wir weitere Beispiele folgen. Bei den Yagan herrscht der Glaube, daß dann, wenn ein Hund die Plazenta frißt, keine weiteren Kinder mehr sich einstellen. Darum sorgt man im allgemeinen dafür, daß jene frühzeitig beiseite geschafft und vergraben wird. Von der Ade­laide aber wurde uns versichert, daß sie, weil sie bei der Geburt ihres ersten und einzigen Kindes in schwerste Todesnöte ge­kommen sei, die Plazenta absichtlich vom Hunde fressen ließ und so denn auch wirklich von weiteren Kindern verschont blieb.

Die Yagan haben die Sitte, einem erlegten Tšekus (See­vogel) sofort die Beine zu zerbrechen. Hat der Jäger aber zu Hause einen Neugeborenen, so muß er das lassen, sonst könnte dem Kleinen ein Schaden entstehen.

Der Mann, dem ein Knabe gestorben ist, tötet eine Zeitlang keine männlichen Seehunde. Starb ein Mädchen, so läßt er in derselben Weise die weiblichen Seehunde in Ruhe.

Aus Vogelstimmen wird mancherlei herausgehört. Die einen verkünden schlechtes, die anderen gutes Wetter. Der Schrei der Eule meldet Mord und Totschlag, zum mindesten aber einen Todesfall an.

Wenn die Yagan sich in ihrem kleinen Boot auf Wasser befinden, so dürfen Abfälle nicht ins Wasser geworfen werden, sondern sind dem Feuer, das stets mitten im Boot brennt, zu überantworten. Diese Vorschrift führen sie auf ihren Kultur­bringer Yoaloch zurück. Beachtet jemand diese Regel nicht, so wird er erleben, daß sein Kind schreit, wie einmal auch das Kind des Yoaloch geschrieen hat.

Wenn man mit Steinen nach einem bestimmten Vogel (Höršpul) wirft, so ist schlechtes Wetter zu gewärtigen.

Im rauhen Süden des Gebietes scheint es Vorschrift gewesen zu sein, bestimmte Nahrungsmittel nicht noch am gleichen Tag zu verzehren, sondern sie aufzubewahren, wenigstens bis zum folgenden Tag. Vielleicht war diese Maßregel aus einem prak­tischen Bedürfnis erwachsen. Man wollte so eine Streckung der Nahrungsmittel, ein kluges Haushalten veranlassen; die rasenden Stürme machen oft tagelang eine neue Ausfahrt unmöglich.

Wer draußen allein zu viele der Beeren nimmt und nascht, der verursacht schlechtes Wetter. Hier ist der ursprüngliche Gedanke offenbar der, den einzelnen zu bewegen, eher die Beeren mit heimzubringen und sie in altruistischer Weise andere mit­genießen zu lassen.

Verliert ein Sind einen seiner Milchzähne, so läuft es damit an den Strand und wirft ihn ins Meer. Dabei bittet es ein be­stimmtes Seetier (Sauyanuch), ihm dafür einen neuen und besseren Zahn wiederzugeben. Die Kinder sprechen dabei die Worte:

Sauyanuch, tun haia taku

Sauyanuch, Zahn mir gib!

Eine sorgsame Yaganmutter hob die Nabelschnur des Kindes auf, ließ sie trocknen und trug sie an einem Kollier mehrere Jahre lang. Dann mußte das betreffender Kind einen bestimmten Vogel in seinem Neste fangen und diesem die Reste der eigenen Nabel­schnur umhängen. Es war ein gutes Omen, wenn einerseits die Mutter die Nabelschnur so sorgfältig gehütet hatte und wenn es andererseits dem Kleinen gelang, einen solchen Vogel zu fangen und ihn mit dem sonderbaren Anhängsel wieder davonfliegen zu lassen.

Heranwachsenden Knaben und Mädchen wurde glauben ge­macht, daß der pünktliche Gehorsam gegenüber irgendwelchen Aufträgen (Holz und Wasser holen usw.) sie schnell wachsen und groß werden mache.

Ein bestimmter Seevogel (Töska) soll nicht über ein Baby wegfliegen, und die Eltern sollen auch diesen Vogel nicht essen. In beiden Fällen könnte das dem Kleinen den Tod bringen.

Wenn der Vogel Lachuwa (S. 129) (Ibis-Art) vorüberfliegt, so bedecken die Mädchen ihre Brüste; denn es steht sonst zu b­efürchten, daß er einmal kommen und ihnen die Brüste weg­reißen würde.

Wenn des Nachts alle Hunde heulen, so ist eine Krankheit (Seuche) im Anzug. Die Doktoren verordnen dann die ent­sprechenden Gegenmaßregeln, so besonders Singen und Tanzen um das Feuer herum.

Die Sitte der C o u v a d e ist den Yagan in einer ziemlich umständlichen Form eigen. Vor allem darf der Mann zur Zeit nach der Geburt des ersten Sprößlings mehrere Monate lang keine schwere Arbeiten verrichten. Gefragt, warum sie das so tun, antworteten sie stets: „Aus Respekt und weil das gemäß alter Überlieferung dem Kleinen schaden könnte." Die notwendigen schweren Arbeiten werden in dieser Zeit ohne weiteres von ver­wandten und bekannten Männern verrichtet. Die Sache regelt sich, wie sie uns wiederholt versicherten, und wir es auch selber beobachten konnten, leicht von selbst. Jeder weiß um diese Vorschrift, lind so nimmt man einem ein Faulenzen unter ge­nannten Umständen nicht übel. Im Gegenteil, je treuer er es übt, desto gewissenhafter erscheint er.

Es war besonders der einerseits sehr schlaue und anderer­seits stark gemütliche Calderón, welcher sich diese alte Stammes­sitte zunutze zu machen verstand. Er versicherte uns nämlich einmal, daß der, welcher es mit den alten Sitten und Gebräuchen sehr ernst nehme, diese Enthaltsamkeit von schweren Arbeiten nicht allein beim ersten Kinde, sondern auch bei allen weiteren übe. Er selber hatte, obwohl kaum dreißig Jahre alt, schon sechsmal Vaterfreuden erlebt. Bein Wunder, daß er infolge seiner guten Grundsätze aus dem Nichtstun fast gar nicht mehr herauskommt.

Das häufige Photographieren, das wir vornahmen, stieß im allgemeinen auf keine nennenswerten Schwierigkeiten. Nur eine uralte Frau weigerte sich hartnäckig, vor den Apparat zu treten, obwohl der Mann es wünschte und er sich über ihre Halsstarrig­keit nicht wenig ärgerte. In den letzten Tagen unseres Auf­enthaltes in Puerto Mejillones waren wir allerdings etwas viel mit dem Apparat herumgelaufen. Das bereitete einigen Alten doch gewisse Bedenken. Besonders die gute alte Peine meinte, als sie noch einmal vorzutreten hatte, ob ihr das vielleicht nicht doch schaden könne. Wir antworteten: „Schau uns an, hundert. mal und noch öfter sind wir schon photographiert worden, und nichts hat es uns getan. Also frisch heran, nur keine Angst!" Darauf lachte sie uns schelmisch an und erfüllte unseren Wunsch. Sie war aber doch sichtlich froh und fühlte sich merklich erleichtert, als wir ihr, dann sagten: „So, jetzt hast du Ruhe, das ist das letztemal."

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YAGAN BEIM SPIEL

Abgesehen von den Tanzspielen, welche bei Gelegenheit des Festes der Jugendweihe zur Geltung gelangen, spielen die Yagan, soweit nämlich die Erwachsenen in Betracht kommen, heute nicht viel. Und das begreift sich. Denn zum Spiel gehört die Stimmung. Daß diese aber den Leuten heute meistens fehlt, das lassen die furchtbaren Schicksale, welche in den letzten fünfzig Jahren über sie hereingebrochen sind, wohl erklärlich erscheinen. Nichtsdestoweniger waren unsere Freunde gerne bereit, wie alles andere, so auch die alten Spiele uns kennen zu lehren. Inter­essanterweise kehrte da öfter die Bemerkung wieder: Das oder jenes wurde gespielt, wenn die Leute „very content waren, also sich sehr zufrieden und glücklich fühlten. Und eine solche Ge­legenheit ergab sich, wenn einerseits bekannte Familien, die sich längere Zeit nicht gesehen hatten, wieder einmal zusammen­trafen, und wenn andererseits dazu augenblicklich die Ernährungs­verhältnisse günstige waren, ein feister Seehund zur Strecke ge­bracht oder gar ein Walfisch gestrandet war. „Plenty of people", eine Menge Leute aber bildet nach ihrer Auffassung die unerläßliche Voraussetzung zur Veranstaltung froher Feste und Spiele.

Als spezifische Kinderspiele konnten wir die fünf folgen­den besonders kennenlernen:

1. Tschenalöra (Taf. XVIIIa). Knaben und Mädchen hocken dabei hintereinander, der Hintermann faßt den Vordermann unter den Armen. Unter dem Gesang von Tschenalöra (―U,.―U ―U...) bewegt sich dann die ganze Reihe, im Takt hin und her wackelnd, langsam vorwärts. Das Boot, das im rhythmischen Ruderschlag gemächlich durch die Wellen den Weg sich bahnt, soll damit nachgeahmt werden.

2. Waiendölla. Dieses Spiel ist wesentlich gleich dem vorigen. Der einzige Unterschied besteht darin, daß die Mitwirkenden sich nicht unter den Armen fassen, sondern die Hände über die Schultern des Vordermanns legen.

3. Tumutölla. So nennen sie das Spiel, das die Kleinen üben, welche, der Länge nach auf dem Boden liegend, sich von einer mäßigen Anhöhe herunter­

rollen lassen. Die Kunst besteht darin, den ganzen Körper dabei gestreckt zu halten.

4. Kakléchana. Die Kleinen werden veranlaßt, auf einem Bein zu hüpfen. Wer das am längsten aushält, der wird dann von den Alten belobigt.

5. Kaiamola (Schaukel) (Taf. XIX a). Wir staunten nicht wenig darüber, feststellen zu können, daß den Yagan von Haus aus auch die Schaukel eigen war. Sie wurde dem Seehunde aus der Haut geschnitten. Während ein Kind in der Schaukel saß, setzte sie ein anderes in Bewegung. Dieses letztere pflegte dabei zu singen

Kaiamola (―U,.―U; ―U...)

Als Spiele der Erwachsenen (an einzelnen konnten Minder teilnehmen) kommen vor allem die nachgenannten in Betracht

Kálaka (Ballspiel) (Taf. XX a). Das Ballspiel erfreute sich allem Anschein nach einer besonderen Beliebtheit, wenn es auch nur in der allereinfachsten Form geübt wurde. Die ganze Kunst bestand nämlich darin, daß die Mitwirkenden dafür sorgten, daß der Ball so wenig als möglich den Boden berührte, sondern stets wieder mit der flachen Hand aufgefangen und in die Höhe geschlagen wurde. Man verfertigte den Ball (Abb. 27) aus einem Stück Seehundsdarm, das mit Vogelfedern und trockenem Gras gefüllt und dann sorgfältig mit Hilfe von Guanako-Sehnen zu­gebunden wurde.

Im Zusammenhang mit dem Kalakaspiel kannten die Yagan eine Art M ä n n e r w e t t - oder

  Mehrere alte Frauen erzählen uns Näheres darüber. Sie bemerkten aber, daß ihnen das Spiel wenig gefallen habe; denn es sei dabei meist recht scharf und roh hergegangen, und für den unterliegenden Teil und dessen Familie sei die Situation nachher immer ziemlich peinlich gewesen.

2. Teleyématše (Blindekuhspiel). Nicht wenig überraschte uns auch die Tatsache, bei den Yagan das Blindekuhspiel als gut einheimisch vorzufinden. Die Yagan, Erwachsene und größere Kinder, spielen es genau so, wie es auch bei uns in Europa gespielt zu werden pflegt. Einer oder eine, die Augen wohl ver­bunden, läuft und greift um sich, bis einer erwischt und seine Identität festgestellt ist. Im Falle des Gelingens muß dann der Gefangene die Blindekuh weiterspielen.

Am 16. Januar 1922 abends spielten so an die zwanzig Per­sonen und wir mit ihnen etwa zwei Stunden lang. Vergnügen und Freude wurden stets größer. Und besonders mehrere treue Alte, wie Peine, Mary, Emilia und Richard, waren mit Leib und Seele dabei, wieder einmal in schönen alten Erinnerungen förm­lich zu schwelgen. Die Stimmung erreichte ihren Höhepunkt, als die alte Mary in der Eigenschaft als Blindekuh auf einmal ihren eigenen Mann, den alten Richard, erwischt hatte, dann über dessen Identität keine Klarheit gewinnen konnte. Und während sie vorsichtig seinen Rock befühlte, schlüpfte der Alte heraus, ließ ihn in ihren Händen und stürzte zur größten Freude aller wieder davon.

3. Haiyekaš-Šamašrkwai. Männer und Knaben heben ein Bein und fassen es mit der Hand in der Schienbeingegend. So auf einem Bein stehend hüpfen alle im Gleichtakt vorwärts und rückwärts, dabei singend: Haiyekaä-Sanaäkwai (―UU,.―UU,―UU...) 214

4. Héslenkuku (Taf. XVIIIb). Dieses Spiel ist dem vorigen ähnlich. Männer und Knaben, die es üben, fassen ein Bein in der Kniegegend und dann hüpfen alle zusammen vorwärts bzw.

rückwärts, dabei singend: Heslenkuku (―U,.―U; ―U...)

5. Akasapololasa. Hier bilden die Mitwirkenden eine Reihe, sie stehen eng aneinander und legen sich gegenseitig Arme und Hände über die Schultern. Die ganze Reihe schreitet dann im Takt in seitlicher Richtung auf und ab, wobei alle, zu­sammen singend, die Worte wiederholen: Akasapololasa, pololasa, lalasa . . .

6. Koašete.      Die Haltung ist dieselbe wie beim vorigen Spiel. Die Teilnehmer stehen aber nicht in einer Reihe, sondern bilden einen vollgeschlossenen Kreis. Einer nun befindet sich

in der Mitte. Seine Aufgabe ist es, irgendwo die Menschen­wand, die ihn umschließt, zu durchbrechen und hinaus­zukommen.

7. Haualamošketosa. Alle fassen sich bei der Hand und bilden einen Kreis, der sich langsam dreht, indem gesungen wird: Haualamoäketosa (―UUU,.―UU; ―UUU –UU....)

B. Šöllakina. Ein primitives Feuerwerk der Yagan. Es be­stand darin, daß bei Dunkelheit kleine, ganz trockene und leichte Holzstäbchen angebrannt und dann in die Höhe geworfen wurden. Die langsam niederfallenden Leuchtkörper trieb man dann blasend wieder empor. So wurde besonders herumgespielt, wie uns die Alten versicherten, wenn sie eben „very content" waren und vor allem auch dann, wenn es eine Hochzeit zu feiern galt.

So spielten und spielen die Yagan auf Feuerland. Wenn die Spiele allgemein gewiß den Charakter urkulturlicher Ein­fachheit zur Schau tragen, so erweisen sie sich damit ja gerade als stilgerecht. Aber wie ihm immer auch sei, kein Zweifel, daß die Yaganspiele in einer neuen und schönen Weise Zeugnis da­für ablegen, wie relativ reich das Gemütsleben bei diesen Kindern der Urzeit entwickelt war.

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YAGAN IN IHRER INDIVIDUELLEN CHARAKTERISIERUNG

Der ständige und intime Verkehr mit den Yagan lehrte uns die einzelnen bis auf den Grund der Seele kennen. Die Yagan gleichen auch insofern großen Kindern, daß sie nicht imstande

sind, sich lange wirksam zu verstellen. Sie können wohl schweigen und sich zurückhalten, und das tun sie gründlich, solange man ihr Vertrauen nicht vollständig gewonnen hat. Ist aber dieses Eis gebrochen, dann reden und geben sie sich allgemein so, wie sie auch wirklich sind. Dank dieser günstigen Voraussetzungen entschleierte sich uns nach und nach, wie von selbst, sowohl der intellektuelle als auch der charakterliche Kern aller jener, mit welchen wir längere Zeit in Punta Remolino oder in Puerto Mejillones zusammenlebten. Von mehr denn dreißig Erwachsenen beiderlei Geschlechts kam so eine Individualcharakteristik' zustande.

Wir glauben, daß sie von besonderem Werte ist. Denn wie alle Primitiven, so sollten auch die Yagan bekannten modernen Theorien gemäß noch über keine Individuen verfügen,

sondern nur eine undifferenzierte, individuenlose Masse dar­stellen. Solche am grünen Tisch in Europa ausgeheckte Theo­rien stellt man am besten Tatsachen gegenüber, wie sie an Ort und Stelle sich vorfinden. Das haben wir getan und - bei den Yagan jedenfalls - wahrhafte Individuen gefunden. Zum Be­weise dessen seien hier dem Leser vier der erwachsenen Yagan, zwei Frauen und zwei Männer, in ihrer ganzen seelischen Eigen­art etwas näher geschildert.

a) S e ñ o r a Nelly Laurence (Taf. IVa). Diese Frau, von Haus aus Vollblutyagan, wird gegenwärtig gut fünfundvierzig Jahre zählen. Sie hat früher in keiner näheren Verbindung mit der Mission oder Zivilisation gestanden, sondern wurde nach guter alter Yaganart erzogen und in dem einheimischen Gesetz besonders von ihrem Vater und ihrem Onkel unterwiesen. Sie bietet daher ein ausgezeichnetes Beispiel dafür, wie diese Leute, wenn auch aus der „Wildnis" hervorgeholt, sich in die zivilisierten Verhältnisse hineinzufinden und darin zu behaupten vermögen, wenn diese Einführung nur in der rechten Weise vor sich geht.

Vor etwa fünfundzwanzig Jahren hat Fred Laurence sie als seine Gattin heimgeführt, und so amtiert sie seit einer Reihe von Jahren als die Señora (Herrin) auf der Farm Laurence Hermanos (Gebrüder Laurence) zu Punta Remolino. Nachdem die Señora einmal erfaßt hatte, was wir wollten, ruhte sie nicht, sondern dachte und arbeitete förmlich Tag und Nacht, um uns zu einem möglichst vollen Erfolg zu verhelfen. Und da vermochte sie sehr viel. Denn nicht allein wegen ihrer augenblicklichen Stellung als Herrin der Farm, sondern auch kraft ihrer persönsönlichen Eigenschaften genießt sie bei allen ihren Stammes­genossen ein ganz außerordentliches Ansehen. So wissen wir es. denn sehr wohl und werden es stets gern anerkennen, daß ein sehr beträchtlicher Teil unserer außergewöhnlichen Forscher­erfolge bei den Yagan dieser Frau zu danken ist.

Señora Laurence gehört rücksichtlich ihrer Körpergröße zu den ganz kleinen Yaganfrauen; sie ist gewiß nicht größer als 1,40 m. Die Hautfarbe ist die bei den Yagan gewöhnliche dunkelbraune, der Teint ist freilich etwas heller und frischer, was ohne Frage auf die häufigere Verwendung von Seife und auf den Mangel von Feuer und Rauch, dessen direkter Wirkung die übrigen in ihren Hütten ausgesetzt sind, zurückzuführen ist. Das Haar ist straff, nicht besonders üppig, ihr Gang der charakteristi-schschleppende mancher Yaganfrauen und -männer. Ihrem Gatten hat sie sechs Kinder, drei Töchter und drei Knaben, geschenkt, die sich sämtlich nach Körper und Geist gleich gut entwickelt zeigen. Die Yaganfrauen hören früh auf zu gebären. Mit vierzig Jahren dürfte die Zeit allgemein vorüber sein. Anders sei es ja, so versicherte uns Señora Laurence gemäß den von ihr gemachten Erfahrungen, bei den Frauen der Weißen und auch bei denjenigen der Ona; diese alle gebären länger.

Nie schämte sich Señora Laurence ihrer Herkunft. Im Gegenteil, stets war sie die Bereitwilligkeit selbst, wenn wir sie nach den alten Sitten und Gebräuchen ihres Stammes fragten. Und bei den Sitzungen und Veranstaltungen der Eingeborenen, wo uns das einzelne erzählt und vorgemacht wurde, war auch sie nach Möglichkeit anwesend. Ja, sie war es selber für ge­wöhnlich, welche dieses alles klug und geschickt zu arrangieren wußte und dann die Männer und die Frauen stets wieder dazu animierte, uns alles, was sie wußten, mitzuteilen. Da wurde ihr die Zeit nie zu lang, sondern stundenlang harrte sie mit uns aus und erglühte förmlich in freudiger Erregung, wenn aus dem reichen Schatz der Stammestradition recht Altes und Interessantes an den Tag gefördert wurde.

Sämtliche geistigen Potenzen zeigen sich bei Señora Lau­rence gleich gut entwickelt. Wir wußten . in der Tat nicht, was wir an ihr mehr bewundern sollten, den gesunden Haus verstand, den sie stets wieder offenbarte, den energischen Willen, mit dem sie einmal als notwendig oder nützlich erkannte Ziele verfolgte, oder endlich das fabelhafte Gedächtnis, das ihr auch nichts von dem, was sie einmal gesehen oder gehört hatte, wieder entgehen ließ.

Die gute geistige Begabung erklärt ihre Empfänglichkeit für gesunden Mutterwitz. Eine witzige Situation hatte sie stets bald erfaßt, und nicht wenig amüsierten uns die feinen Bemerkungen,

die sie gelegentlich selbst über Weiße machte. Als Koch und Köchin fungierten auf der Farm ein Chilene und seine Frau. Beide vertragen sich wie Katze und Hund, und der Koch hatte wohl recht, wenn er seiner "besseren" Hälfte die Hauptschuld an dem ewigen Zank und Streit zuschrieb. Nun hatte Señora Laurence uns zu Ehren und ihren Stammesgenossen zur Freude an einigen Abenden eine Veranstaltung (Tanz und Spiel) im großen Waschhauszimmer anberaumen lassen. Außer Gusinde und mir wurden dazu keine Weißen geladen. Das ärgerte offen­bar den Koch, und am nächsten Tag beklagte er sich, daß ihn die abendliche Feier nicht habe schlafen lassen. Darauf wußte Señora Laurence mit schelmischem Lächeln zu erwidern, er solle doch froh sein, auf diese Weise ein wenig Abwechslung in seinem traurigen Dasein zu haben; denn er klage ja stets, daß er doch nicht schlafen könne, entweder nämlich schreie das Kind oder es zanke die Frau!

Die Señora beherrscht natürlich vollkommen ihre Mutter­sprache, das Yagan. Dazu versteht und spricht sie aber auch leidlich Englisch und etwas weniger gut Spanisch. Nicht wenig imponierten uns die Sicherheit und Gewandtheit, mit der sie das Telephon zu bedienen weiß. Die Farm hat telephonische Ver­bindung mit Ushuaia und dann auch mit verschiedenen Nach­harn (der nächste Nachbar wohnt gut fünf Reitstunden weit '„weg!). Sie wird mit allen und mit allem fertig. Am liebsten freilich spricht sie in ihrer Muttersprache mit ihrem Herrn Ge­mahl, der Geschäfte halber öfters abwesend sein muß und sie dann täglich wenigstens einmal an das Telephon zu rufen pflegt. So versteht Señora Laurence es im großen und ganzen wirklich, sich als die Herrin der Farm zu behaupten. Das gilt auch von ihrem Verhältnis dem weißen Dienstpersonal gegenüber. Wenn es nötig war, erinnerte sie z. B. Koch und Köchin ruhig aber nachdrücklich daran, wer denn zu befehlen habe, die Señora oder die Köchin.

Aber andererseits wußte sie vor allem dann, wenn sie mit `''gebildeten Vertretern der Zivilisation zu tun hatte, die Grenzen dessen, was sie sich erlauben und inwieweit sie mitsprechen durfte, wohl einzuhalten. Den Mangel einer höheren europäischen Bildung konnte sie da nicht verleugnen, und sie versuchte das auch gar nicht. Und darin offenbarte sich ein besonders an­genehmer und schöner Zug ihres Charakters, eine Bescheidenheit und Zurückhaltung, die öfters größer waren, als sie eigentlich zu sein brauchten. So zeigte sie sich vor allem im Speisezimmer, wo ihr Gatte, ihr Schwiegervater, ihr Schwager, mein Kollege und ich und hin und wieder auch noch sonstige gelegentliche Gäste zusammenzukommen pflegten. Aber eine Spur von geistiger Unbeholfenheit war auch da niemals an ihr wahrzunehmen. Konnte sie das Thema der Unterhaltung irgendwie' fassen und meistern, so tat sie immer, wenn auch bescheiden, mit. Ging es aber über ihre Erfahrung und Fassungskraft hinaus, dann hörte sie dennoch aufmerksam zu, im Bestreben immer wieder Neues zu lernen, wie sie auch in der Vergangenheit der Zivili­sation schon so manches richtig abgeschaut hat.

In diesem Bemühen trat sie denn immer wieder auch mit neuen Fragen an jene heran, denen sie Vertrauen schenkte. Und dazu durften wir uns wohl im besonderen zählen. Natürlich standen wir der guten lernbegierigen Señora stets gerne, soweit unser Wissen und Vermögen reichte, zur Verfügung. Freilich fehlte in mehreren Fällen nicht viel, und wir hätten uns selber samt unserer europäischen Zivilisation gründlich blamiert. Denn Señora Laurence fragte z. B. auch, womit und wie man Kleider­stoffe färbt, wie ein Spinnrad funktioniert und dergleichen Dinge mehr, von denen uns weder an den niederen noch an den höheren Schulen Europas etwas beigebracht worden war. Sie wußte ferner auch, daß es in sogenannten "besseren" Familien der Zivilisation Brauch und Sitte ist, daß die heranwachsenden Töchter des Hauses Klavierspielen lernen. Es bereitete ihr keine geringen Kopfschmerzen, daß sie das ihren Kindern dort nicht zu bieten imstande war.

Ihr Verhältnis zu Gemahl und Kindern fanden wir über­haupt dauernd ausgezeichnet. Wenn Fred Laurence mitunter wochenlang abwesend sein mußte, so klagte sie nicht, sondern trug das in stiller selbstverständlicher Geduld und Ergebung. Aber ihre Freude kam spontan' zum Ausdruck, wenn er auf ein­mal telephonisch melden konnte, daß er morgen oder übermorgen wieder daheim sein werde.

Die Kinder hängen mit großer Liebe an der Mutter. Ob­wohl sie selber Lesen und Schreiben nicht gelernt hat, sorgt sie doch fleißig mit dafür, daß die Kinder bei dem engagierten Hauslehrer pünktlich zur Stelle und eifrig bei der Sache sind. Daß wir schließlich auch die Religion der Yagan, im besonderen den Watauinewa-Glauben kennenlernten, ist in altererster Linie Señora Laurence zu danken. Sie überzeugte sich als erste davon, daß es uns wirklich ernst damit sei, wenn wir um diesbezügliche Mitteilungen ersuchten. Und mit der Adelaide, die ebenso wenig wie sie den Tod eines Kindes zu be­klagen hatte, stellte sie sich dann eines Nachmittags bei uns ein und erfreute uns mit der Erklärung: „So, jetzt werden wir euch alles über Watauinewa erzählen!" Und daß sie selber auch in einem entsprechenden inneren Verhältnis zu Watauinewa stand, das verrieten nicht nur der Ernst und der Respekt, mit dem sie diese Sache stets behandelte, sondern auch die erstaunliche Geläufigkeit, mit der sie die verschiedenen Gebete und Sprüche zu Watauinewa herunterzusagen wußte. Kein Zweifel, sie hatte selber schon wieder und wieder davon Gebrauch gemacht.

b) Adelaide oder Ašanuwakipa (Taf. Va), d. h. soviel als die Frau von Ašanuwa (die in A. Geborene), lebt mit Santiago in dritter Ehe. In ihrer Körpergröße überragt sie ein wenig die Señora Laurence. Aber während diese normal genährt erscheint, ist Adelaide innerhalb der letzten Jahre sehr korpulent geworden. Ihr Alter dürfte etwa fünfunddreißig Jahre betragen. Auch Adelaide kam früher nie in eine engere Beziehung zur Mission, und ihre Eltern, besonders der Vater Witsch, erzogen sie streng , nach altem Brauch und Gesetz. Die gute alte Schule merkt 'man ihr denn auch bald an. Wir hatten recht oft Gelegenheit, sie in allen möglichen Situationen zu beobachten, aber nie vermochten wir ein wirkliches Aus-der-Rolle-Fallen bei ihr festzustellen.

Intellektuell verfügt Adelaide über eine mittlere Begabung, `;vermag also in dieser Hinsicht Señora Laurence das Wasser nicht zu reichen. Sie bedauerte oft selber, daß sie die alten Sachen nicht noch besser wußte und erzählen konnte. Ihr Temperament ist ein vorherrschend phlegmatisches. Das bewahrt ihr die Ruhe und den Gleichmut der Seele, aber ohne dabei interesse­los oder gar träge zu erscheinen. Das Gegenteil ist vielmehr der Fall, immer zeigte sie sich arbeitsam und fleißig, ohne sich indes bei ihren Verrichtungen zu überstürzen. Sie verstand sich die Arbeit einzuteilen, und so war sie stets zur rechten Zeit fertig. Auch bei Gelegenheit der Feste in Puerto Mejillones, wo die Hauptarbeitslast auf ihren und ihrer Schwester Gertie Schultern ruhte, wußte sie sich wohl zu behaupten. Sie klagte nie; das einzige, was sie hin und wieder sagte, war „Mucho trabajo (viel Arbeit!)", aber das war alles.

Frohsinn und Heiterkeit kennzeichnen im übrigen ihr Wesen. Sie lacht sehr schnell, ohne jedoch jemanden zu verletzen. Alle haben sie deshalb gern, und wohin sie kommt, verbreitet sie eine wohltuende Atmosphäre. Das um so mehr, weil sie zu Dienst­erweisen stets gerne bereit ist. Da sie selber keine kleinen Kinder mehr hat, hegt und pflegt sie in freien Stunden um so lieber diejenigen der anderen.

Mit ihrem Manne Santiago, einem oft schnell und heftig aufbrausenden Sanguiniker, schlägt sie sich bestens durch. Sie kennt seine Schwächen. Sie begegnet ihm in allen Fällen ruhig und gelassen, und so gibt es nicht leicht Scherben. Daß sie im übrigen ihren „Alten" gut leiden mag, das konnten wir oft be­obachten.

Naiv und harmlos schaut Adelaide in die Welt hinein. Uns vertraute sie vollkommen. Als mein Kollege und ich in das kleine „Gastzimmer" ihres Häuschens in Puerto Mejillones einquartiert wurden, ließ sie in dessen Ecke alles stehen, wie es stand, auch ein kleines Kästchen, in dem sie einiges zurückgelegtes argentinisches Geld verwahrte. Hin und wieder nahm die Naivität schon die Form von Unselbständigkeit an, wenigstens gemäß unseren europäischen Begriffen. So fragte sie nämlich bei Ge­legenheit des Schlußfestes auf Navarin (am 12. März) früh morgens meinen Kollegen, ob sie heute in zwei oder in drei Töpfen kochen sollte. Und das, obwohl wir ihr wiederholt schon gesagt hatten, in diesen Dingen solle sie im Verein mit ihrer Schwester Gertie immer nur das tun, was ihnen gut scheine, wir seien da mit allem von vorneherein einverstanden.

Ehrlich ist Frau Adelaide wie Gold. Die Lebensmittel, welche wir nach Puerto Mejillones hatten schaffen lassen, waren der Hauptsache nach ihrer Obhut anvertraut. Sie erhielt auch die Weisung, damit nach eigenem Gutdünken zu wirtschaften und an einzelne, besonders an alte Leute, gelegentlich auszuteilen. Es war interessant zu beobachten, wie schwer es ihr wurde, von dieser Erlaubnis Gebrauch zu machen. Nicht als hätte sie den anderen die guten Sachen nicht gegönnt, nein, genau das Gegenteil war der Fall; aber daß sie über unsere Sachen so frei sollte verfügen können, das wollte ihr gar nicht in den Kopf hinein. So kam sie denn fast jeden Tag und fragte von neuem, ob sie diesen oder jenen etwas Besonderes zukommen lassen dürfe. Wir hatten ihr auch schon gesagt, daß alles, was sich am Schluß etwa erübrige, ihr ohne weiteres verbleiben sollte. Trotzdem zeigte sie uns am vorletzten Tage die einzelnen Reste und fragte, was damit geschehen solle.

c) Santiago (Taf. Vb) heißt unter den Eingeborenen Usiapisyu, d. h. wörtlich "Der ohne Land". So wurde er benannt, weil er nicht auf dem Lande, sondern im Kanu, also auf dem Wasser, das Licht der Welt erblickte. Die Zahl seiner Jahre dürfte un­gefähr fünfundfünfzig betragen. Er ist mittelgroß und von mittel­mäßig gesunder Konstitution. Auch sein Gang weist etwas charakteristisch Schleppendes auf. Seine erste Frau starb; mit Adelaide lebt er nun in zweiter Ehe. Dieser entsproß eine Tochter, Elise, welche etwa siebzehn Jahre zählen mag.

Santiagos intellektuelle Begabung bewegt sich auf der mitt­leren Linie. Der Alte weiß sehr viel, ist auch begeistert, wie ;wenige, für die ursprünglichen Sitten und Gebräuche des Stammes.

Aber er reflektiert nur mäßig, und so fiel es ihm schwer, uns das einzelne nach Sinn und Bedeutung auseinanderzusetzen und zu erklären.

Sein Temperament ist ein ausgesprochen sanguinisches. Das macht ihn einerseits zu einem lieben, jovialen, im allgemeinen gern gesehenen Gesellschafter, anderseits begründet es aber auch ,die nicht seltenen Eruptionen seiner schnell erregten und hef­tigen Natur. Oben war schon zu erwähnen, wie seine Adelaide denen stets klug und ruhig zu begegnen weiß. Hat Santiago indes mit anderen zu tun, die ihn nicht so gut kennen, wie seine Adelaide, oder die nicht deren Sanftmut besitzen, so gibt's leicht Späne. Von einer gründlichen Entzweiung, die einmal zwischen ihm und Calderón Platz griff, war schon einmal die Rede (S. 41). Ein andermal, im Jahre 1920, ereignete sich der Fall, war es ein auf der Farm lebender Europäer, der seinen Zorn fürchter­lich entfachte. Er glaubte, daß sich dieser an seiner Tochter vergangen habe. Das drohte ihn rasend zu machen; er ergriff einen Ochsenziemer und stürzte hinaus, um den vermeintlichen Unhold zu stellen. Keiner war, der dem Erzürnten entgegenzutreten wagte. Zum Glück klärte sich der Sachverhalt gleich auf, er war einem Irrtum zum Opfer gefallen. Das Mädchen war gar nicht bei dem gewissen Europäer gewesen, sondern hatte sich mit seinen Gespielinnen beim Beerensuchen im Walde zu schaffen gemacht. Santiago, einerseits gewiß angenehm überrascht, zog sich anderseits doch etwas verschämt zurück. Er fühlte, daß er sich wieder einmal allzu schnell und übermäßig ereifert hatte.

Daß aber Santiago sich gegebenenfalls doch auch zu be­herrschen verstand, das sollten wir bei einer anderen Gelegen­heit auf Navarin erfahren. An einem der letzten Tage zeigte er sich dort über Nacht sehr aufgeregt. Wir bemerkten, daß er irgend etwas, das er suchte, nicht mehr finden konnte. Die Sache griff ihn so an, daß er mehrere Mahlzeiten ausfallen ließ; Arger und Erregung hatten ihm den Appetit geraubt. Aber dennoch schimpfte und polterte er dieses Mal nicht, sondern suchte sich zu bezwingen, was ihm sichtlicherweise keine geringe Anstrengung kostete.

Im übrigen ist Santiago ein Mann heiteren und frohen Ge­mütes und daher allgemein beliebt und überall gerne gesehen. Als zu den Älteren gehörig genießt er dazu noch ein besonderes Ansehen. Und so wurde ihm 1922 die Leitung des Festes der Jugendweihe unter allgemeiner Billigung übertragen. Hatte San­tiago eine derartige Aufgabe einmal gepackt, dann widmete er sich ihr mit Ausdauer und Hingabe. Ab und zu freilich forderte das Temperament seine Rechte. Er wurde dann wohl ein wenig zerstreut und lässig. Aber das dauerte nicht lange, bald raffte er sich zusammen und fuhr mit altem Eifer fort.

Seine Sachen hält Santiago in Ordnung und zusammen. Ja, er ist einer der wenigen, die schon zu sparen verstehen. Von dem Geld, das er sich während dreimonatiger Arbeit auf der Farm verdient, hatte er noch einen Gutteil in Vorrat. Das kennen die übrigen im allgemeinen nicht, von ihnen werden so erworbene Schätze bald wieder so oder so verpulvert.

Den Tabak liebt er heute mit ganzer Seele. Ähnlich wirkt eine Flasche mit Wein unwiderstehlich auf sein Gemüt. Hier drohte ihm einige Male die Selbstbeherrschung in der Tat aus­zugehen.
Ehrlichkeit ist auch ihm eine selbstverständliche Sache. Wie er Gusinde ein paar absichtlich zurückgelassene Strümpfe noch nachschleppen wollte, das war oben (S. 100) schon zu er­wähnen. Sein natürliches Anstands- und Taktgefühl zu bewundern bot sich uns gegen Schluß noch eine schöne Gelegenheit. Als Leiter des Festes der Jugendweihe und eifriger För­derer all unserer Bestrebungen ließen wir ihm, wie auch noch einigen anderen, eine besondere Belohnung zuteil werden. Wir führten ihn in den zur Farm gehörigen Verkaufsladen (Despacho), wo allerhand begehrenswerte Dinge, wie Mehl, Tee, Kaffee, Zucker, Fett, Seife usw. für Geld erstanden werden können. Unseren Freund Santiago ermutigten wir nun, auf unsere Kosten einfach zu fordern,  was und wie viel ihm beliebe. Trotz wiederholter Aufmunterung blieb er da so be­scheiden, daß wir selber die von ihm angeforderten Quantitäten ;immer wieder erhöhen mußten.

d) P e d r o (Taf. XIV a) mit dem einheimischen und gewöhnlich gebrauchten Namen Mašemikens gehört zu den ältesten Männern des Stammes. Die Zahl seiner Jahre bewegt sich gewiß um die siebzig herum. Er ist von außergewöhnlich kleiner Statur und trägt einen ebenso ausgesprochen pygmäenhaften Habitus zur Schau.

In seinen jüngeren Jahren hat er sich einmal mit einem anderen ordentlich geschlagen. Seitdem quälen ihn häufig heftige Kopfschmerzen. Das hat wohl dazu beigetragen, ihn ein wenig zum Sonderling zu machen. Er geht im allgemeinen seine eigenen Wege, lebt meistens mit Frau und Bind mehr oder weniger für sich allein.

Aber daß er im Grunde doch von froher und geselliger Art ist, das kam bei Gelegenheit der Feste auf Navarin zum Er­staunen auch vieler Eingeborenen an den Tag. Es bereitete erst

einige Schwierigkeiten, ihn zum aktiven Eingreifen und vor allem zur Übernahme der Leitung des Kinafestes zu bewegen. Aber als die Sache einmal lief und seine alten Jugenderinnerungen wieder auflebten, war er einer der Eifrigsten und Willigsten.

Sein Talent zeigt eine nur mittelmäßige, sein Gedächtnis indes eine ausgezeichnete Entwicklung. In guten Stunden sprudelte er über von kindlichem Humor, womit sich nicht selten etwas Verschmitzt-Pfiffiges verband. Bei witzigen oder sonstwie komi­schen Situationen schüttelte es ihn jedesmal vor Lachen, wobei er dann in einer ganz charakteristisch-schelmischen Weise die linke Hand vor dem Mund zu halten pflegte.

Da Gusinde mit ihm bei Gelegenheit seiner früheren Reisen noch nicht zusammengetroffen war, so zeigte er sich uns gegen­über anfangs ziemlich zurückhaltend. Aber nach und nach taute er auf, und wir wurden auch mit ihm sehr vertraut. Als wir uns einmal mit ihm als unserem kleinen Spezialfreund" zusammen hatten photographieren lassen, fühlte er sich nicht wenig geehrt. Aber der Schalk sprach gleich wieder aus den Worten, die er uns leise ins Ohr flüsterte: „Three Doctors" (also drei Doktoren auf einmal)  Damit spielte er auf seine Medizinmannwürde und. unsere Doktorschaft an

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GESAMTCHARAKTERISTIK DER YAGAN

Die Gesamtcharakteristik eines Volkes wird immer unter dem unvermeidlich damit gegebenen Generalisieren leiden. Das Alles-über-einen-Leisten-Schlagen führt nur zu leicht zur Ungerechtigkeit gegen das Einzelindividuum. Dieses Gefühls werde auch ich nicht los, wo ich daran gehen soll, eine Gesamtcharakteristik der Yagan zu entwerfen. Indes, da wir annehmen können, sowohl. bei der Forschung als auch bei der Darstellung das Einzelindividuum vollauf zur Geltung gebracht zu haben, so kann eine zusammenfassende Charakterisierung des Yaganvolkes wohl eher als erlaubt, um nicht zu sagen, als erwünscht erscheinen.

Wenn die alten, zumal die auf Darwin zurückgehenden Be­ichte die Yagan mehr oder weniger als ein stupides und idioten­haftes Gesindel schilderten, so haben die vorliegenden Mitteilungen wohl jeden Leser davon überzeugt, daß man da einem gründ­lichen Irrtum verfallen war. Der Irrtum war, wie auch sonst so +-häufig bei Beobachtung der Naturvölker, darin begründet gewesen, daß man, abgesehen von etwaigen Vorurteilen, mit denen man an die Arbeit herangegangen war, zu schnell und zu sehr nach dem äußeren Schein geurteilt hatte. Man kannte die Leute nicht, besaß ihr Vertrauen nicht, und so erfuhr man denn auch nichts Näheres von dem Wesen und Wirken, von den Schätzen ,und Leistungen ihres Geistes und Innenlebens. Wie konnte man ,doch so oberflächlich und ungerecht zugleich, über die Yagan, gestützt nur auf das elende und armselige Äußere, in welchem sie sich repräsentieren, ein so geringschätzendes und wegwerfendes Urteil fällen! Man kann nicht anders als sagen, die ,` Neuzeitliche Wissenschaft vom Menschen, die sich sonst soviel auf ihre Exaktheit zugute tut, ist hier auffallend unexakt verfahren.

Eine Ehrenrettung unserer Yagan war vor allem schon eingeleitet worden durch die Forschungsarbeit der Missionare. Wenn h. Bridges ein nicht weniger als zweiunddreißigtausend Wörter umfassendes Vokabularium der Yagansprache zusammenstellen ,konnte, so ist damit gewiß ein gutes Zeugnis von dem relativen Reichtum des Geisteslebens des Völkchens gegeben. Man denke nur daran, daß des großen Shakespeare gesamter Wortschatz fünfzehntausend nicht überstieg. Aber der Geist des Yagan ver­steht nicht nur in die Breite, sondern auch in die Tiefe zu gehen. Zeugnis dafür sind die zahlreichen Mythen und Erzählungen, wie sie festgelegt werden konnten. Und hier frappierten uns ebenso die Aufmerksamkeit als auch die Universalität des yaganschen Volksgeistes. Jede irgendwie auffällige Erscheinung, sei es im Natur-, sei es im Menschenleben, erhält ihre sinnige, in Form einer Mythe oder Erzählung gefaßte Erklärung. Jedoch der Geist des Yagan haftet schließlich nicht nur am Einzelnen. Er ver­steht es auch, die Gesamtheit der Welttatsachen in eines zu­sammenzufassen und sie einer einzigen Allursache, dem höchsten Wesen Watauinewa, zu unterstellen. Denn, wenn die Yagan sich auch zum formellen Schöpfungsbegriff nicht durchzuringen ver­mochten, so gilt Watauinewa doch als der tatsächliche Besitzer und Oberherr der Natur und des Lebens, den Menschen mit­einbegriffen.

Freilich gilt im übrigen: „Der Geist weht und wirkt, wo er will!" An dieses bekannte Wort wurden wir zur Zeit unseres Aufenthaltes bei den Yagan wieder und wieder erinnert. Die Yagan haben Geist und arbeiten damit. Aber dieses Arbeiten kennt nichts oder doch nur wenig von der uns gewohnten Syste­matik und Trainierung. Wie im äußeren Dasein das Herum­nomadisieren ihnen Bedürfnis ist, so vagabundiert gerne auch ihr Geistesleben. Das erschwert ungemein eine gründliche Forschungs­arbeit, die Erforschung gerade des Geistes und seiner Güter. Nur grenzenloses Vertrauen einer- und große Geduld, vereint mit viel Umsicht und Vorsieht, anderseits führen da zum Ziele. Man kann deshalb auch rein gar nichts erzwingen. Damit würde man sich die Türe nicht nur zu ihrem Herzen, sondern auch zu ihrem Geiste von vorneherein vollständig verrammeln. Nicht un­amüsant war es uns, als sie uns einmal von dem Benehmen und Auftreten eines früher bei ihnen gewesenen Forschers berichteten. Der Herr hatte kommandieren wollen, kommandieren wollen be­sonders auch zum. Erzählen von Mythen usw. Das fanden sie heute noch überaus ergötzlich. Und mehr noch, als er dann ge­droht habe, er werde, wenn sie nicht willfahren, von ihnen schreiben, daß sie dergleichen überhaupt nicht hätten. Ob der schreibe und was er schreibe, das sei und bleibe ihnen doch so gleichgültig wie nur irgend etwas! Interessant auf jeden Fall, daß sie selber das Gefühl hatten, es müsse, um bei ihnen zum' Ziele zu kommen, anders angestellt werden.

Wir deuteten schon an, daß die Ungebundenheit des Geisteslebens bei den Yagan in einem unzweifelhaften Zusammenhang ';steht mit ihrer äußeren Daseinsform, mit dem primitiven Jäger-, Fischer- und Sammlerleben, das sie führten und zum guten Teil

auch heute noch führen. Das Nomadisieren liegt ihnen im Blute. res zu beobachten hatten wir viel Gelegenheit. Besonders stark äußerte sich der Wandertrieb, als wir für etwa drei Wochen zwölf bis fünfzehn Familien in Puerto Mejillones im Interesse der geheimen Feste, die wir dort feierten, hatten vereinigt halten müssen. Kaum war der letzte Tag gekommen, da machten sich in aller Herrgottsfrühe auch schon einige Familien auf und davon.. Nachdem sie sich mit Kind und Segel in den kleinen zer­1rechlichen Fahrzeugen verstaut hatten, zogen sie hierhin und 4orthin in die Kanäle hinaus. Bezeichnend ist in dieser Hinsicht auch die Antwort, welche wir oft erhielten auf die Frage: „Was macht ihr denn?" oder: „Was habt ihr vor?" Man erwiderte gewöhnlich: „To walk a little" oder: „Paseando no más!" (Ein bißchen spazierengehen, nichts weiter als spazierengehen bzw. spazierenfahren !) Freilich wird auf diesen „Spaziergängen" immer wieder der Hauptteil der Nahrung (Fische, Pinguine, Krebse, Miesmuscheln, Seehunde usw.) gewonnen.

Es ist klar, daß ein komplizierter Wirtschafts- und Kulturbetrieb naturnotwendig auch zu einem mehr geordneten und systematischen Denken erzieht. Aber daß hier der höheren Zivilisation gegenüber nur graduelle und keine wesentlichen Unter­

schiede vorliegen, darüber lassen die bei den Yagan festgestellten Tatsachen nicht den geringsten Zweifel. Sowohl nach Eigenart 41s auch nach Ziel und Zweck bewegen sich die geistigen Ope­rationen in ganz denselben Rahmen wie sonstwo auf der Welt, wo vernünftige Menschenkinder geistig sich betätigen. Auch der Yagan denkt und denkt und sucht, wie alles übrige menschliche Denken auch, vor altem immer wieder nach einer Antwort auf die Frage: Warum und wozu? Warum trägt dieser Vogel oder jener Fisch eine so auffällige Farbe zur Schau? Die Yagan haben ein erklärendes Märchen dafür bereit. Warum läßt der ;große Watauinewa ihre Lieben, ja so oft schon ihre Kinder dahin­sterben, warum, warum? Dieses „Warum" freilich bringt sie oft da sie eine befriedigende Antwort darauf nicht zu finden vermögen, fast völlig aus dem Gleichgewicht. Aber könnte das Vorhandensein des klaren Kausalbewußtseins besser noch bezeugt werden? Und erweisen sich nicht angesichts solcher Tatsachen Konstruktionen, wie Levy-Bruhls prälogische Mentalität der Primitivsten - wenigstens soweit die Yagan in Betracht kommen - als völlig unhaltbar und überflüssig?

Erweist sich also das Denken der Yagan im Grunde als ein durchaus normal menschliches, so ist auch die Entfaltung des G e m ü t s 1 e b e n s und alles dessen, was zum Gemütsleben gehört, eine überraschend große. Man denke an die Spiele und Feste, an die Gesänge und Tänze, so wie sie an früheren Stellen dieses Werkes zu schildern waren, und man wird uns in diesem Urteil beipflichten. Gewiß, das so einfache und durchsichtige soziale wirtschaftliche Leben, das ihnen eigen ist, erleichterte die Wah­rung und Kultivierung dieser Güter. Mutter Natur stand mit ihren spontanen Gaben so reichlich zur Verfügung, daß die zum Lebensunterhalte nötige Arbeit im allgemeinen nicht übermäßig viel an Zeit und Kraft erforderte. So bleibt denn genügend Zeit übrig, um auch der „geistigen", der „Gemütskultur" Aufmerksam­keit und Pflege zu widmen, * und da sind denn die Yagan mit Leib und Seele dabei.

Wenn man vom Yagan sagt, daß in seinem Wesen und Leben der A f f e k t alles beherrsche, so ist das übertrieben; denn der Yagan kann sich beherrschen und selbst starke Affekte verleugnen, dann nämlich, wenn er Leuten mit höherer Zivilisation und namentlich Weißen gegenübersteht, die sein Vertrauen noch nicht gefunden haben. Ein weiteres Hemmnis des Affekts bildet die Erziehung, die Erziehung vor allem im Tschiechaus. Sie zielt ja besonders darauf ab, die jungen Leute mit der Tugend der Selbstbeherrschung vertraut zu machen. Aber das alles hindert nun nicht bei ihnen, ähnlich wie bei Bindern, von einem Vor­herrschen des Affektes zu sprechen. Es verging wohl kaum ein Tag, an dem wir Proben dafür nicht erlebten. Sie verkörperten sich in allen möglichen „Einfällen", wie sie meist plötzlich, wie über Nacht, sich einzustellen pflegten und unsere schönen Pläne nicht selten mehr oder weniger in Gefahr zu bringen drohten, In derartigen Situationen kamen wir am weitesten, wenn wir sie ,:so behandelten, wie ein erfahrener Pädagoge das mit Kindern +zu tun pflegt: einerseits eine gewisse Festigkeit, anderseits ein kluges Sichanschmiegen und Rechnen mit den gegebenen natürlichen Schwächen.

Fragt man nach dem Temperament des Yaganvolkes, so meine ich, daß es im besonderen als eine fast gleichwertige Mischung von Melancholie und Sanguinismus zu kennzeichnen ist, wozu dann noch ein gutes Stück Phlegma sich hinzugesellt Zur Melancholie erzieht schon die weltentlegene und wilde Region in der sie ihr Dasein fristen. Aber bei den heutigen Resten des Yaganvolkes tritt dazu ohne Frage noch die Wirkung des furchtbaren Schicksals, das ihm in den letzten fünfzig Jahren beschieden war. Wie schwer diese Entwicklung auf der Volksseele lastet, das offenbarte sich uns oft in geradezu erschütternder Formen. Aber auch damit sind die Momente, welche die Melancholie der Yagan bestimmen, noch nicht erschöpft. Es blieb uns nicht verborgen, daß auch das Dunkel der großen Daseins und Lebensfragen, das Rätsel von Tod und Jenseits, das Gemüt der Yagan einem schweren Schatten gleich überlagert. Was ist was wird nach dem Tode? „Das wissen wir ja nicht und darum sind wir ja auch so traurig, wenn einer von uns stirbt!" Natürlich erneuern sie sich oft in dieser namenlos großen Trauer, und die Folge kann keine andere sein, als eine gewisse tiefe seelisch( Schwermut, die freilich nur derjenige richtig zu analysieren ver. mag, dem entsprechende Einblicke in das Geistes- und Seelen leben der Yagan zu tun vergönnt war.

Das ist die eine Seite der Medaille; die andere zeigt uns ein freundlicheres Bild. Kein Zweifel, daß trotz allem auch das Füllhorn kindlich-sanguinischen Frohsinns über die Yagan aus. gegossen erscheint. Und in der Tat, mit dem „Zu Tode betrübt" fand sich das „Himmelhoch jauchzend" nicht selten sehr eng vereint. Das kam besonders dann zum Ausdruck, wenn sie uni ihre Trauergesänge in das Grammophon hineinzusingen hatten Um die zu singen, war Trauerstimmung nötig. Sie meditierten zu dem Zwecke erst einige Minuten lang, und gewöhnlich flossen diesen und jenen dabei bald die hellen Tränen über die Wangen. Aber sehr tief saß in solchen Fällen die Trauer meistens nicht; irgendeine witzige Situation, die lustige Bemerkung eines Teil­nehmenden genügte, um an Stelle der hellen Tränen ein helles Lachen zu erleben.

Sollen wir nun die Yagan in bezug auf ihren Charakter schildern, so ist zunächst allgemein zu sagen, daß sie wirklich gute Menschen sind. Wohl sind wir bei ihnen auf Schwächen gestoßen, aber nie auf Verschlagenheit, Falschheit oder der­gleichen Untugenden mehr. Für Leben und Eigentum hatten wir vielleicht nirgendwo weniger zu fürchten, als inmitten dieser "Menschenfresser" auf Feuerland. Nicht schlecht erinnerte mich mein Kollege des öfteren daran: "Vergessen Sie nicht, daß wir hier unter Kannibalen' sind!" Ordnungsgemäß hatten wir unserem Reisegepäck auch einen Revolver beigegeben. Aber es war charak­teristisch für unsere Lage, daß gewöhnlich keiner von uns beiden wußte, wo er denn gerade steckte. Einmal holten wir ihn aller­dings doch hervor. Das war der Fall, als wir die Reittour zum Stamm der Ona anzutreten hatten. Aber auch da ließen wir die Vorsicht nicht der Eingeborenen, auch nicht der Ona wegen walten, sondern übten sie mit Rücksicht auf die europäischen Landsleute, denen wir voraussichtlich auf diesem Ritt hier und dort begegnen würden.

Vom A 1 t r u i s m u s, zu dem die Yagan erzogen werden, und den besonders die guten treuen Alten am besten üben, war im vorliegenden Werke so oft und eingehend die Rede, daß es hier genügt, daran erinnert zu haben. Nicht wenig aber waren wir darüber erstaunt, diese gegenseitige Rücksichtnahme des öfteren bis zu einem direkten feinen Taktgefühl gesteigert vorzu­finden. Folgender Fall war da besonders interessant. Eines Nach­mittags hatte uns die gute Señora Laurence im Beisein von mehreren älteren Frauen - freilich ganz im guten Glauben - eine falsche Angabe gemacht. Sie versicherte uns, daß früher bei den Yagan auch gekocht worden sei, und zwar sei das in großen Muschelschalen geschehen. Am, Abend desselben Tages noch stellten die anderen Frauen sich abermals bei uns ein und sagten: „Was ihr da heute aufgeschrieben habt, ist nicht richtig. Es wurde früher bei uns gar nicht gekocht, auch nicht in Muschel­schalen." Wir dankten den guten Frauen, . belobten sie dafür, daß sie so treu unserer immer wiederholten Weisung, nur Altes, Ursprüngliches uns mitzuteilen, Folge leisteten, Aber daran knüpften wir doch die Frage: „Warum habt ihr uns das heute mittag denn nicht gleich gesagt?" Darauf erwiderten sie, ob unserer Zumutung förmlich entrüstet: „Aber wie, konnten wir das tun, das hätte doch die Señora kränken müssen! Und sie ist doch eine so gute Frau!"

Daß dort, wo solche Grundsätze herrschend sind und auch befolgt werden, das Gemeinschaftsleben im allgemeinen freund­liche Formen aufweisen muß, ist selbstverständlich. Und interessant ist nun noch, daß auch die Yagan sehr wohl wissen, daß der Mensch zu einem solchen Verhalten für gewöhnlich nicht von selber kommt, sondern daß ihm das anerzogen werden muß. Daher die ebenso systematische als gründliche Schulung, welche man den Kandidaten, der heranwachsenden Generation bei Gelegenheit der Jugendweihe zuteil werden läßt.

Wahrlich, Respekt vor dieser Erziehung, Respekt vor ihren Leistungen! Die Yagan gehören ja insofern zu den Allerprimi­tivsten der Erde, als sie noch über kein Häuptlings- oder dauerndes Staatswesen verfügen. Nur für die Zeit der Feste wird eine Leitung eingesetzt, und dieser wird dann unbedingt gehorcht. Nach ihrer Beendigung aber treten diese Direktoren sofort wieder in Reih und Glied mit den übrigen zurück, und das Ge­meinschaftsleben muß sich regeln und regelt sich tatsächlich auf Grund des Wohlverhaltens, zu dem alle erzogen werden und das von allen erwartet wird. Die Erziehung der Jugend mußte es also notgedrungen absehen auf große Selbständigkeit und tiefes persönliches Pflichtgefühl. Und hier nun kam der Yaganerziehung das religiöse Moment, der Glaube an Watauinewa, wirksam zu Hilfe. „Wenn du diese Vorschriften nicht erfüllst . .. , so wird der da oben dich strafen, strafen vor allem mit einem frühen Tode!" Kein Zweifel, das Geheimnis der Yaganerziehung liegt vor allem auch in der religiösen Sanktion, auf der sie als ihrem letzten Fundamente ruht.

Den Wert einer Erziehungsmethode erkennt man aus den Erfolgen, mit der sie gesegnet ist. Ein tatsächlich allgemein vor­handenes Pflichtgefühl war und ist, in beträchtlichem Ausmaße auch heute noch, das Ergebnis der Yaganerziehung. Den Yagan war es keineswegs entgangen, daß gerade dieses den Vertretern der Zivilisation, so wie sie sie dort auf Feuerland im Laufe der Jahre kennenzulernen Gelegenheit hatten, sehr oft mangelte. Und mehrere Male brachten sie uns ihre diesbezüglichen Beob­achtungen zum Ausdruck mit den Worten: „Ja, wir sind doch eigentlich besser als die Weißen; denn die tun doch nur, was sie sollen, wenn die Polizei dahintersteht; ist diese aber nicht da, dann tun sie, was sie wollen [d. h. treiben oft allerhand Schändlichkeiten] !" Uns kamen dabei die Worte des Dichters in Erinnerung, der schon im vorigen Jahrhundert gesungen: „Seht, wir Wilden sind doch bessere Menschen! Und fällt nun schließlich von hier aus nicht auch ein neues Licht auf das Verhältnis dieser Urbewohner Feuerlands zur Zivilisation? Gewiß, der Abstand war und ist zu groß; sie, die harm­losen und ahnungslosen Kinder der Urzeit, vertrauend dem mora­lischen Bewußtsein und dem guten Recht, sind dem Raffinement und den Macht- und Gewaltprinzipien unserer modernen Kultur am wenigsten gewachsen. Gefühls- und erbarmungslos schreitet die letztere über sie hinweg, Tod und Untergang bilden ihr an­scheinend unvermeidliches, traurig-tragisches Los. Aber liegt nun nicht eine eigentümliche Fügung darin, daß sie nun doch am Abend ihres Daseins noch Gelegenheit finden sollten, der ganzen Welt Zeugnis zu geben von ihrem so lange nicht gekannten und direkt verkannten überraschend hohen geistig-religiösen und mora­lischen Eigenleben?

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ABSCHIED VON UNSEREN FREUNDEN

Am 17. März waren wir von Puerto Mejillones in Punta Remolino wieder eingetroffen. Die wertvollsten und wesentlichsten Schätze des Yaganvolkstums hatten wir glücklich bergen können. Für ein längeres Verbleiben auf Feuerland, für eine eingehendere Erforschung auch der übrigen Feuerlandstämme, der Ona und der Alakaluf, stand uns die nötige Zeit nicht mehr zur Ver­fügung. Zudem war der Sommer so gut wie vorüber, starke Schneefälle kündigten den langen und rauhen Feuerlandwinter schon an. So hieß es denn, an die Heimreise, zunächst an die Rückkehr nach Punta Arenas denken.

Uns der „Ida" oder einem Fahrzeug ähnlicher oder noch geringerer Güte abermals anzuvertrauen, dazu verspürten wir nicht allzu große Lust. Ein kleiner Kutter, der in jenen Tagen die Fahrt von Ushuaia nach Punta Arenas antrat, war übrigens schon vollbesetzt. Zur Not hätten wir selber noch Platz gefunden, aber darauf unsere Sammlungen, die einen beträchtlichen Umfang angenommen hatten, unterzubringen, daran war einfach nicht zu denken.

In dieser Situation erinnerte sich Gusinde der vorzüglichen Empfehlungen, welche ihm u. a. auch das Marineministerium in Santiago mitgegeben, und von denen er seinerzeit schon die Marinebehörden in Punta Arenas hatte wissen lassen. Am Beagle-Kanal war ferner bekannt, daß bald wieder eine sogenannte Escampavia in jene Gegend kommen müsse. Ungefähr alle drei Monate nämlich entsendet die Marinebehörde von Punta Arenas ein Schiff, eine Escampavia, die dann die Runde macht, um die verschiedenen Leuchttürme auf ihr Funktionieren zu untersuchen.

In der Zeit zwischen dem 20. und 25. März ging denn von Ushuaia aus ein Radio an die Marinebehörde in Punta Arenas ab, das ihr die glückliche Erledigung der Forschungsarbeit meldete und um eine Fahrgelegenheit von Punta Remolino nach Punta Arenas ersuchte. Nach gut acht Tagen war die Antwort schon da, und sie brachte uns die angenehme Kunde, daß eine Escampavia bereits auf dem Weg sei und im Verlaufe von etwa weiteren acht Tagen in Punta Remolino anlegen werde. Also aller Wahrscheinlichkeit gemäß wird die erste Aprilwoche die Abschiedsstunde noch bringen.

Die noch übrigen Tage dienten dazu, einerseits um die not­wendigen Reisevorbereitungen zu treffen, anderseits boten sie noch günstige Gelegenheit zu neuer Kontrolle und weiterer Ergänzung unserer Aufzeichnungen. Sehr viel freilich war da nicht mehr zu machen, denn das Wesentliche war ausgeschöpft, und zudem waren die meisten Indianer in Puerto Mejillones zurück­geblieben oder hatten sich bereits wieder auf Wanderschaft be­geben. In Punta Remolino lebten zu der Zeit im ganzen nur vier bis fünf Yaganfamilien.

Von den in Puerto Mejillones Zurückgebliebenen hatten wir uns schon verabschiedet. Doch hatten wir, je näher die Stunde des Abschiedes kam, bemerkt, wie sehr er den einzelnen zu Herzen ging. Sie spitzten besonders die Ohren, als wir ein­mal die Äußerung taten, daß an ein nochmaliges Zurück­kommen unsererseits wohl kaum zu denken sei. Wir milderten bald diese Formel und sagten: „Der Kumbudentschis (Koppers) muß zum fernen Europa zurück, kann also kaum noch einmal wiederkommen, der Šamakušentschis (Gusinde) aber bleibt in Santiago, und er wird, wenn irgendwie möglich, die Gelegenheit nicht versäumen, noch einmal zu seinen Yaganfreunden hinunterzukommen." Das erleichterte sichtlich die Leute, und damit hatten wir eine erträglichere Atmosphäre für die Tage des Ab­schieds geschaffen.

Nach mehrtägigem Harren und Warten traf am 7. April früh morgens die verheißene Escampavia im kleinen Hafen von Punta Remolino ein. Die Abschiedsstunde hatte also schon wirklich geschlagen. Nochmals ein aufrichtiges, von Herzen kommendes "Danke" der ganzen Familie Laurence, dann ein letzter Händedruck auch den anwesenden Mitgliedern des Yaganvolkes. Manchem gelingt es nur schwer, die innere Erregung zu ver­bergen, die ganze Haltung und vor allem das tränenumflorte Auge sprechen eine zu deutliche Sprache.

Wir befinden uns bereits an Bord des Schiffes und schauen unverwandt auf beide uns so liebgewordenen Menschengruppen, die winkend und grüßend am Ufer stehen, zurück. Bewegten Herzens erwidern wir das letzte Winken, bis nach einigen Minuten die Escampavia um die Ecke dreht und die einen die anderen nicht mehr sehen.

Mit voller Kraft dampft die Escampavia ostwärts auf Ushuaia zu. Zum langen Denken und Sinnen war im Moment nicht die Gelegenheit. Einerseits hatten wir uns auf der Escampavia für etliche Tage häuslich einzurichten, anderseits über­schütteten uns die ebenso interessierten wie liebenswürdigen Herren Offiziere mit einer Menge von Fragen.

Unter diesen Umständen hatten wir gar nicht bemerkt, daß wir schon nahe der Stelle gekommen waren, wo an der Süd­seite des Kanals Puerto Mejillones liegt. Aber eine mächtige Rauchsäule, die dort plötzlich zum Himmel aufstieg, brachte uns die letzte und einzige Heimat der Yagan wieder in Erinne­rung. Und diese Rauchwolke verkörperte gleichzeitig einen letzten lieben Gruß von seiten unserer Freunde. Nicht ohne Rührung erinnerten wir uns ihres Versprechens: „Wenn ihr mit dem Schiff vorbeifahrt, dann entzünden wir zum Gruße noch einmal ein Feuer!" So hatten sie es denn nicht vergessen und wohl acht auf das Kommen der Escampavia gegeben, die, wie sie wußten, uns mitnehmen würde.

Der Herr Kapitän, dem wir den Sachverhalt kurz klarlegten, würdigte sofort die Situation. Er gab Befehl zum langen Gegengruß. Dreimal ertönte weithin schallend die Schiffsirene. Wir freuten uns der Freude, die damit den biederen Yagan bereitet werden mußte; gewiß das erstemal in der Geschichte ihres Stammes, daß ein stolz dahinfahrendes Kriegsschiff ihren urweltlich-primitiven Rauch- und Feuergruß erwiderte. Wie wir, so sahen gewiß auch sie darin ein gutes Omen für kommende bessere Tage.

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AUSSICHT AUF EINE SCHÖNERE ZUKUNFT

Daß Stammesgenossen auch Stammespflichten haben, ist selbstverständlich. Die Zukunft und das Schicksal unserer Lands­leute auf Feuerland konnte und durfte uns weiter nicht gleichgültig sein. Das Sehnen der Yagan geht vor allem dahin, ein Plätzchen eingeräumt zu erhalten, das dann wirklich als ihr dauerndes Besitztum gilt und als solches auch respektiert wird. Der Fall ist typisch: Die wenigen noch übrigen alten Herren des Gebietes müssen so lange ringen und betteln, bis die neuen Herren, die Eindringlinge, ihnen zum mindesten eine Stätte ge­währen, wo sie ruhig und ungestört ihren Lebensabend be­schließen können

Als Lieblingsaufenthalt, als eine Art Hauptquartier, zu dem sie immer wieder zurückkehren, gilt den Yagan seit einigen Jahrzehnten der Distrikt von Puerto Mejillones. Sie verdanken das Fleckchen der Menschenfreundlichkeit der Familie Laurence. Da diese aber das Gebiet nur in Pacht hat und der Besitzer sie demnächst nicht zu erneuern gedenkt, so bildete natürlich auch die den Yagan eingeräumte Konzession nur ein Provisorium. Die Schritte, die Gusinde in Santiago (Chile) im Interesse der Sicherung der Yagan früher schon getan hatte, erneuerte er be­sonders im Laufe des Jahres 1922. Dem eifrigen Bemühen ist schließlich der Erfolg nicht versagt, geblieben. Im März des Jahres 1923, wo Gusinde zum vierten Male die Yagan besuchte, konnte er als kostbarstes Angebinde die endgültige Sicherung dieses Gebietes seinen Freunden in den Schoß legen. Gusinde be­richtet hierzu (Brief vom 2. April 1923)

„Mit der Erlaubnis, meine Arbeit am Ethnologischen Museum in Santiago für die zur Erforschung der Feuerländer noch nötige Zeit einzustellen, erhielt ich zugleich von der chilenischen Regie rung den besonderen Auftrag, ein Projekt auszuarbeiten und vorzulegen über die beste und vorteilhafteste Art der A n s i e d 1 u n g unserer Yagan. Es ist damit natürlich nicht gemeint, sie kurzweg seßhaft zu machen, was ja ein Ding der Un­möglichkeit wäre, sondern ihnen vielmehr irgendein passendes Stück Land zur Verfügung zu stellen, auf dem sie in aller Ruhe und Sicherheit ihre Hütten bauen und die wenigen Stück Vieh, welche heute einige von ihnen ihr eigen nennen, ungestört weiden lassen könnten. Sie haben ja schon seit Jahren ihre ur­sprüngliche Lebensweise zum Teil aufgegeben, allerdings nicht das Nomadisieren, wozu sie auch heute noch die schwierige Nahrungsversorgung einfach zwingt, so daß sie vielleicht vier bis fünf Monate, und dies auch mit Unterbrechung, an einem bestimmten Orte sich aufhalten, bisher in der ihnen so lieben Mejillones-Bucht. Hier hat sich jede Familie ein kleines Häuschen gebaut, während sie die übrige Zeit des Jahres die zahllosen Kanäle dieses Archipels mit ihren kleinen Booten oder Kanus durchkreuzen und Jagd auf die wegen ihres Felles in hohem Preise stehenden Fischottern machen, dabei ihre Nahrung suchend. Es ist also mehr eine sogenannte Indianer-Reduktion geplant, und für die Verwirklichung dieses Planes habe ich mich mit größter Bereitwilligkeit verwendet, da ich dieses gutmütige und leider so sehr verkannte Indianervölkchen sehr liebgewonnen habe.

Außerdem hatte ich vom Herrn Erzbischof Crescente Errázuriz die spezielle Weisung erhalten, die nötigen Mittel baldigst in die Wege zu leiten, um zu verhindern, daß dieser Stamm gänzlich ausstirbt, was unter den augenblicklichen Verhältnissen sehr befürchtet werden muß. Der Erledigung dieses wichtigen Auftrages habe ich tatsächlich viel Kraft und Aufmerksamkeit gewidmet, wofür die Indianer sich sehr dankbar erweisen. Ich glaube nun annehmen zu dürfen, daß sie von jetzt an ruhiger und sicherer werden leben können, und es besteht außerdem die Hoffnung und Aussicht, daß ihr gänzliches Verschwinden und Aussterben wenigstens auf viele Jahrzehnte hinausgeschoben ist; ihre augenblickliche Zahl; Erwachsene und Kinder zusammen­gezählt, erreicht ja nicht einmal mehr achtzig'."

' Späteren Mitteilungen zufolge sind im Laufe des Jahres 1923 leider bereits wieder sechs erwachsene Yagan gestorben. Darunter zwei der besten Kenner des Alten, die Medizinmänner Mašemikens und Thomas. So waren wir denn wirklich in der zwölften Stunde zu den Yagan gekommen. Jetzt, wo diese beiden Männer fehlen, hätte eine gründlichere Erforschung schon wieder mit bedeutend größeren Schwierigkeiten zu kämpfen, ja, sie wäre überhaupt in dem Maße nicht mehr möglich, als wie wir sie, von einem guten Stern geleitet, noch durchführen konnten.